Flechten sind faszinierende Mischwesen aus Pilz und Alge. Die etwa 18.000 Arten können bis zu 1.500 Jahre den schwierigsten Lebensbedingungen trotzen, doch auf die menschengemachte Luftverschmutzung reagieren sie sehr empfindlich. Viele Flechten produzieren wirksame Inhaltsstoffe, die auch für die Medizin interessant sind. Bernhard Kastner im Gespräch mit dem Biologen Thassilo Franke.
Credits
Autor dieser Folge: Bernhard Kastner
Es sprachen: Bernhard Kastner im Gespräch mit Dr. Thassilo Franke
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
Dr. Thassilo Franke, Biologe am BIOTOPIA Lab in München
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Thassilo Franke:
Flechten sind wahre Fundgruben für neue Arzneimittel.
Thassilo Franke:
Einerseits kommen Flechten mit den widrigsten Umweltbedingungen zurecht, andererseits zählen sie zu den Lebewesen, die am empfindlichsten auf Luftverschmutzung reagieren.
Thassilo Franke:
Flechten sind Lebensgemeinschaften aus Pilzen und Algen.
Bernhard Kastner:
Alles Natur
Thassilo Franke:
Flechten - Meister Extreme
Musik hoch
Bernhard Kastner:
Der Biologe Thassilo Franke vom BIOTOPIA LAB in München und ich, wir sind hier auf einem Feldweg bei Oberschleißheim in der Nähe von München. Wir stehen an einem Gebüsch-Hein, überall um uns herum sind Felder, Wiesen und Äcker. Und hier, in diesen Büschen an den Ästen, da sind wir auf der Suche nach den heutigen Protagonisten unseres Gesprächs.
Thassilo Franke:
Wir befinden uns hier an einem Feld-Hein und die ganzen Gehölze, die wir hier zu unserer Rechten sehen, die haben vollkommen gelb überkrustete Zweige und diese gelbe Kruste, das ist genau das, worum es in unserem heutigen Beitrag geht. Das sind nämlich Flechten.
Bernhard Kastner:
Also wenn ich die mir jetzt so anschaue, die haben so eine ganz satte curry-gelbe Farbe, die sind wie so Inseln, die sich um die Äste oder um die kleinen Stämme wickeln. Schaut ein bisschen trocken, schuppig aus …
Thassilo Franke:
Ja, genau, und was man hier sieht und auch auf den ganzen Sträuchern hier in der Umgebung, was hier alles so gelb einkrustet, das ist die Gemeine Gelbflechte. Und sie gehört zu einer riesigen Verwandtschaft von Lebewesen, von denen man bisher ungefähr 18.000 Arten kennt und die auf der ganzen Welt verbreitet sind, die schon seit über einer halben Milliarde Jahre auf unserer Erde zu Hause sind. Und es gibt ganz winzige Flechtenarten, die im Inneren vom Gestein leben, die auf der Oberfläche von Blättern leben. Und auf der anderen Seite gibt es auch Riesen-Flechten, die wie Girlanden meterlang von den Bäumen herunterhängen. Und überhaupt ist diese Gruppe dafür bekannt, dass sie die Meister der Extreme sind. Also sie kommen wirklich in den Kältewüsten der Antarktis vor, sie kommen auf entlegenen atlantischen, ozeanischen Inseln vor, wo es sonst kaum andere Lebewesen gibt. Sie kommen in Hochgebirgen vor bis über 7.000 Meter, und man findet sie auch in den Tieflagen des Amazonas-Regenwaldes.
Bernhard Kastner: 2.25
Sie haben jetzt gerade gesagt ‚eine Gruppe von Lebewesen‘, wir wollen es natürlich genauer wissen: welche Gruppe? Sind es Pflanzen, sind es Pilze, sind es Tiere, sind es Moose?
Thassilo Franke:
Flechten sind keine Moose, also das können wir schon mal ausschließen. Was die anderen Gruppen, die Sie erwähnt haben, betrifft, nämlich die Pilze und die Algen, da wird die Sache schon komplizierter. Also, wenn wir die Flechten jetzt rein taxonomisch betrachten, dann würde ich sie folgendermaßen definieren: wir haben es hier mit Pilzen zu tun, und zwar genau genommen mit ‚Schlauchpilzen‘, die mit Algen in einer Lebensgemeinschaft leben. Und wenn man aber das Ganze ökologisch sieht, weil nämlich diese Lebensgemeinschaft von wirklich essenzieller Bedeutung ist, da kann man dann von ‚Mischwesen‘ sprechen oder von ‚Doppellebewesen‘, weil nämlich das zwei Partner sind, die auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen sind und auch ganz neue Formen hervorgebracht haben, die es ohne diese Lebensgemeinschaft so gar nicht gegeben hätte.
