Lady Chatterleys Liebhaber - Erotik, Sex, Ehebruch
In seinem Roman "Lady Chatterley's Lover" erzählt D.H. Lawrence die Liebesgeschichte einer englischen Lady und eines Mannes aus der Arbeiterklasse. Das Buch sorgt für einen der größten Skandale der Literaturgeschichte. Es ist ein Plädoyer für die freie Entfaltung der Persönlichkeit, die die Sexualität ganz explizit miteinschließt. Autor: Frank Halbach
Credits
Autor dieser Folge: Frank Halbach
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Christiane Roßbach, Christoph Jablonka, Ines Hollinger
Technik: Ursula Kirstein
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Prof. Dr. Stephan Karschay, Professor für Britische Literatur- und Kulturwissenschaft mit Forschungsschwerpunkt Skandal und Zensur
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Literaturtipps:
D.H. Lawrence: Lady Chatterley, Reinbek bei Hamburg 1973.
Sybille Bedford: The trial of Lady Chatterley's lover, London 2016.
David Bradshaw / Rachel Potter (Hgg.): Prudes on the Prowl: Fiction and Obscenity in England, 1850 to the Present Day, Oxford 2013.
Stephan Karschay: Scandals in British Culture. In: Jürgen Kramer / Bernd Lenz (Hgg): How to Do Cultural Studies: Approaches, Ideas, Scenarios, S. 191-220, Würzburg 2019.
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK 1 „A Zed and Two Noughts“ auf Schluss; ZEIT: 02:49
ERZÄHLERIN (bewundernd)
Einer der bedeutsamsten Romane des 20. Jahrhunderts...
SPRECHER (gereizt)
Das obszönste Buch in englischer Sprache!
ERZÄHLERIN (gelassen)
Ein klassisches erotisches Meisterwerk.
ZITATORIN (lustvoll)
„Lady Chatterley’s Lover”
ERZÄHLERIN
D. H. Lawrence’s „Lady Chatterley“ gilt als eines der ersten seriösen Werke der Literaturgeschichte, das Sexualität detailliert und explizit schildert. Es geht um Liebe, Ehebruch und weibliche Lust.
ZITATORIN
Eine Frau konnte sich einem Mann hingeben, ohne zugleich auch ihr inneres freies Wesen hinzugeben. Das schienen die Dichter und alle, die über den Sexus schwatzten, nicht genügend bedacht zu haben.
SPRECHER (ablehnend)
Ein aufrührerisches, skandalöses und vulgäres Buch!
ERZÄHLERIN
D. H. Lawrence löste damit einen der größten Skandale der Literaturgeschichte aus: Nicht nur dass eine junge Lady ihren Stand verrät und sich über Klassenschranken hinwegsetzt, sondern sie wagt es auch noch nach einer erfüllten Sexualität zu suchen und sie sogar zu finden. Das puritanische England fühlte sich in seinen Grundfesten erschüttert.
Der Roman aus dem Jahr 1928 war über 30 Jahre lang verboten. Der Skandal um die Publikation des Buches würdigte den Namen Chatterley zum Synonym für Schlüpfriges und Pornografisches herab.
ZITATORIN
Ein Jammer, dass die Männer in dieser Hinsicht so weit hinter den Frauen herhinkten. Gierig wie die Hunde waren sie auf das Sexuelle aus. Und eine Frau hatte nachzugeben.
SPRECHER (aburteilend)
Die anrüchige Geschichte eines Ehebruchs zwischen einer ebenso frustrierten wie wollüstigen Aristokratin und einem (verachtend) Proletarier.
ERZÄHLERIN
Der Bruch mit den Moral- und Gesellschaftsnormen seiner Zeit, die Darstellung befreiter weiblicher Sexualität und die scharfe
Kritik im Roman des englischen Schriftstellers D.H. Lawrence an der britischen Gesellschaft, kulminierten 1960 in einem aufsehenerregenden Gerichtsverfahren…
SPRECHER (sich ereifernd)
Ein Obszönitätsprozess!
ERZÄHLERIN
An dessen Ende die Aufhebung etlicher Zensurbestimmungen stand, und der „Lady Chatterley’s Lover“ zum Vorreiter der „Sexuellen Revolution“ werden ließ, eine Flamme, die in den 1960er Jahren Großbritannien und schließlich ganz Europa erfasste - trotz oder gerade wegen seiner expliziten Sprache.
ZITATORIN (lustvoll melancholisch)
Wir haben eine Flamme ins Sein gefickt. Und wenn der wirkliche Frühling kommt, dann können wir die kleine Flamme zu strahlender gelber Helle ficken.
