Schmerz ist eine lebenswichtige und zentrale Sinneswahrnehmung. Neben Nervenzellen sind auch Gehirn und Psyche daran beteiligt. Schmerz ist ein Symptom, kann aber auch selbst zur Krankheit werden. (BR 2021) Autorin: Daniela Remus
Credits
Autorin dieser Folge: Daniela Remus
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Katja Amberger, Peter Veit
Technik: Christiane Schmidbauer-Huber
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Johannes Horleman (Dr.; Schmerzmediziner, Kevelaar);
Dominik Irnich (Professor; Schmerzmediziner, Ludwig-Maximilians-Universität, München);
Regine Klinger (Dr.; PD; Psychologin; Universitätskrankenhaus Eppendorf, Hamburg)
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Musik (Stimmen einer Violine o.ä. unangenehm)
Atmo (Zahnarzt-Bohrer)
Atmo (Stimmengemisch Au, das tut aber richtig weh etc.)
Sprecherin
Dumpf und schwer, pochend, quälend, brennend oder stechend: Schmerz vermittelt sich auf viele, sehr unterschiedliche Weisen.
MUSIK: C1443990016 Light reflex 0‘40
Sprecherin
Schmerz ist ein Phänomen, das die Menschen seit mindestens zweitausend Jahren zu verstehen versuchen. Heute definieren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Schmerz als elementare Sinneswahrnehmung, ohne die menschliches Leben kaum möglich ist, erklärt der Schmerzmediziner Prof. Dominik Irnich. Er leitet die Schmerzambulanz an der Ludwig-Maximilians-Universität in München:
TAKE 1 (O-Ton Irnich) L: 0, 30
Das ist eine der ganz wichtigen Sinnesfunktion und wahrscheinlich kann man aus anthropologischer Sicht sagen, dass die Differenzierung des Schmerzes und die genaue Lokalisierung des Schmerzes - wo ist der Angreifer, an meinem Körper, wer will die Unversehrtheit meines Organismus angreifen? -, dass diese ganz differenzierte Wahrnehmung möglicherweise ein Evolutionsvorteil ist, der auch dazu beigetragen hat, dass wir uns als Menschen auch ganz speziell schützen können. Also das hat zunächst mal eine Schutz- und Warnfunktion.
Sprecherin
Und die ist existentiell weitaus bedeutsamer als es den meisten Menschen bewusst ist: Schmerz ist überlebenswichtig, sagt der Schmerzmediziner Dr. Johannes Horlemann. Er leitet das Schmerzzentrum in Kevelaer:
TAKE 2 (O-Ton Horlemann) L. 0, 30
Es gibt Menschen die durch einen genetischen Defekt schmerzfrei geboren werden, das ist ein furchtbarer Zustand, der dazu führt, dass diese Menschen niemals alt werden können, weil sie keine Lernfunktion haben, durch die Entstehung von Schmerzen z.B., dass man hinfällt, dass man besser die Schritte setzen muss, wenn man laufen lernt usw.
Geräusch Bohrer: 0‘15
MUSIK: Z8024281112 Only the brave 0‘55
Sprecherin
Schmerz ist zuallererst eine körperlich-biologische Reaktion auf eine Gewebeschädigung. Die Schmerzsensoren melden, dass etwas nicht stimmt. Deshalb gilt akuter Schmerz als Alarmsignal des Körpers. Aber Schmerz ist gleichzeitig auch immer mehr als die sensorische Meldung und Weiterleitung eines Schadens, einer Verletzung oder einer Funktionsstörung. Mindestens genauso wichtig für das menschliche Schmerzerleben sind psychische, emotionale und soziale Faktoren. Ob jemand in Trance durchs Feuer laufen kann oder bei einem kleinen Mückenstich in Tränen ausbricht, liegt nicht immer an der Intensität des physiologisch messbaren Schmerzreizes, sondern an einem Bündel von Faktoren. Deshalb bezeichnen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Schmerz heutzutage als bio-psycho-soziales Empfinden.
Geräusch: schrillende Alarmanlage 0‘12
Sprecherin
Blicken wir zunächst auf die Biologie des Schmerzes, auf seine physiologische Grundlage: Voraussetzung dafür ist die neuronale Sinneswahrnehmung einer Gewebeschädigung. Sie findet in den Schmerzrezeptoren statt, erklärt Schmerzmediziner Johannes Horlemann.