Bernhard Kastner: 3.22
Ich schaue mir jetzt aber gerade diese gelben Flechten hier in den Ästen an: Wo genau ist der Pilz? Und wo ist die Alge? Algen sind grün. Ich sehe hier nur eine gelbe Oberschicht. Wo ist Pilz und Alge?
Thassilo Franke: 3.04
Das, was Sie auf den ersten Blick sehen, ist immer der Pilz. Und der Pilz trägt eigentlich auch den Namen, der für die ganze Flechte gebräuchlich ist. In dem Fall ist es die Gemeine Gelbflechte. Und da ist der Name des Pilzes oder der wissenschaftliche Name der Flechte Xanthoria Parietina. Und diese Flechte beherbergt in ihrem Inneren Algen und diese Algen, das sind winzig kleine, kugelförmige, mikroskopisch kleine Grünalgen, Und man sieht von den eigenen natürlich erst mal auf den ersten Blick nichts, weil die sind, wie gesagt, mikroskopisch klein im Inneren der Flechte. Aber wenn man mal schaut, also, wenn Sie sehen, ich habe hier am Boden so einen nassen Ast gefunden. Wenn man ihn danebenhält, dann ist er doch ganz grün?!
Bernhard Kastner:
Ja total – und zwar giftgrün… also richtig grün!
Thassilo Franke: 3.04
Und das liegt einfach nur daran, dass hier die ganzen Hohlräume in der Flechte von Feuchtigkeit vollgesogen sind und auf die Art und Weise dieses pilzliche Fadengeflecht durchsichtig erscheint. Und dadurch sieht man eben, dass da was Grünes drin ist, und das Grüne sind die Algen.
Bernhard Kastner:
Also kann ich mir das so vorstellen, dass der Pilz die Hülle, den Deckel und die Umrandung, von der Alge bildet?!
Thassilo Franke:
Das Gehäuse dieser Alge! Also die Algen wohnen im Inneren dieser Flechte. Und das ist eigentlich auch das, was diese diesen Flechten-Pilz für die Alge so wertvoll macht, weil er ihr praktisch Logis bietet. Das heißt, die Alge haust im Inneren der Flechte. Und dann fragt man sich natürlich, woher kommt die Kost, wenn die Logis vom Flechten-Pilz für die Alge kommt, die Kost für beide? Die liefert die Alge, weil die Alge ist imstande, Photosynthese zu betreiben, Zucker zu produzieren. Einen Teil des Zuckers, den behält sie für sich selbst und einen weiteren Teil des Zuckers kann sie an ihren Vermieter praktisch, an den Pilz abgeben. Und dadurch ist es eben eine hervorragende Lebensgemeinschaft.
Bernhard Kastner: 5.26
Also der Pilz profitiert, weil er sich die Nährstoffe von der Alge zieht. Die Alge ernährt den Pilz. Aber was hat die Alge davon?
Thassilo Franke:
Die Alge profitiert in vielerlei Hinsicht davon. Auf der einen Seite ist natürlich dieses Pilzliche, man spricht da von einem Myzel, von Farben-Geflecht oder bei den Flechten, weil das so kompakt ist, nennt man dieses pilzliche, ganz dichte Fadengeflecht auch ‚Lager‘, also dieses Pilzlager ist wie eine schützende Hülle. Das heißt, es schirmt die Algen in ihrem Inneren vor UV-Strahlung ab, vor extremen Temperaturunterschieden, auch vor Fressfeinden und Krankheitserregern.
