Die Küche - Von Muttis Werkstatt zum Raum für alle
Elektroherd und Wasserhahn, Kühlketten und Lebensmittelgeschäfte: Im 20. Jahrhundert musste niemand seine Butter mehr selber stampfen, Kleinstküchen setzten sich durch. In ihrer Mitte stand und waltete die Hausfrau - allein. Dabei waren Küchen einst wichtige Orte der Kommunikation. Und sind es heute wieder. Oder? Autorin: Julie Metzdorf
Credits
Autor/in dieser Folge: Julie Metzdorf
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Caroline Ebner, Johannes Hitzelberger, Carsten Fabian
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Dr. Josef Straßer, Design-Experte Die Neue Sammlung – The Design Museum;
Prof. Dr. Tilman Allert
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ATMO Bratpfanne + offener Kamin
Musik 1: Greenhouse – C1319100006 – 45 Sek
ERZÄHLERIN
Kochen macht schlau. Gekochte Speisen haben vor Hundertausenden von Jahren das Gehirnwachstum unserer Vorfahren gefördert und so zur Entwicklung des Homo Sapiens geführt – davon gehen jedenfalls Anthropologen aus. Denn Kochen, Garen, Sieden oder Schmoren ist eine Art Vorverdauung außerhalb des Körpers. Die in der Nahrung enthaltenen Nährstoffe können besser verwertet werden, bzw. der Verdauungsapparat muss weniger Energie investieren. Die kann stattdessen ins Gehirn wandern.
ERZÄHLER
Das Kochen erweiterte außerdem die Nahrungspalette unserer Vorfahren: es eliminiert Gifte und macht manche Pflanzen überhaupt erst genießbar. Vor allem aber dürfte das Kochen das Sozialverhalten der frühen Menschen entscheidend geprägt haben. Der Soziologe Georg Simmel wies schon vor mehr als 100 Jahren darauf hin:
ATMOS Essen + Murmeln + Sektgläser
ZITATOR
A Georg Simmel
(gest. 1918, zit. nach: Der Zeitgeist, Beiblatt zum Berliner Tageblatt von 1910)
Von allem nun, was den Menschen gemeinsam ist, ist das Gemeinsamste: dass sie essen und trinken müssen.
ATMO Feuerstelle + Musik 2: Prelude - C5127010101 – 40 Sek
ERZÄHLERIN
Die Feuerstelle war wohl von Anfang an ein Ort der Gemeinschaft und der Kommunikation. Die ersten nachweisbaren Küchen der Menschheit stammen aus der Zeit um 8000 vor Christus und wurden in der Nähe von Jerichow gefunden: Es waren offene Feuerstellen, einfache Lehmöfen und Mahlsteine in den Innenhöfen strohgedeckter Lehmhütten. Vermutlich wurden sie von den Bewohnern der umliegenden Hütten gemeinschaftlich genutzt. Kochen und Essen, das Zubereiten und die Aufnahme der Nahrung, waren also eng miteinander verknüpft. Design-Experte Josef Strasser:
1 OT Josef Strasser: Anfänge
Ganz ursprünglich war das sehr natürlich nicht getrennt, sie hatten ein Feuer, auf dem Feuer wurde gegart, und dann gab es bald auch schon die ersten Keramiktöpfe, in denen dann auch Flüssigkeiten gekocht worden sind, das war nicht getrennt, das war in Einem.
ERZÄHLER
Im Lauf der Zeit verlagerte sich das Kochen in den Innenraum. Eine Feuerstelle am Boden, später auf einem gemauerten Sockel, wurde Küchenstandard für Jahrhunderte:
2 OT Josef Strasser: Wärme
Die Küche war das Zentrum, das Feuer liefert auch Wärme, und das war das Entscheidende, deswegen war das ein sehr zentraler und wichtiger Raum.
ERZÄHLER
Doch Kochen ist auch gefährlich. Genauer gesagt: offenes Feuer ist gefährlich. Regelmäßig kam es zu Feuersbrünsten, denen ganze Stadtviertel zum Opfer fielen. Selbst ohne Unfälle war die Luft in Räumen mit offenem Feuer schlecht.
3 OT Josef Strasser: Ruß
Viele kennen noch den Begriff der Schwarzkuchl, also der schwarzen Küche, das kommt daher, weil das Feuer in dem Raum Rauch entwickelt hat, und der Rauch hat das Ganze geschwärzt, letztendlich war der Raum verrußt.
