Seit einiger Zeit schaue ich in der Münchener U-Bahn nicht mehr aufs Handy. Stattdessen lese ich in einem kleinen Buch, mache mir Notizen oder schaue mich einfach um. Neulich traf sich dabei mein Blick mit dem einer jungen Frau, die das gleiche tat. Es war, als wären wir beiden die einzigen. Alle anderen waren von ihren kleinen Bildschirmen in Anspruch genommen. Sie lächelte und ich lächelte zurück, und für einen Augenblick waren wir eine kleine konspirative „Widerstandsgruppe“ inmitten der Weltvergessenen um uns herum. Wir kannten uns nicht, aber in diesem Punkt verstanden wir einander.
Das Pfingstfest handelt von tödlicher Sprachverwirrung und rettender Verständigung.
An Pfingsten wird die Geschichte der Stadt Babel erzählt, deren Bewohner einen Turm bis zu Gott bauen und wie Gott sein wollen und darüber die gemeinsame Sprache und die Fähigkeit, einander zu verstehen verlieren (Gen 11,1-9).
Und es wird von Jerusalem erzählt, wo am jüdischen Fest des Bundesschlusses 50 Tage nach dem Paschafest und der Auferstehung Jesu eine Kraft wie Feuer von oben kommt. Die ergreift die versammelten zwölf Beauftragten Jesu und lässt sie so von Gottes Taten und Wundern sprechen, dass die Menschen aller dort versammelten Sprachen sie verstehen können.
In einem Pfingsthymnus der Ostkirche wird heute gesungen:
„Als Er herabkam, die Sprachen zu verwirren,
schied der Höchste die Völker;
als Er des Feuers Zungen verteilte,
rief Er alle zur Einheit:
und einstimmig verherrlichen wir
den Allheiligen Geist!“
Ich muss in letzter Zeit oft an die Geschichte vom Verlust der gemeinsamen Sprache in Babel denken. Dass wir einander verstehen, wird selbst innerhalb einer gemeinsamen Sprache immer schwieriger. Auf der einen Seite gibt es eine immer größere sprachliche Sensibilität und das Bemühen um „sprachliche Gerechtigkeit“. Und das ist gut so. Auf der anderen Seite wachsen Misstrauen und Verdacht, weil ein Wort und seine Bedeutung zweierlei und nicht einfach identisch sind. Und weil die Deutung eines Wortes Wohlwollen braucht. „Der Mensch“ kann eine Frau sein. Und „die Person“ ein Mann. Wer heute noch so spricht, wie er gestern sprach, ist für manche bereits ein Menschenverächter.
Kann es sein, dass unser Turmbau zu Babel heute darin besteht, dass wir versuchen, die perfekte und gerechteste, berechenbarste und beherrschbarste aller Gesellschaften zu schaffen, die keines Gottes mehr bedarf? Und kann es sein, dass wir – gleich den Unglücklichen von Babel – dabei sind, die gemeinsame Sprache zu verlieren?
Pfingsten ist nicht ein autoritativer Aufruf zu Verständnis. An Pfingsten geht eine Kraft von Gott aus, die dem einen Verständlichkeit und dem anderen Verstehen schenkt. Eine Kraft, die die einen für das Wort und Wirken Gottes öffnet und die anderen befähigt, ihnen dieses zu offenbaren.
Pfingsten ist da, wo wir den Geist des Verstehens empfangen und ihn bei anderen finden. Dass wir jemanden verstehen, heißt nicht, dass wir mit ihm einverstanden sind. Aber wir erkennen, worum es ihm geht. Auch wenn er noch so Befremdliches für wahr hält, einfordert oder bewahren will. Auch nach Pfingsten ist noch einiges auszuhalten und zu ertragen. (Diese Alltagsmühe nennt man Toleranz.) Die Kraft auch dazu schenkt uns der Heilige Geist.
Denen, die den Geist Gottes empfangen, geht es – bei allen schmerzlichen Unterschieden auf dem Weg – im Letzten um Dasselbe: dass Gott bei den Menschen ankommt und wir Menschen miteinander bei Gott ankommen.
Ich denke an meine konspirativen Gefährten aus der U-Bahn. Wir schauen einander an, lächeln kurz, aber reden nicht. Und ich denke mir: In Dir und in mir wirkt derselbe Geist, dieselbe Kraft, dieselbe Gabe Gottes. Einmal werden wir uns wiedersehen vor Seinem Angesicht – und Gott und einander verstehen, spätestens dann. Das wird ein munteres, ein pfingstliches Zusammentreffen werden…
Fra' Georg Lengerke
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