Bernhard Kastner:
Und dieses System, das Sie so beschrieben haben, also, dass der Pilz die Hülle bildet, dass der Pilz die Alge schützt, umhüllt … diese Symbiose der beiden, dieses wechselseitige Geben und Nehmen, das betrifft nicht nur diese flachen Flechten, sondern alle Flechten? Es gibt ja wohl mehrere Arten von Flechten. Ich kann mich erinnern, wenn wir beim Bergwandern früher waren oder auch beim Skifahren, da sieht man ja diese Flechten, die so ganz wie so lange graue Haare von den Bäumen hängen. Ist da das gleiche System, dass eine Hülle der Pilz und innen eine Alge ist?
Thassilo Franke: 6.35
Ja genau! Was Sie da ansprechen, was Sie da beim Skifahren beobachtet haben, das sind sogenannte ‚Bartflechten‘. Die heißen auch auf Englisch ‚Methusalems Bart‘, also die hängen wie Bärte von den Ästen runter. Und der Grund, warum sie so wachsen, ist, dass sie eine Oberflächenvergrößerung haben, auf der einen Seite und dann eben auch als Nebelkämmer. Sie kommen also in sehr feuchten Tälern vor normalerweise diese Bartflechten, als Nebelkämmer, den Nebel, deren diesen Tälern aufsteigt, regelrecht auskämmen können und auf die Art und Weise das gesamte System mit Feuchtigkeit versorgen können. Also das sind Bartflechten, die gehören mit den Strauchflechten in eine Gruppe. Es gibt aber auch noch andere Formen, Sie haben die beim Skifahren wahrscheinlich oder beim Bergsteigen auch schon oft gesehen. Die Krusten-Flechten, das sind Flechten, die auf Felsoberflächen wachsen, die also mit einer mit der Unterseite fest auf der ganzen Fläche mit dem Felsen verbunden sind. Und auf der anderen Seite gibt es dann noch Laub-Flechten, das sind Flechten, zu denen auch die Flechten hier gehören, einige der Flechten, die man hier sieht, die nur an einer Stelle mit der Unterlage verwachsen sind und auf die Art und Weise, Ober- und Unterseite gleichzeitig dem Licht entgegen richten können und so mehr Photosynthese betreiben können. Und solche Laub-Flechten findet man vor allem an der Rinde der Bäume oder auch auf dem Boden. Und dann gibt es noch eine weitere Gruppe, die Gallert-Flechten, die ganze gelatinös sind und die hauptsächlich nicht mit Algen zusammenleben, sondern mit Zualo-Bakterien.
Bernhard Kastner: 7.35
Aber wir gehen jetzt zurück zu diesen kleinen gelben Flechten. Ich kenne die ja von mir zu Hause. Ich wohne in der Nähe vom Ammersee. und in den letzten Jahren habe ich das beobachtet, wenn dann die Blätter runterfallen, dass die Äste, die früher so braun-grau waren, heute immer mehr wirklich auch diese gelb-grüne Farbe annehmen. Und ich dachte bis jetzt, das ist ein Schädling, der dem Baum schadet. Aber das ist ja anscheinend nicht so?!
Thassilo Franke: 8.23
Also Flechten, auch wie hier, wenn man hier mal hinschaut, da sind ja die Äste bis zu den Ansatzstellen der Blätter komplett eingekrust, da könnte man wirklich meinen, wir hätten es mit Parasiten zu tun. Aber in Wirklichkeit schaden die Flechten den Bäumen und Sträuchern, auf denen sie wachsen, nicht. Sie sind vollkommen autark. Also sie haben auch überhaupt keine Saugorgane, mit denen sie jetzt irgendwie Pflanzensaft saugen könnten, sondern sie versorgen sich ja durch ihre gelungene Lebenspartnerschaft mit den Algen komplett selbst. Also, was Sie da beobachtet haben, das ist wahrscheinlich auch die Gemeine Gelbflechte und warum wir hier an diesem Feld-Hein stehen, wo auch alle Äste der Sträucher dick gelb überkrustet sind, das hat einen ganz bestimmten Grund. Und zwar hat diese Flechtenart eine besondere Vorliebe für Ammoniak. Und Ammoniak ist ja ein Gas, was entsteht, wenn Gülle ausgebracht wird, also im Urin von unseren Nutztieren, da ist ja sehr viel Harnstoff enthalten, und wenn dann dieser Harnstoff abgebaut wird, dann wird dieses stechend riechende Gas dieser Ammoniak freigesetzt. Und dieser Ammoniak in Form von Ammonium-Ionen, der wird dann von dieser Gelbflechte aufgenommen und ist für deren Überleben wichtig. Und was auch noch hinzukommt, dass es eben ganz viele andere Flechtenarten gibt, die mit Ammonium nicht zurechtkommen, also für die Ammonium schädlich ist und deswegen hat sie einen unglaublichen Konkurrenzvorteil und ist mit Ausnahme einiger anderer Flechten, die auch gerne Ammonium mögen, eine der wenigen Flechten, die hier in diesen Feld-Reihen oder auch ein Gärten zurechtkommt mit der Situation. Und deswegen ist hier eben alles so gelb überkrustet.