TAKE 3 (O-Ton Horlemann) L: 0, 20
Das sind sogenannte Nervenspindeln, die aufgedreht werden, und die entweder durch chemische oder thermische Reize oder aber durch Schnitt z.B. aktiviert werden. D.h. wenn die konfrontiert werden mit einem Außenreiz, der unangenehm ist, dann senden sie Signale in das Hinterhorn des Rückenmarks.
Musik: Z8030896110 Testing procedure 0‘47
Sprecherin
Diese Nervenspindeln heißen in der Wissenschaft Nozizeptoren. Sie sitzen am Ende der Nerven, die sich vom Rückenmark aus in die Peripherie des Körpers erstrecken. Diese Schmerzsensoren sind also überall dort, wo wir Schmerzen wahrnehmen: An Hand und Fingern sind besonders viele vorhanden, weniger davon auf dem Fußrücken und gar keine Schmerzrezeptoren haben Menschen in einzelnen Organen wie dem Gehirn, der Lunge oder der Leber. Werden die Nozizeptoren geschädigt, beispielsweise durch Schnitt, Druck, Hitze oder Kälte, dann erzeugen sie elektrische Signale, die das Schmerz-empfinden weiterleiten und zwar über das Rückenmark ins Gehirn.
TAKE 4 (O-Ton Horlemann) L: 0, 20
Von dort geht die Nachricht weiter (…) in den Thalamus-Kern. Der Thalamus-Kern ist quasi auf Hirnbasis das Organ, das wie ein Vorfilter wirkt und der die meisten Schmerzen, die gesendet werden zum Gehirn, abfiltert.
Musik: Z8030731117 Onslaught 0‘31
Sprecherin
Alle Sinneswahrnehmungen des Körpers, einzige Ausnahme ist das Riechen, landen im Gehirn und dort zunächst im Thalamus. Das ist ein kleiner, nur wenige Zentimeter großer Teil des Zwischenhirns. Der Thalamus filtert die eingehenden Sinnesinformationen, bevor er sie an die Großhirnrinde weiterleitet. Sehr vereinfacht formuliert kann man sich das so vorstellen: Er sortiert die eingehenden Sinneswahrnehmungen und gleicht sie mit bereits gemachten Erfahrungen ab. Der Thalamus kann Schmerzreize verstärken oder auch hemmen. Zur Verfügung stehen dafür verschiedene körpereigene Botenstoffe wie beispielsweise Endorphine.
TAKE 5 (O-Ton Klinger) L. 0, 20
Jedes Schmerzerleben ist eben etwas, was eben auch zentral verarbeitet ist. Deswegen kann man sagen, jeder akute Schmerz ist auch ein psychischer Schmerz, weil er einmal durch das Gehirn gewandert ist und dort auch bewertet und bearbeitet wurde.
Sprecherin
Deshalb wird der Thalamus auch das Tor zum Bewusstsein genannt, sagt die Psychologin Dr. Regine Klinger. Denn das ist das Besondere bei Schmerzen: Sie sind kein ausschließlich körperlicher Vorgang, wie andere lebenswichtige Prozesse im Organismus. Im Gehirn wird aus der physiologischen Schmerz¬wahr¬nehmung, aus der Nozizeption, das Schmerzerleben. Die psychologische Leiterin der Schmerzambulanz am Universitätsklinikum Eppendorf in Hamburg erklärt das an einem Beispiel:
Take 6 (O-Ton Klinger) L: 0, 30
Wenn man sich jetzt z.B. an einer Herdplatte verbrennt, dann wird man sofort die Hand zurückziehen, das tut man schon aufgrund des ersten Schmerzerlebens, ein heller, stechender Schmerz, der nicht durch die zentrale Verarbeitung gelaufen ist, sondern der direkt als reflexartiger Schmerz abläuft und der dazu führt, dass die Muskeln aktiviert werden, um sofort den Organismus zu schützen.
Sprecherin
Die Hand wird zurückgezogen, schnell unter kaltes Wasser gehalten, gekühlt oder was auch immer, um der Situation zu entkommen und damit den akuten Schmerz zu lindern.
TAKE 7 (O-Ton Klinger) L: 0, 20
Bruchteile von Sekunden danach setzt der 2. Schmerz ein, das ist dann ein dumpfer drückender Schmerz, der eben einmal durch das Gehirn gewandert ist und der jetzt eben eine Schmerzbewertung in Gang setzt.