ATMO Feuerstelle
ERZÄHLERIN
Die Mahlzeit köchelte in einem Kessel, der an einer Kette über der Flamme hing. Mithilfe eines Kesselhakens konnte die Temperatur geregelt werden: Einen Zahn zulegen hieß, die Temperatur zu erhöhen. Der aufsteigende Rauch zog über Öffnungen im Dach ab, er konservierte das Gebälk, wehrte Ungeziefer ab und konnte immerhin zum Räuchern benutzt werden. Der Jurist und Historiker Justus Möser beschrieb 1767 in den „Osnabrückischen Intelligenzblättern“:
Weiter Atmo Feuerstelle + Baby + Kessel + Kuh
ZITATOR
B Justus Möser
(vom niedersächsischen Landesarchiv frei zur Verfügung online gestellt)
Der Herd ist fast in der Mitte des Hauses und so angelegt, dass die Frau, welche bei demselben sitzt, zu gleicher Zeit alles übersehen kann. Ohne von ihrem Stuhle aufzustehen, übersieht die Wirtin zu gleicher Zeit drei Türen, dankt denen die hereinkommen, heißt solche bei sich niedersetzen, behält ihre Kinder und Gesinde, ihre Pferde und Kühe im Auge, hütet Keller, Boden und Kammer, spinnet immer fort und fort dabei.
ERZÄHLER
Für die einfache Bevölkerung blieb die Feuerstelle jahrhundertelang der Mittelpunkt des Hauses. Privilegierte Stände konnten die Küchenarbeit ans Personal delegieren und räumlich ausgrenzen. In Burgen, Schlössern oder Klöstern befand sich die Küche normalerweise in einem eigenen Wirtschaftsbau oder Küchenflügel, in bürgerlichen Haushalten im hinteren Teil der Wohnung. Die repräsentativen Räume blieben so rauch- und geruchfrei.
ERZÄHLERIN
Zum Heizen der Häuser setzten sich ab dem späten Mittelalter Kachelöfen durch. Sie standen in der Wohnstube und wurden von der Küche aus befeuert, der Raum mit dem Kachelofen selbst blieb rauchfrei. Damit war erstmals ein und derselbe Raum warm und rauchfrei.
4 OT Josef Strasser: Kachelofen
Kachelofen ist mehr im Wohnbereich, die großen Gebäude mussten ja geheizt werden und dann gab es halt den Kochherd, die Küche, die meistens abgetrennt war. Da muss man natürlich schauen in welcher sozialen Ebene befinden wir uns. Das sind natürlich Unterschiede, ob ich ein kleines Haus habe mit einer kleinen Küche oder ob ich ein riesiges Schloss habe mit einer extra ausgestalteten Küche.
ERZÄHLER
Ausgenommen die Ärmsten unter den Armen, basierte der vormoderne Haushalt auf dem Prinzip der Vorratswirtschaft. Die meisten Güter wurden nicht als fertige Produkte gekauft, sondern im Haus selbst produziert: Man buk Brot und schlug Butter, es wurde geschlachtet, geräuchert und gepökelt, Wurst und Marmelade gekocht, man kelterte womöglich eigenen Wein, auch Kerzen wurden gezogen, Flachs zum Spinnen bearbeitet, Seife gekocht. „Betriebsleiterin“ war die Hausmutter. Diese Art des Wirtschaftens änderte sich im 19. Jahrhundert zunehmend mit der beginnenden Industrialisierung.
Musik 3: The heroic weather-conditions of the universe, Part 2: Smoke / Fire - Z8034868 107 – 53 Sek
ERZÄHLERIN
Im Zuge der Industrialisierung entstand die Kleinfamilie: junge Männer und Frauen verließen den ländlichen Hof und die Großfamilie und arbeiteten in der Stadt in einer Fabrik, gelebt wurde in kleinen, meist dunklen Mietwohnungen, erst allein, dann mit Frau und Kindern. Für Brot und Wurst sorgten in den Städten nun Bäcker und Metzger. Auch vieles anderes konnte man nun einfach kaufen. Niemand musste mehr Butter stampfen oder Seife kochen. Die Küchen konnten kleiner werden. Und andersherum: man brauchte kleine Küchen:
5 OT Josef Strasser - Landflucht + Separierung
Natürlich ist es in erster Linie die Wohnungsnot, durch die Landflucht, durch die Überbevölkerung der Städte, und in diesem Zusammenhang entstanden auch die sozialen Wohnungsbauprogramme. Und die große Reform war dann, dass man versucht hat, für möglichst viele Leute preiswerten Wohnraum zu schaffen, und dass dieser Wohnraum natürlich beengt war, liegt auf der Hand und aus dem Grund so hat sich da eine Neuentwicklung ergeben, dass man die Küche separiert hat. Statt eines Raumes, in dem alles integriert war, entstanden nun quasi zwei Zellen, du hast auf der einen Seite den eigentlichen Arbeitsraum, die Kochküche, auf der anderen Seite das Esszimmer.