Bernhard Kastner: 9.40
Das finde ich jetzt total spannend, denn wir haben ja am Anfang gehört, dass die Flechten, wie der Titel der Sendung ja auch schon sagt, wahre Meister der Extreme sind. Sie können also unter extremen Lebensbedingungen im Eis, in der Hitze, in der Kälte in der Trockenheit überstehen. Auf der anderen Seite scheinen sie, was die Zunahme von dieser Gelbflechte hier zeigt, sehr empfindlich auf Umwelteinflüsse, auf Luft-Veränderungen zu reagieren?!
Thassilo Franke: 10.23
Was Sie ansprechen, das ist ja eigentlich wirklich ein Paradox. Auf der einen Seite haben wir es mit den robustesten Lebewesen überhaupt zu tun. Auf der anderen Seite sind aber genau diese Lebewesen, die, die am empfindlichsten auf Luftverschmutzung reagieren. Also man kennt einige Flechtenarten, wie zum Beispiel die Riesen-Bartflechte, die früher in den Alpen weit verbreitet war und zum Teil sogar bis ins Flachland runterging. Und diese Flechte ist mittlerweile in Deutschland komplett verschwunden. Sie ist bei uns ausgestorben. Und da fragt man sich, warum? Und die Ursache dafür ist eine Substanz, nämlich das Schwefeldioxid. Schwefeldioxid ist ein Gas, was vor allem bei der Verbrennung von fossilen Rohstoffen freigesetzt wird, und was sich dann über chemische Reaktionen umwandelt in schwefelige Säure. Und die, das kennen Sie sicher noch aus den 80er-Jahren, die verantwortlich ist für den berühmten Sauren Regen. Und dieser Saure Regen, der ist natürlich schädlich für Bäume, aber der Saure Regen ist der Tod für die allermeisten Flechten und besonders für so empfindliche Arten wie die Riesen-Bartflechte.
Bernhard Kastner: 11.38
Und wie kommt dieses Schwefeldioxid in die Alpen?
Thassilo Franke:
Ja also wie das Schwefeldioxid in die Berge kommt, klar mit dem Fernverkehr natürlich, damals gab es ja auch schon Eisenbahnen, die durch die Berge gefahren sind und dort wurde auch Kohle verheißt. Und da ist das dann sehr viele Schwefeldioxid freigesetzt worden, aber natürlich nicht ansatzweise so viel wie in den Industriegebieten oder in den Städten. Aber die Riesen-Bartflechte hat eine gewaltige Oberfläche, weil sie als ‚Nebelkämmer‘ dort eben auch den Nebel auskämmt, und mit dieser feuchten Luft natürlich riesige Mengen von dieser schwefeligen Säure auch aufgesaugt hat. Und das hat ihr einfach sehr schnell den Garaus gemacht.