Musik: C1568800106 Glistening stars 0‘17
Sprecherin
Ein ganzes Netzwerk von Gehirnregionen ist nach gegenwärtigem Kenntnisstand für diese komplexe Schmerzbewertung zuständig, sagt Schmerzmediziner Dominik Irnich aus München:
Take 8 (O-Ton Irnich) L: 0, 20
Es geht darum, dass dieser rein körperliche Schmerzreiz zentral im Gehirn moduliert, verändert wird. Er bekommt eine Bedeutung, er bekommt eine Bewertung, (…) er wird in diesen Zusammenhang gesetzt und moduliert. Und am Schluss, das, was wir empfinden, ist das Ergebnis dieser Verarbeitungen im Gehirn.
Sprecherin
Die Konsequenz kann sein: Den Notarzt zu rufen, die Stelle zu kühlen oder auch, den kleinen Schmerz zu ignorieren. Entscheidend für diese Schmerzbewertung, die das Verhalten prägt, ist die zentrale Schmerzverarbeitung im Gehirn, die von den unterschiedlichsten Faktoren beeinflusst wird: Von äußeren Aspekten wie kulturellen Normen oder familiären Angewohnheiten ebenso, wie von der inneren Verfassung des jeweiligen Individuums, betont Regine Klinger:
TAKE 9 (O-Ton Klinger) L: 0, 25
Also z.B. auch von der Stimmung, die ich habe, von emotionalen Faktoren wie Depressivität, von Traurigkeit oder dergleichen. Und kann eben dann, je nachdem, verstärkt oder abgeschwächt werden. Akutes Schmerzerleben wird immer auch von dem Kontext, in dem ich mich bewege, abhängig erlebt.
Sprecherin
Das kennt jede und jeder: Je nach Stimmung erhalten Verletzungen oder kleinere Unfälle eine andere Bedeutung. Wer frisch verliebt ist, spürt einen umgeknickten Fuß längst nicht so intensiv, wie eine Person, bei der an diesem Tag schon vorher richtig viel schief gelaufen ist und bei der die Laune ohnehin schon schlecht ist:
TAKE 10 (O-Ton Klinger) L: 0, 30
Man kann sich das so vorstellen, dass das Gehirn sozusagen schon ein gewisses Vorzeichen hat, nämlich ein Vorzeichen dieser negativen Allgemeinverfassung hat, so und jetzt kommt auch noch dieser Schmerz aus der Peripherie des Körpers, der in den gleichen Gehirnzentren verarbeitet wird, weil er dort ankommt. Und man kann sich das so vorstellen, dass die allgemeine Stimmung, in der ich da bin, dann erstmal auf dieses Signal, was da neu ins Gehirn kommt, abfärbt.
Sprecherin
Und deshalb negativ erlebt wird. Aber es gibt auch den umgekehrten Mechanismus: Schmerzreize können vom Gehirn aktiv unterdrückt werden, beispielsweise durch Ablenkung.
TAKE 11 (O-Ton Klinger) L: 0, 20
Das würde dann tatsächlich diesen Mechanismus in Gang setzen, der dann auf absteigenden neuronalen Bahnen das Schmerzerleben so unterdrückt, dass die nachfolgenden Reize aus der Peripherie eben gar nicht mehr durchkommen und deswegen eben das Schmerzerleben deutlich geringer wird.
Musik: C1576660120 Criminal synapsis red 0‘27
Sprecherin
So gibt es immer wieder aufsehenerregende Beispiele von Menschen, die sich selbst mit abgetrennten Fingern noch ins Krankenhaus gefahren haben oder mit gebrochenem Bein noch kilometerweit gelaufen sind. Dass der Körper Schmerzen in einer Krisensituation effektiv unter¬drücken kann, ist bei Soldaten während des Zweiten Weltkriegs beobachtet und berichtet worden, so Regine Klinger:
TAKE 12 (O-Ton Klinger) L: 0, 20
Die z.B. ein Bein abgeschossen bekommen haben, da lagen, blutender Weise, gefragt wurden, ob sie Schmerzen haben und sie die Schmerzen gar nicht erlebt haben. Und gesagt haben, neee, Schmerzen seien nicht da. Und das konnte 1-2 Tage anhalten, bis der Schmerz da war.