Musik 4: The king’s tulips – CD715210008– 37 Sek
ERZÄHLER
Voraussetzung für kleinere Küchen, in denen man nicht sofort am Ruß erstickte, war die Eliminierung des offenen Feuers. Der Architekt Francois de Cuvilliés der Ältere. baute in München nicht nur ein schickes Hoftheater, er erfand 1734 auch den Vorläufer unseres modernen Vierplatten-Herds, den sogenannten „Castrolherd“, von französisch „casserole“, Kochtopf. Für die kleine Amalienburg im Nymphenburger Schlosspark in München bedeckte er einen geschlossenen Feuerkasten mit einer durchlöcherten Eisenplatte. Die Brandgefahr verringerte sich erheblich.
ERZÄHLERIN
Benjamin Thompson alias Graf Rumford entwickelte – übrigens ebenfalls in München – die Sache weiter und leitete die Hitze des Feuers durch mehrere Kanäle gezielt an verschiedene Stellen der Herdplatte. Anfangs nur für wenige Wohlhabende erhältlich, verdrängten solche geschlossenen Herde nach und nach das offene Feuer aus den Häusern, die Küchen wurden rußfrei.
ERZÄHLER
Während der Industrialisierung wuchsen in Europa die Städte rasant an, für Arbeiter wurden große Siedlungen gebaut.
6 OT Josef Strasser – klein + Siedlungsbau
Die soziale Frage hat sich ja überall in den Industriestaaten gestellt, England sowieso aber auch in Österreich oder Frankreich aber insbesondere auch in Deutschland und Frankfurt ist so ein großes Paradebeispiel, dass man einfach zehntausende von Wohnungen geschaffen hat.
Musik 5: „Himmelspforte“ – Z8036154104 – 17 Sek
ERZÄHLER
Die Küchen für die Siedlungen in Frankfurt sollte Margarethe Schütte-Lihotzky gestalten, eine junge österreichische Architektin. Das Ergebnis ging in die Geschichte ein: die sogenannte „Frankfurter Küche“ von 1926 wurde zur Mutter aller Einbauküchen.
7 OT Josef Strasser - Taylorismus + Spüle
Man muss aber ein bisschen zurückgehen in der Geschichte, es gab so Bestrebungen bereits im 19. Jahrhundert, ganz wichtig sind da die USA, auch die Frauenbewegungen, dass man sich gedacht hat, wie kann ich das Leben einfacher machen, also rationeller organisieren, … es gab ja diesen Taylorismus, die Rationalisierung in der Industrie und man versucht, das aufs Wohnen, aufs Private zu übertragen, also wie organisiere ich Arbeitsabläufe.
ERZÄHLERIN
Die Frankfurter Küche sollte vor allem preiswert und deswegen möglichst klein sein. Als Vorbild dienten der jungen Architektin die Speisewagenküchen der Eisenbahn, in denen bei einer Spurweite von etwas mehr als 1,40 Meter naturgemäß sehr platzsparend gekocht werden musste. 6,5 Quadratmeter Grundfläche hatte die Frankfurter Küche. Schränke, Herd, Arbeitsflächen und Spüle waren an den Wänden angeordnet, die Mitte blieb frei bzw. dort stand die Hausfrau und konnte mit wenigen Handgriffen rundum agieren. Platz für eine zweite Person im Raum gab es nicht. Es war eine Arbeitsküche. Ein Tisch hätte da nur gestört, gegessen wurde fortan in einem separaten Ess- oder Wohnzimmer.