Ja, aber ganz geballt tritt dieses Problem natürlich in den Städten auf. Also früher hat man viel mit Kohle geheizt und auch die Industriegürtel um die Städte rum, da wurden sehr viele fossile Rohstoffe zur Energiegewinnung verbrannt, und man hat ja auch immer so Smog-Glocken über den Städten gehabt. Und das hat dazu geführt, dass in den Stadtzentren, die haben sich in wahre Flechten-Wüsten verwandelt, sodass die gesamte Flechten-Flora zusammengebrochen ist, bis auf ein, zwei Arten, die das vielleicht irgendwie noch ausgehalten haben. Und das wurde aber sehr schnell bemerkt von Spezialisten. Und die haben dann die Idee entwickelt, man könnte ja die Flechten nutzen, um die Luft-Güte zu bestimmen. Und da entstand dann in den 70er-Jahren die Flechten-Kartierung. Man hat also an bestimmten Stellen im Untersuchungsgebiet dann immer die gleichen Stellen wieder besucht und die die Flechten dort kartiert und ist zu den Stellen wieder zurückgekehrt und hat geschaut, ob es weniger geworden sind, ob es mehr geworden sind und vor allem auch qualitativ, was für Flechtenarten überhaupt da sind, ob wieder eine Art verschwunden ist aus einem Sampling, oder ob vielleicht sogar einer dazugekommen ist. Es kann auch sein, dass die Luftqualität sich verbessert, und man hat dann tatsächlich auch so nach einer Weile erkannt, vor allem in der Mitte der 90er-Jahre, dass plötzlich Flechten wieder in die Städte zurückgekommen sind, also auch in Gebiete, wo es früher gar keine Flechten mehr gegeben hat. Man hat ja Maßnahmen ergriffen: Man hat Rauchgasentschwefelungsanlagen eingebaut, in die die Verbrennungsanlagen in den Kraftwerken. Man hat Treibstoffe, auch entschwefelt, bevor sie überhaupt verbrannt wurden. Und man kann wirklich sagen, also die Schwefeldioxidbelastung ist in den letzten 20 Jahren irrsinnig zurückgegangen, und das hat natürlich zur Folge gehabt, dass dann die Flechten, die so empfindlich auf Schwefeldioxid reagieren, dann auch wieder in diese freigewordenen Habitate wieder zurückgekehrt sind und die Städte wieder besiedelt haben.
Bernhard Kastner:
Also ist die Fläche ja wirklich ein Bioindikator für gute Luft?!
Thassilo Franke: 14.09
Genau, man kann sagen, ein Bioindikator für gute Luft, aber eigentlich nur eingeschränkt. Also es ist ja so, die Flechten kamen zurück, und man hat aber dann sehr schnell gemerkt, Moment, das sind aber nicht die Flechtenarten, die vorher da waren. Man hatte ja die Herbarien in den Staatssammlungen, da konnte man ja sehr genau nachschauen, was die Leute früher im neunzehnten Jahrhundert zum Beispiel in den Städten gesammelt haben und was man jetzt dort auf den Baumstämmen hatte. Und auf den Hauswänden waren ganz andere Flechtenarten als früher, und zwar, man hat festgestellt, diese Flechten sind Flechten, die man sonst eher aus der Umgebung von landwirtschaftlichen Betrieben kannte, wie zum Beispiel diese Gemeine Gelbflechte hier hinter uns. Und da stellte sich die Frage, warum kommen denn die in die Städte zurück? Und die Antwort war die: Die sind zwar jetzt zurückgekehrt, weil das Schwefeldioxid-Problem gelöst war, aber sie waren Indikatoren, also Zeiger für ein anderes Problem, was sich in Städten breitgemacht hat, nämlich die Stickstoffbelastung.
Bernhard Kastner: 15.10
Und wo kommt die Stickstoffbelastung her?
Thassilo Franke:
Also 95 Prozent der Stickstoffbelastung durch Ammoniak kommt ja aus der Landwirtschaft, und nur fünf Prozent hat man in diesen städtischen Gegenden eigentlich gemessen. Und da fragt man sich: wo kommen denn diese fünf Prozent her? Und die die Entdeckung, die war eigentlich sehr überraschend. Der Ammoniak kommt aus den Katalysatoren der Autos, also ein Nebenprodukt bei diesen Reaktionen, die in dem Katalysator ablaufen, ist dieser Ammoniak. Und eine Aufgabe ist ja, dass man eben Stickoxide vermeidet. Auf der anderen Seite kommt aber eben Ammoniak hinten aus dem auf Auspuff raus. Und jetzt passiert Folgendes: jetzt geht dieser Ammoniak in die Luft, und gleichzeitig gehen auch Stickoxide in die Luft. Und wenn die sich dann in der Atmosphäre in Gegenwart von Ozon und Wasserdampf begegnen, dann bildet sich ein Salz, und zwar das Ammoniumnitrat und das Ammoniumnitrat ist ein Feststoff und als Feststoff bildet er Staub. Und das ist dann der berühmte Feinstaub, der sich dabei den Städten bildet, Also 50 Prozent - die Hälfte - müssen Sie mal bedenken von dem Feinstaub ist nicht Reifenabrieb, Ruß oder Bremsbelege-Abrieb, was man sonst immer so unter Generalverdacht hat, sondern die Hälfte des Feinstaubs, ist Ammoniumnitrat! Und dieser Feinstaub, der rieselt natürlich dann wieder auf die auf die Erde runter. Da schwebt nach unten, der setzt sich hier auf den Ästen der Bäume fest, und wenn dann dort diese Gemeine Gelbflechte, wächst, dann ist die wie im Schlaraffenland.
