Ernten und geerntet werden. Über den Dank als Wesenszug des Christlichen
In vielen Gemeinden wird heute Erntedank gefeiert. Beim Erntedank muss ich spontan an zweierlei denken: an Fülle und an Verlegenheit.
An Fülle, weil ich als Kind vom Land mit Erntedank kunstvoll drapierte Berge von Früchten und Gemüse verbinde. Von Ähren und Blumen, Wein in Trauben und Flaschen, manchmal sogar von Fisch und Wild. Diese Bilder natürlichen, überbordenden Reichtums haben sich mir tief eingeprägt.
Und an Verlegenheit muss ich denken. Denn, wenn ich ehrlich bin, ist mir früher das Danken nicht immer leichtgefallen. – Aber offenbar geht es auch anderen so. Das Gefühl von Ungenügen beim Dank hat es sogar bis in die klassische Kirchenmusik geschafft: Die sogenannte „Deutsche Messe“ von Franz Schubert aus dem Jahr 1826 ist in katholischen Gottesdiensten noch immer sehr beliebt. Beim Gesang zur Bereitung der Gaben von Brot und Wein für das Abendmahl gibt es allerdings eine Stelle, bei der ich immer stocke, da heißt es:
„Du gabst, o Herr, mir Sein und Leben,
und Deiner Lehre himmlisch' Licht.
Was kann dafür ich Staub Dir geben?
Nur danken kann ich, mehr doch nicht.“
Ich stocke nicht so sehr wegen der Sache mit dem Staub, der ich angeblich bin. Dazu kommen wir später nochmal. Nein, ich stocke, weil da einer feststellt, dass er nicht „mehr“ tun kann als danken. Was soll das denn sein: mehr als danken? Und ist danken dann weniger? Weniger als was?
Mir scheint, dass das Unbehagen darüber, nicht mehr tun zu können, als zu danken, ziemlich weit verbreitet ist. Bloßer Dank scheint als Reaktion auf einen Gefallen etwas wenig zu sein. Erwartet der andere vielleicht mehr? Und stehe ich jetzt nicht irgendwie in seiner Schuld? Hat er bei mir jetzt etwas gut?
Bei solchen Gedanken geschieht etwas Unheimliches: Aus einem Geschenk wird ein Geschäft.
Dabei danken wir doch für das, was wir geschenkt bekommen, für das, was „gratis“ ist (also: „aus Wohlwollen“). Für das, was umsonst ist, aber nicht vergeblich – ohne Gegenleistung, aber nicht folgenlos.
Ich habe das erst lernen müssen, mir die Freundlichkeit und Güte von Menschen gefallen zu lassen. Es waren Freunde und Verwandte, die mich das gelehrt haben, geliebte oder bekannte Menschen. Und es war meine vielleicht nur anfängliche Erfahrung von Krankheit und Not, die mich die Dankbarkeit gelehrt haben. Und die Erinnerung in bösen Tagen, wie kostbar das ist, was ich in guten Tagen für selbstverständlich hielt.
Dankbarkeit ist nicht nur eine Frage guten Benehmens. (Ich muss daran denken, wie viele Kinder die mahnende Frage „Was sagt man?“ sekundenschnell mit „Danke!“ beantworten.) Dankbarkeit ist vor allem auch eine bestimmte Perspektive auf die Welt. Sie ist eine Weise, die Dinge und Menschen zu sehen. Wer dankbar ist, für den hat die Welt Geschenkcharakter. Für den dankbaren Menschen werden Dinge zu Gaben, Fähigkeiten zu Begabungen und Umstände zu Gegebenheiten.
In vielen Gemeinden wird heute ein Dankfest gefeiert. Ein Dankfest für die Ernte. „Ernte“ kann vieles sein: Zuerst besteht die Ernte in dem, was andere für uns geerntet haben, damit wir leben können. Dann ist Ernte auch das, was wir selbst gesät und geerntet haben – nicht nur in Feld und Garten, sondern auch in unseren Tätigkeiten und Berufen, in unseren Beziehungen und unserer Weise mit uns selbst und anderen umzugehen. Und schließlich geht es bei der Ernte auch um die Ernte unseres Lebens. Um das, was wir sein werden, wenn wir einmal nicht mehr ernten, sondern geerntet werden, um nach Hause zu kommen.
(Dieser Beitrag wurde am 02.10.2022 im Deutschlandfunk gesendet. Der gesamte Text ist auf www.betdenkzettel.de abrufbar.)
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