MUSIK ENDE
O-Ton 1 Karschay (03:33)
Also „Lady Chatterley's Lover“ ist mit Sicherheit ungewöhnlich für seine explizite Darstellung von Sexualität. Denn dieser Bereich ist im Liebesroman, in diesem Genre, nicht vorgesehen und gehört eigentlich in den Bereich der Pornografie, also in den Untergrund.
ERZÄHLERIN
Erläutert Dr. Stephan Karschay, Professor für Britische Literatur- und Kulturwissenschaft. Einer seiner Forschungsschwerpunkte: die Beschäftigung mit Skandalen und Zensur in der britischen Kulturgeschichte.
O-Ton 2 Karschay (03:47)
Und selbst ein so wichtiger und ja auch im neunzehnten Jahrhundert schon zensierter Roman wie Gustave Flauberts „Madame Bovary“ beispielsweise muss die Darstellungen des körperlichen Ehebruchs zwischen Emma Bovary und Léon ausblenden. Das ist etwas, was völlig der Fantasie der Leser überlassen wird. (…) Und das macht Lawrence anders. Wir sind hier ganz nah mit dabei. Und das ist ungewöhnlich für einen Roman, und das hat letztlich auch dazu geführt, dass dieser Roman zu Lebzeiten Lawrence‘ nicht veröffentlicht werden konnte und tatsächlich erst 30 Jahre nach seinem Tod, also 1960, in der unbereinigten Form veröffentlicht wurde.
ERZÄHLERIN
Was oft zu sehr in den Hintergrund rückt: Der Roman von D. H. Lawrence bricht nicht nur hinsichtlich der Darstellung und Thematisierung von Sexualität Tabus. „Lady Chatterley“ schlägt auch deshalb ein wie eine Bombe weil Lawrence die Orientierungslosigkeit einer Gesellschaft, den Niedergang des guten alten England, nach dem Ersten Weltkrieg thematisiert.
MUSIK 2 „Drowning by Numbers“; ZEIT: 00:56
ZITATORIN
Die Katastrophe ist hereingebrochen, wir stehen zwischen den Trümmern, wir fangen an, neue kleine Gewohnheiten zu bilden, neue kleine Hoffnungen zu hegen. Es ist ein hartes Stück Arbeit: Kein ebener Weg führt in die Zukunft; wir umgehen die Hindernisse jedoch oder klettern über sie hinweg. Wir müssen leben – einerlei, wie viele Himmel eingestürzt sind. Ungefähr in dieser Situation befand sich Constance Chatterley.
ERZÄHLERIN
Großbritannien befand sich nach dem Ersten Weltkrieg in einer wirtschaftlichen Krise. Viele Arbeiter hatten mit zunehmender Verarmung zu kämpfen. Impulse, Orientierung durch die Upper class? Fehlanzeige. Und dann dieser Roman.
MUSIK ENDE
SPRECHER (voller Verachtung)
Eine Frau von Adel, die ihren kriegsversehrten Mann verlässt zugunsten eines Wildhüters aus der Arbeiterklasse!
O-Ton 3 Karschay (05:42)
Ich glaube, was die Verstöße gegen die Moralvorstellungen der Zeit angeht, muss man unterscheiden zwischen den Normverstößen der Protagonistin Constance Chatterley, also auf der Ebene der Handlung und den Normverstößen des Autors D. H. Lawrence auf einer ästhetischen Ebene. Was Lady Chatterley angeht, ist es so, dass sie sich gegen die Normen der gesellschaftlichen Oberschicht stellt. Denn was sie eingeht, ist letztlich eine Mesalliance mit dem Wildhüter Oliver Mellors. Und sie führt dadurch auch im Roman gewissermaßen einen Klassenkampf vor. Denn Lady Chatterley's Lover ist auch ein Roman, der die Klassenstruktur der britischen Zwischenkriegsgesellschaft in Frage stellt.
ERZÄHLERIN
Zugleich stellt der Roman im Kern eine Emanzipationsgeschichte dar.
O-Ton 4 Karschay (16:38)
Denn die Protagonistin Constance Chatterley emanzipiert sich und die weibliche Sexualität von den verkrusteten sozialen Normen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Man kann schon sagen, dass sie von vorneherein als außergewöhnliche Figur charakterisiert ist. Denn sie wächst als Jugendliche zunächst in einem quasi freidenkerischen Umfeld auf und macht dann auch recht früh als 18-Jährige ihre ersten sexuellen Erfahrungen.