8 OT Josef Strasser - Abtrennung
Ein großer Vorteil ist die Hygiene, dass ich einen Raum habe, in dem ich Speisen zubereite und in dem Raum keine anderen Dinge mache, Kinder spielen und das zweite sind die Gerüche, die beim Kochen entstehen, auch Geräusche natürlich, dass das getrennt war, dass das weg war vom Wohnbereich.
ERZÄHLER
Doch die Küchen für die Arbeitersiedlungen sollten nicht nur klein sein. Sie sollten der Hausfrau die Küchenarbeit erleichtern und Zeit sparen. Margarethe Schütte-Lihotzky untersuchte daher die Bewegungsabläufe und versuchte sie zu optimieren.
Musik 6: Gimme that shimmy – Z8029371119– 42 Sek
ERZÄHLERIN
Ein höhenverstellbarer Drehstuhl sorgte für die optimale Position je nach Tätigkeit, Fenster ließen sich öffnen, ohne erst irgendwas wegräumen zu müssen, Küchenabfälle konnte mit einer Wischbewegung von der Arbeitsfläche direkt in eine Abfallrinne gewischt werden, war sie voll, konnte man sie wie eine Schublade herausziehen und entleeren.
ERZÄHLER
Oder das Bügelbrett: Es wurde mit einem Griff von der Wand heruntergeklappt und mit der Brettspitze auf den gegenüberliegenden Spülschrank aufgesetzt, es hatte also weder störende Füße, noch musste man es umständlich rein- und raustragen.
9 OT Josef Strasser - Abtropfen
Wie mache ich das beispielsweise beim Spülen, dass ich nicht die Hände übergreifen muss, sondern ich hab die linke Hand, mit der halte ich das Geschirr mit der rechten spüle ich und ich lege es dann auch wider auf der linken Seite ab und nicht auf der rechten Seite. Es ging auch darum, dass man das Geschirr abtropfen ließ, sie hat ein Abtropfgestellt erdacht, um sich das Abtrocknen zu ersparen.
ERZÄHLERIN
Die Frankfurter Küche war ganz im Geist der Frauenbewegung entstanden. Schütte-Lihotzky war eine der ersten Architektinnen überhaupt, Frauen durften in Österreich erst Ende des 19., in Deutschland gar erst Anfang des 20. Jahrhunderts Architektur studieren. Dass sich die junge Vorreiterin nun ausgerechnet auf die Planung einer Küche stürzte, klingt nach einem Klischee, hatte aber Gründe:
10 OT Josef Strasser - Architektinnen
Ein Mann, ein Architekt denkt sich die Küche so und so, da er nicht in der Küche arbeitet, hat er auch nicht diese Arbeitsabläufe intus. Um die Arbeitsabläufe zu verbessern, muss man sich halt einfach mal damit beschäftigen oder sich damit auskennen. Und deswegen liegt es ein bisschen auf der Hand, dass Frauen als Architektinnen da einen anderen Blick haben als Männer.
ATMO Braten
ERZÄHLER
Die Frankfurter Küche war eine Küche von Frauen für Frauen. Doch vor allem aus konservativen Kreisen gab es von Anfang an Kritik. Sonntags dürften die Kinder aus der Nachbarschaft Puppenküche darin spielen, witzelte man angesichts der geringen Ausmaße der Küche. In der Tat war die Umgewöhnung natürlich enorm. Die Frau – die seinerzeit nun mal fast ausschließlich in der Küche stand – wurde hier zum Zentrum einer Art Maschine, die sie erst bedienen lernen musste.
ERZÄHLERIN
Von der Frankfurter Küche selbst wurden nur etwa 12.000 Exemplare gebaut – nicht viel angesichts des rasanten Anstiegs der Bevölkerung in jener Zeit. Und trotzdem: Die Idee Einbauküche setzte sich in Stadtwohnungen durch; die Frankfurter Küche war der Urtyp aller Einbauküchen.
11 OT Josef Strasser - Erfolg
Sie hat eine große Wirkung gehabt, hat das Leben vereinfacht, Arbeit erspart, Zeit erspart und damit natürlich auch die damit verbundenen Kosten.