Musik
Bernhard Kastner: 16.56
Sie hören radioWissen hier auf Bayern2 und ich unterhalte mich heute in unserer Gesprächsreihe ‚Alles Natur‘ mit dem Biologen. Dr. Thassilo Franke von Biotopia LAB in München, und wir sprechen über die Flechten, und die haben sie ja wirklich in sich.
Thassilo Franke:
Ja, das kann man wirklich so sagen. Also Flechten, die Pilzpartner von Flechten, das sind reine Fabriken für interessante chemische Substanzen, die dort erzeugt werden von dem Organismus. Und diese Substanzen sind zum Beispiel tumorhemmende Substanzen, die die arzneiliche interessant sind. Es sind Substanzen dabei, die antibakteriell wirken, entzündungshemmend wirken. Und das weiß man auch schon sehr lange. Man weiß zum Beispiel auch, dass in sehr vielen verschiedenen Kulturen auf der Welt Flechten als Wundverband früher verwendet wurden, aber auch heute noch, zum Beispiel im Himalaja, eine ganz wichtige Bedeutung haben. Es heißt, wenn sich jemand verletzt und die Wunde anfängt zu eitern, dann wird dann eine Flechte draufgelegt und das Ganze gut verbunden, weil man eben weiß, dass diese Flechte entzündungshemmende antibakterielle Wirkungen hat. Und diese Wirkung, das Flechten, Inhaltsstoffe Bakterien abtöten können, das wussten auch schon die Alten Ägypter. Und die haben zum Beispiel die Leibeshöhle von mumifizierten Toten mit Flechten ausgefüllt, aber auch Flechten auf dem Körper verteilt und zwischen den Bandagen. Und das hat dann eben dazu geführt, dass diese einbalsamierten Körper nicht von Bakterien zersetzt wurden, weil sie eben von diesen Flechten davor geschützt wurden. Und eine der Flechten, die da immer wieder nachgewiesen werden konnte, das ist eine Flechte mit dem etwas irreführenden Namen Baummoos. Und dieses Baummoos hat auch noch andere interessante Inhaltsstoffe. Und die sind auch schon seit vielen, vielen Jahrhunderten als Parfümstoffe bekannt und vor allem in Südfrankreich, da, wo ja die meisten Parfüms herkommen, werden die schon seit langer Zeit aus diesen Flechten herausisoliert. Und das sind die Grundsubstanzen eigentlich in einer ganzen Reihe von sehr gängigen klassischen Parfüms.
Bernhard Kastner:
Ja, und teilweise sind die Inhaltsstoffe von Flechten ja auch ziemlich giftig?!
Thassilo Franke:
Ja, also, was Sie da ansprechen, das ist die Wolfsflechte, die den schönen wissenschaftlichen Namen Letharia Vulpina hat. Letal, Sie kennen den Ausdruck letal, Letharia, die Tödliche; Vulpina heißt, die den Fuchs tötet, wenn man so will. Vulpius ist der Fuchs, weil man eben früher damit Wölfe und Füchse vergiftet hat, indem man die Flechten pulverisiert hat und dann Fleischköder eben da damit behandelt hat. Und wenn dann der Wolf kam oder der Fuchs kam und von dem Fleisch gefressen hat, dann ist er gestorben. Und die Ursache dafür war ein ganz heimtückisches Gift, nämlich die Vulpin-Säure. 19.54
Bernhard Kastner:
Und einen dieser vielen, vielen Inhaltsstoffe kennen wir alle wohl. Oder die meisten von uns gerade jetzt in der Erkältungszeit. Das sind Präparate aus dem sogenannten Islandmoos. Aber Achtung der Name leitet in die Irre: Es ist kein Moos?!