Sprecherin
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erklären sich dieses Phänomen damit, dass das Gehirn die unterschiedlichen Emotionen gewichtet und deshalb die Schmerzen aktiv mit Stresshormonen unterdrückt, um zu überleben.
MUSIK: Z8030896115 Spreading virus 0‘28
Denn in einer solchen Situation, nämlich schwer verletzt auf dem Schlachtfeld zu liegen, ist die Überlegung, wie komme ich hier weg, wie komme ich in Sicherheit? wichtiger für das Überleben, als die Warnfunktion des Körpers durch den Schmerz.
MUSIK: Z8030896115 Spreading virus 0’28 hoch
Sprecherin
Neben der inneren Verfassung eines Individuums prägen aber auch verschiedene äußere Einflüsse die Schmerzbewertung, betont Johannes Horlemann:
TAKE 13 (O-Ton Horlemann) L: 0, 25
Eindeutig gibt es kulturelle Aspekte, es gibt auch Lernaspekte beim Schmerz, man würde unterscheiden, ist es wirklich die Schmerzempfindung, die ich physiologisch messen kann, oder ist es das, was wir daraus machen? Wenn ich das so sagen darf, der Schmerz als Nachricht im sozialen Kontext.
Sprecherin
In manchen Kulturkreisen gehört es beispielsweise dazu, bei Trauer laut zu schreien und zu klagen. In anderen Kulturkreisen dagegen gilt emotionale Kontrolle auch in Ausnahmesituationen als erstrebenswert. Bei manchen indigenen Völkern stärken schmerzhafte Initiationsrituale den sozialen Zusammenhalt, bei den meisten Menschen in Westeuropa dagegen gilt die Abwesenheit von Schmerz als Idealzustand.
MUSIK: Z8030896128 New discovery (reduced) 0‘28
Sprecherin
Und auch der Umgang mit Schmerzen in der Familie prägt das spätere Schmerzverhalten: Wer als Kind bei jedem Ratscher, jedem aufgeschürften Knie mit viel Aufmerksamkeit rechnen kann, der wird in den meisten Fällen auch als Erwachsener seinen Schmerz so äußern, dass er nicht zu ignorieren ist. Andere dagegen haben gelernt, Schmerzen auszuhalten, sagt Schmerzmediziner Johannes Horlemann:
TAKE 14 (O-Ton Horlemann) L: 0, 20
Auffällig ist, dass viele Patienten sehr starke Schmerzen sehr gut aushalten können, während bei der gleichen läsionellen Ursache andere Patienten stark sich beschweren. Denken Sie an indische Fakire, die durch Feuer laufen können, die haben das vorher trainiert. Also es gibt einen Trainingsaspekt daran, ganz bestimmt.
Sprecherin
Dass es einen Trainingsaspekt gibt, der es Menschen ermöglicht, Schmerzen in bestimmten Situationen besser auszuhalten, bedeutet aber nicht, dass Schmerzen immer und um jeden Preis durchgestanden werden sollten. Das Zähne zusammen beissen und durch, was der Volksmund empfiehlt, um unangenehme Situationen und auch Schmerzen bewältigen zu können, dieser Ansatz, der im 20. Jahrhundert auch von Medizinerinnen und Medizinern vertreten wurde, hat sich als fatale Sackgasse im Umgang mit Schmerzen erwiesen, erklärt Dominik Irnich:
TAKE 15 (O-Ton Irnich) L: 0, 30
Der akute Schmerz ist ein Risikofaktor für die Chronifizierung und zwar bezüglich der Art und und der Intensität, also der Stärke der Schmerzwahrnehmung. Das heißt, wenn ich einen Notfall habe, ich komme ins Krankenhaus in die Notaufnahme, oder ich hab eine OP und es tut weh hinterher, ist es die allerwichtigste Aufgabe, den Schmerz zu lindern, und zwar so gut wie es geht!
Sprecherin
Denn heute wissen Medizinerinnen und Mediziner, dass der Organismus in der Lage ist, ein Schmerzgedächtnis auszubilden. Und dass das dazu beiträgt, chronische Schmerzen zu entwickeln, so Psychologin Regine Klinger aus Hamburg:
TAKE 16 (O-Ton Klinger) L: 0, 35
Das Gehirn ist ja in der Lage zu lernen, und dieses Lernen passiert eben, indem bestimmte neuronale Informationen abgespeichert werden. Man kann sich das Gehirn wie eine Festplatte vorstellen, auf die Informationen geschrieben werden und wenn immer wieder im Gehirn neue Schmerzinformationen ankommen, (…) dann wird diese Spur, diese neuronalen Spuren, die da geschrieben werden, immer größer, immer intensiver.