Musik 7: Urgem X – C1319100008 – 35 Sek
ERZÄHLER
Seit den 50ern wuchs parallel auch die Zahl der elektrischen Geräte in den Küchen: Toaster, Eierkocher, Rührgerät, Brotschneidemaschine, Waffeleisen, Mikrowelle: Die Küche wurde nach und nach zum Maschinenpark. In den 60ern hielt der elektrische Kühlschrank Einzug, dazu Fertigprodukte, Dosen und Brühwürfel. Das Leben der Hausfrau wurde in mancherlei Hinsicht tatsächlich einfacher. Wäre da nicht dieses eine Problem gewesen:
12 OT Josef Strasser - Ironie
Man will das Beste, Rationalisierung, Arbeit sparen, Kräfte sparen, so dass die Frau Zeit gewinnt, für andere Tätigkeiten und was passiert: Isolierung.
ERZÄHLERIN
Die Kleinstküche wurde zunehmend als Hausfrauenknast gesehen, der Frauen eben nicht befreit habe, sondern in ihrem Kochlabor gefangen hielt, an den Rand der Wohnung gedrängt und vom Esszimmer und dem Rest der Familie getrennt. Um Wege zu verkürzen, baute man Durchreichen, ein Bedienfenster, damit das Essen auch ja warm auf den Tisch kam.
ERZÄHLER
Ende der 70er kam Bewegung in die Küchenfrage: Der Designer Otl Aicher, Mitbegründer der Hochschule für Gestaltung in Ulm war eine Art Star-Designer seiner Zeit, unter seiner Federführung wurden die Olympischen Sommerspiele in München in Regenbogenfarben gestaltet. Aicher war nicht nur ein Genussmensch, er kochte auch selbst gern. Als er den Auftrag zur Gestaltung einer neuen Küche bekam, begab er sich erstmal auf Recherchereise.
Musik 8: With Compliments – N1278890Z00– 45 Sek
ERZÄHLERIN
Ein Jahr lang besuche er verschiedene Spitzen-Restaurants in Europa und teilweise in den USA und analysierte die dortigen Küchen. Denn von wem könnte man besser etwas über Küchen lernen als von Profis? Das Ergebnis: Aicher begriff Küchen als Orte der Kommunikation:
ZITATOR:
„Essen macht kommunikativ. Es verhindert, dass man alles in sich hineinfrisst“
ERZÄHLERIN
…schrieb der Designer 1982 in seinem Buch „Die Küche zum Kochen“. Eine Küche, in der sich praktisch nur eine Person aufhalten kann, war für Aicher ein Unding. Für ihn spielte sich das wahre Leben in der Küche ab, und nicht etwa im Wohnzimmer.
ERZÄHLER
Dazu war es notwendig, dass alle alles verstehen können. Mit der gängigen Küchenzeile in einem vom Esstisch abgetrennten Raum war diese Idee nicht vereinbar. Denn mit dem Gesicht zu Wand und den Gästen im Rücken kann man schwerlich am Gespräch teilnehmen, sagt der Soziologe Tilman Allert.
13 OT Tilman Allert - Töpfe
Jemand, der kocht, der wird immer um den Genuss der Kommunikationspointen gebracht, weil er immer am Topf steht und da zischt und raucht es und man kriegt nichts mit.
ERZÄHLERIN
Tilman Allert begreift Küchen als Orte einer „legitimen Trivialkommunikation“. Hier wird nicht unbedingt – manchmal aber durchaus! – über die bedeutenden Dinge der Welt gesprochen. In der Küche darf geschnackt und getratscht werden. Genau das mache sie laut Allert zu so einem einzigartigen Ort menschlicher Geselligkeit. Das und: das gemeinsame Essen.
ERZÄHLER
Das sah schon Otl Aicher so: Kochen und Essen sollten seiner Meinung nach wieder zueinander finden, im gleichen Raum. Es gibt nichts zu verstecken: Der Prozess des Entstehens der Mahlzeit soll erkennbar sein. Nicht zuletzt regt es ja auch den Appetit an, wenn man das Essen erst ein Weilchen anschaut und noch nicht gleich zulangen darf.
15 OT Tilman Allert - Respekt
Es ging ihm um einen Respekt vor dem, was in der Küche geschieht. Das Rohe oder das Ungegarte bringen wir in die Küche, kochen es und über diesem Vorgang wird aus der rohen Natur man könnte sagen genießbare Natur. Und das ist bei Aicher verbunden mit einer Respekteinstellung gegenüber den Gaben der Natur, die für ihn als Katholiken immer Gottesgaben waren.