Thassilo Franke: 20.01
Ja, da haben wir schon wieder Baummoos, Eichenmoos und jetzt ist Islandmoos alles keine Moose, sondern Flechten. Aber das sind genau diese kleinen, bräunlichen Pastillen, die wahrscheinlich jeder schon mal gelutscht hat, die dann so angenehm, gerade wenn man einen kratzigen Hals hat, so eine schöne Schleimschicht dort auf den auf den wunden Stellen in der Luftröhre dort verteilen. Und dieser Schleim - es ist wirklich Schleim, der da drin ist. Es ist der sogenannte Lichnin. Lichnin wird auch ‚Flechten-Stärke‘ genannt, und in diesem Schleim sind dann auch noch antiseptische, antibakterielle Substanzen, die enthalten, legen sich schön über die entzündete Stelle und führen dann zu einer schnellen Abheilung eben dieses Problems.
Bernhard Kastner: 20.47
Das sind ja jetzt schon einige hochwirksame Wirkstoffe, über die Sie hier gesprochen haben. Aber es sind noch längst nicht alle in den Flechten vorhandenen Stoffe entdeckt worden?!
Thassilo Franke: 20.55
Ja, genau. An den staatlichen Naturwissenschaftlichen Sammlungen Bayerns hat eine Forschergruppe vor kurzem eine ganz interessante Entdeckung gemacht. Und zwar, sie haben sich die Erbinformationen von verschiedenen Flechtenarten genauer angeschaut und haben dann Gene entdeckt, die bestimmte arzneilich interessante Substanzen codieren. Also ganz einfach formuliert, haben sie in der Erbinformation verschiedene Rezepte gefunden, die für diese arzneilich interessanten Inhaltsstoffe die Ursache sind. Und sie haben mehr solche Rezepte gefunden, als Inhaltsstoffe bekannt sind. Und das hat ihnen natürlich dann wiederum den Rückschluss erlaubt, dass man noch erwarten kann, sehr viele arzneilich interessante Stoffe in Flechten zu finden, die man heute noch gar nicht kennt, aber von dem man schon weiß, dass sie da sein müssen, weil man ihre Rezepte gefunden hat.
Bernhard Kastner:
Also, auf der einen Seite sind Flechten noch längst nicht erforscht, noch längst wissen wir nicht alles über die Inhaltsstoffe von Flechten. Auf der anderen Seite wissen wir, dass viele Flechten schon ausgestorben sind oder in ihrer Existenz bedroht sind. Das ist jetzt also ein Wettlauf mit der Zeit. Da frage ich mich kann man Flechten nicht gezielt züchten oder sie kultivieren, vermehren, anpflanzen wie zum Beispiel andere Arzneimittelpflanzen auch?!
Thassilo Franke: 22.15
Ja, so dass mit den Flechten züchten ist in der Tat ein Problem also großflächig züchten sowieso eigentlich ausgeschlossen und hat tut sich ja schon im Labor schwer, die zu züchten, weil man einfach diese Wachstumsbedingungen sehr schwer simulieren kann, die Flechten zum Leben brauchen. Außerdem ist es so, dass die meisten Flechtenarten auch sehr, sehr langsam wachsen. Es gibt Flechten, die wirklich nur einen Bruchteil von einem Millimeter pro Jahr Zuwachs haben und die weit über tausend Jahre alt werden können, trotzdem nur die Größe von meiner Handfläche vielleicht haben. Und solange kann man natürlich nicht warten, wenn man einen Organismus züchten will, den man eben auch wirklich nutzen möchte. Es heißt hier ist man tatsächlich immer noch auf die Wild-Flechten angewiesen.
Bei Flechten ist es ja so, dass sie sich einerseits über Born formieren sowie Pilze, die dann natürlich aber da, wo sie landen, dann auch den passenden eigenen Partner finden müssen, was gar nicht so einfach zu sein scheint.
Musik
Bernhard Kastner:
Also mit der Zucht und der Kultivierung von Flechten sieht's noch nicht so rosig aus. Umso wichtiger ist es, dass wir die Flechten, die wir kennen und die wir haben und noch längst nicht erforscht und verstanden haben, schützen. Ich danke Ihnen für dieses wirklich interessante Gespräche. Ich hab wieder sehr viel gelernt, und ich freue mich schon auf das nächste Mal.
Thassilo Franke:
Ja, ich freue mich schon sehr auf die nächste Sendung
Musik out
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