Sprecherin
Und das bedeutet für die betreffende Person, dass dieser Schmerz im Gehirn abgespeichert und erlebt wird, allerdings unabhängig von der eigentlichen Schmerz-Ursache. Also ohne äußeren Auslöser und damit auch ohne biologische Warnfunktion. Johannes Horlemann:
TAKE 17 (O-Ton Horlemann) L: 0, 35
Das können Sie sehr gut erkennen am Beispiel des Phantomschmerzes, dass ein Mensch Schmerzen haben kann in einem Fuß, den er gar nicht mehr besitzt. Das macht deutlich, dass Schmerzen, die aus der Peripherie Nachrichten in das Gehirn senden, eine Eigenständigkeit entwickeln können. Und zwar sagen wir, in einem Zeitraum von 3-6 Monaten, so dass in dieser Zeit im Gehirn Schmerzzentren so alarmiert werden, dass die periphere Schmerzschwelle sinkt und dass die Schmerzen chronifiziert entscheidende Veränderungen im Gehirn machen.
Musik: Z8035459113 Artificial developments 0‘32
Sprecherin
In Deutschland leben nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin knapp 4 Millionen Menschen mit schwersten chronischen Schmerzen. Rund fünf Prozent der Bevölkerung sind von solchen dauerhaften Schmerzen massiv eingeschränkt. Sie müssen Medikamente nehmen, lassen sich operieren, und verlieren durch die Schmerzen nach und nach ihr früheres Leben, einschließlich Arbeit, Hobbies, Kino- oder Theaterbesuchen.
TAKE 18 (O-Ton Horlemann) L: 0, 25
Das sind die schwerstgradig Chronifizierten, leichte oder mittelgradig, da sind wir bei über 20 Millionen. Stellen Sie sich vor, einige Millionen Menschen allein mit Migräne in Deutschland, das ist eine chronische Schmerzerkrankung, Rückenschmerz ist der häufigste Berentungsgrund in Deutschland…
Sprecherin
Rückenschmerzen, Kopfschmerzen und Nervenschmerzen, das sind die häufigsten chronischen Schmerzen in Deutschland. Sie stellen nicht nur für die Betroffenen ein ernstzunehmendes Problem dar, sondern auch für deren Angehörige und auch für die Sozialkassen. Mittlerweile sind rund ein Viertel der Deutschen davon betroffen,Tendenz steigend.
MUSIK: Z8028915109 Coming closer
Chronische Schmerzen sind weltweit verbreitet, nicht nur eine Erkrankung in den wohlhabenden Industrieländern. Allerdings überwiegen in den Industrieländern psychosomatisch bedingte Schmerzen, während die dauerhaften Schmerzen in den ärmeren Ländern vielfach durch unzureichende medizinische Versorgung zu erklären sind.
MUSIK: Z8028915109 Coming closer hoch 0‘36
Sprecherin
Eine klassische Chronifizierung von Rückenschmerzen läuft, körperlich betrachtet, folgendermaßen ab, erklärt Schmerzmediziner Johannes Horlemann:
TAKE 19 (O-Ton Horlemann) L: 0, 30
Es ist ja offensichtlich so, wenn ich Schmerzen habe, nehmen wir den Rücken, dann versuche ich ihn zu vermeiden, indem ich inaktiver werde. Inaktivität führt zu Muskelabbau, der Muskelabbau führt zu pathologischen Bewegungsmustern, die pathologischen Bewegungsmuster machen wieder Schmerz, den ich wieder vermeide usw. und dadurch bin ich dann ganz am Ende ein Mensch, und das ist typisch für den chronischen Schmerz, der wesentliche Haltemuskeln verloren hat.
Sprecherin
Aber für die Chronifizierung der Schmerzen sind eben nicht nur die körperlichen Vermeidungshaltungen und die daraus entstehenden Abbauprozesse verantwortlich. Sondern mindestens genauso entscheidend ist die dahinterliegende psycho-soziale Ebene, die das Schmerzgedächtnis prägt und beeinflusst.