ERZÄHLERIN
Aicher holt das uralte Konzept der offenen Küche wieder aus der Schublade. Er entwickelt einen zentralen Küchenblock, eine Kochinsel, mitten im Raum. Außerdem gestaltet er Küchen-Utensilien, die sich an der Profi-Gastronomie orientieren. Wer täglich kocht, braucht professionelles Werkzeug, da machen Billigangebote keine Freude.
ERZÄHLER
Ebenfalls von den Berufsköchen abgeschaut: alle Dinge müssen gut erreichbar sein. Erreichbarkeit geht einher mit Sichtbarkeit. Statt Schränke und Schubladen favorisierte Aicher einfache Haken in S-Form, an die man die wichtigsten Küchengeräte einfach dranhängen und mit einer Hand abnehmen konnte.
16 OT Tilman Allert - Küchenblock
Dieser Küchenblock und überhaupt die Küchenausstattung, die heute es ermöglicht, dass man in der Küche Geselligkeit praktiziert, die bringt das, was Aicher in den 70er Jahren schon ausgedacht hatte, noch mal deutlicher auf den Punkt, nämlich die Küche als einen geselligen Ort zu begreifen, an dem man irgendwie kocht, etwas entstehen lässt, aber an dem die Kommunikation untereinander zentral ist, also der Aicher ist auf eine Weise modern, wie er sich das selbst damals wohl gar nicht hat vorstellen können.
Musik 9: elephant parade – Z8003567126- 27 Sek
+ ATMOS Murmeln, Braten, Sekt
ERZÄHLERIN
Ist ja auch eine schöne Vorstellung: der Küchenchef, die Küchenchefin des Abends steht in der Mitte des Raums und kocht, gegenüber stehen die Gäste oder haben auf Barhockern Platz genommen, trinken einen Aperitif oder helfen beim Gemüseschnippeln. Später wechselt man an den großen Tisch gleich nebenan.
ERZÄHLER
Aber mal ehrlich: Wer kann sich das schon leisten? In Neubauten mit viel Grundfläche kann man so bauen, in einer Altbau-Mietwohnung ist das nicht umsetzbar.
17 OT Tilman Allert - Milieu
Das ist natürlich milieuspezifisch, das muss man sich erlauben können. Aber man muss hinzunehmen, dass in den einfachsten Wohnverhältnissen bis auf den heutigen Tag das berühmte Wohnzimmer, das es ja immer noch gibt, eigentlich vollkommen ungenutzt bleibt und alles Gesellige spielt sich in der Küche ab. Unabhängig vom Geldbeutel könnte man sagen ist die Küche der Ort, an dem man sich versammelt und an dem man Gedanken austauscht.
ERZÄHLERIN
Heute ist die offene oder auch „Wohnküche“ das Ding der Stunde – und eine Art Kompromiss: Arbeitsfläche, Spüle und Geräte sind oft immer noch in einer Zeile an der Wand angeordnet, aber der Kochende befindet sich zumindest im gleichen Raum mit den Gästen oder restlichen Familienmitgliedern. Das ist zwar nicht ganz so toll wie vis-á-vis mit den Gästen am zentralen Küchenblock zu hantieren, aber immerhin besser als in einem anderen Raum zu stehen und nur ab und zu mal einen Wortfetzen durch die Durchreiche zu erhaschen.
ATMOS Essen + Braten + Murmeln
ERZÄHLER
Zu ihrer Zeit gab es gute Gründe für die Entwicklung von Einbauküchen für nur eine Person. Im Verlauf der Küchengeschichte ist ihre Existenz aber doch nur ein Wimpernschlag. Kochen, Essen und Reden gehören heute wieder zusammen.
Wer kann, plant deshalb einen Tisch ein, im selben Raum, in dem auch gekocht wird. Selbst wer in einer Mietwohnung mit schlauchförmiger Küche wohnt, versucht wenigstens noch einen kleinen Klapptisch in die Küche zu bauen.
Dazu Musik 10: elephant parade – Z8003567126 – 35 Sek
ERZÄHLERIN
Noch besser ist ein großer Tisch. An dem wird nicht nur gegessen. Reden, Schreiben, Spielen, Basteln, wunderbar die große Zeitung ausbreiten, hier werden Hausaufgaben gemacht und Flickarbeiten ausgeführt, hier wird die Nähmaschine aufgebaut, eine Blumenvase hat darauf Platz oder eine Schüssel für Obst oder Briefe. Es ist ein Platz nicht nur fürs Essen – sondern fürs Leben.
Musik hoch und aus //
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