TAKE 20 (O-Ton Irnich) L: 0, 10
Was nützt es, Schmerzen zu lernen, dass sie sich automatisieren? Dass die Nervenbahnen nicht mehr kleine Straßen sind, sondern zu Autobahnen werden?
Sprecherin
Schmerzmediziner Dominik Irnich ist davon überzeugt, dass es nicht zufällig ist, wann und unter welchen Umständen Menschen chronische Schmerzen entwickeln. Für ihn ist dieses Phänomen weit mehr als eine Fehlfunktion bei der Verarbeitung akuter Schmerzen.
TAKE 21 (O-Ton Irnich) L: 0, 30
Unsere Untersuchungen zeigen, dass dieser Lernprozess eben durch die zusätzlichen psychologischen und sozialen Faktoren eine andere Bedeutung bekommt. (…) Der Sinn und die Funktion ändert sich, (…) in den meisten Fällen im Unterbewusstsein. Und deswegen ist es so schwierig, wenn man mit chronischen Schmerzen umgeht, weil man müsste sich eigentlich fragen, was könnte den eigentlich die Funktion des Schmerzes sein? Außer, dass er am Anfang einen Schutz und eine Warnung darstellt.
Musik: C1601500133 Contagious 2 0‘31
Sprecherin
Die heutige Schmerzmedizin versteht chronische Schmerzen deshalb auch als Ausdruck von Belastungssituationen oder von ungelösten Konflikten. Dafür spricht vor allen Dingen, dass dem Schmerzerlebnis häufig keine körperliche Entsprechung zugeordnet werden kann, aber auch umgekehrt: Nicht jede und jeder mit körperlichen Abnutzungserscheinungen wie beispielsweise einer Arthrose im Knie oder einem leichten Bandscheibenvorfall hat dauerhafte und quälende Beschwerden.
TAKE 22 (O-Ton Irnich) L: 0, 15
Wir wissen, aus ganz vielen Untersuchungen, dass der Befund z.B. im Kernspin der Wirbelsäule, nicht korreliert, d.h. kein direkter Zusammenhang besteht zwischen dem Ausmaß der Schädigung an der Wirbelsäule und dem tatsächlichen Erleben.
Sprecherin
Mit Millionen von orthopädischen Operationen liegt Deutschland nach Angaben der OECD weltweit an der Spitze. Aber die Anzahl derer, die unter chronischen Schmerzen leiden, wird damit nicht geringer. Das ist wenig verwunderlich, denn nach allem, was bisher bekannt ist, sind chronische Schmerzen in der Regel eben multifaktoriell zu erklären, das heißt, sie gehen selten nur auf eine Ursache zurück.
TAKE 23 (O-Ton Irnich) L: 0, 20
Deswegen muss man heute einfach komplett umdenken, weil wir wissenschaftlich mittlerweile wissen, Schmerz ist ein persönliches Unterfangen, ich muss schlimme Dinge ausschließen: Tumoren, Fraktur Entzündungen, aber das geht ganz einfach. Aber den Schmerz zu suchen mit der Bildgebung macht keinen Sinn.
Sprecherin
Schmerzen gehören zum Leben dazu. Bei der Geburt, beim Heranwachsen, bei Krankheiten und häufig auch beim Sterben. Deshalb suchen die Menschen seit Tausenden von Jahren nach Erklärungen dafür. Aristoteles verortete das Schmerzempfinden im menschlichen Herzen. Hippokrates dagegen vermutete, dass Schmerzen durch ein Ungleichgewicht in den Körpersäften entstehen. Und für die katholische Kirche waren Schmerzen durch die Vertreibung aus dem Paradies zu erklären.
MUSIK: C1576660111 Working brain red. 0‘45
Die Erkenntnis, dass Schmerz ein hochgradig komplexes Phänomen ist, das abhängig von emotionalen, psychischen und auch kulturellen Faktoren erlebt wird, ist, medizinhistorisch betrachtet, noch jung, denn sie ist erst rund zwei Jahrzehnte alt. Und erst seit 2012 ist die Schmerzmedizin Pflichtfach für die angehenden Medizinerinnen und Mediziner. Das ist sicher ein weiterer Schritt, um den vielen Arten von Schmerzen in Zukunft effektiver zu begegnen.
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