MUSIK 3 „Drowning by Numbers“; ZEIT: 01:03
ERZÄHLERIN
1917 heiratet Constance, Sir Clifford Chatterley. Kurz nach den Flitterwochen zieht Clifford als Offizier in den Ersten Weltkrieg.
SPRECHER
Schwer verwundet, gelähmt und impotent kehrt Clifford aus dem Krieg zurück zu Connie.
ZITATORIN
Nichts hatte Substanz – weder sie noch irgendetwas… keine Fühlung, keine Nähe. Nur dies Leben mit Clifford, dies endlose Spinnen von Geweben aus Worten und kleinen Einzelheiten des Bewusstseins.
MUSIK ENDE
O-Ton 5 Karschay (17:17)
Und auch eine erste Affäre mit dem irischen Dramatiker Michaelis ändert daran überhaupt nichts. Das heißt, das Problem ist nicht nur ein Mangel an Sexualität, sondern das Problem besteht vielmehr in der Unfähigkeit der Männer des Romans, für eine erfüllte und letztlich gleichberechtigte Sexualität Sorge zu tragen.
ERZÄHLERIN
In einer abgeschiedenen Hütte im Wald trifft Connie unversehens auf den Wildhüter der Chatterleys – der sich gerade wäscht
MUSIK 4 „A Zed and Two Noughts“ auf Schluss; ZEIT: 02:33
ZITATORIN
Sie hatte gesehen, wie die plumpe Hose niederglitt über die reinen, schmalen, weißen Hüften, an denen ein wenig die Knochen hervortraten, und das Gefühl der Einsamkeit hier, das Gefühl ein Geschöpf in reiner, tiefer Einsamkeit vor sich zu haben, überwältigte sie. Die warme weiße Flamme eines Einzellebens, das sich in Konturen offenbarte, die man berühren konnte; ein Leib!
SPRECHER
Im Laufe der Handlung beginnt Connie mit Mellors ein zutiefst unanständiges Liebesverhältnis, das im Roman ausführlich und anstoßerregend geschildert wird.
ERZÄHLERIN
Weite Teile des Romans schildern Connies seelische Entwicklung. Schließlich eröffnet sie ihrem Mann:
ZITATORIN
Ich habe mich in einen anderen Mann verliebt, und ich hoffe sehr, du wirst mich freigeben.
SPRECHER
Ich für meinen Teil, ziehe vor – da du nun mal meine Frau bist -, dass du in Würde und Ruhe weiterlebst unter meinem Dach. Ganz abgesehen von persönlichen Empfindungen – und ich versichere dir, was mich betrifft, sehe ich von einer ganzen Menge ab -, ist es verdammt hart für mich, mir meine Lebensordnung hier auf Wragby und den geregelten Ablauf des täglichen Lebens kaputtmachen zu lassen, einfach wegen irgendeiner Laune von dir.
ZITATORIN
Ich kann es nicht ändern. Ich muss gehen. Ich bekomme wahrscheinlich ein Kind.
SPRECHER
Du gehörst zu diesen halb irrsinnigen, perversen Frauen, die ihrer Verworfenheit nachrennen müssen. Du kannst gehen, wohin du willst, aber ich werde mich nicht von dir scheiden lassen.
ERZÄHLERIN
Noch in derselben Nacht packt Connie ihre Sachen und verlässt Wragby für immer. Der entlassene Wildhüter Mellors schreibt ihr in einem Brief, wie gern er später mit ihr zusammenleben würde und dass er im Grunde nur für sie lebe. Der Brief endet mit den Worten:
ZITATORIN
Mit hoffnungsvollem Herzen.
ERZÄHLERIN
Und so endet auch der Roman von D.H. Lawrence. Vielfach interpretiert als Protest gegen die Verteufelung von Sinneslust und ein Plädoyer für emanzipierte weibliche Sexualität.
MUSIK ENDE
So äußert beispielsweise die Autorin Catherine Millet, die mit ihrer Autobiografie „Das sexuelle Leben der Catherine M.“ einen eigenen Literaturskandal provoziert hat:
„Lesen Sie mal „Lady Chatterley“. Dort gibt es Stellen, in denen er den weiblichen Orgasmus mit einer Präzision beschreibt, die unglaublich ist. Ich hätte das gern selbst so gekonnt.“ Lawrence ließ sich für seine Schilderungen von seiner Frau Frieda von Richthofen die Empfindungen einer Frau beim Orgasmus präzise beschreiben, erinnert sich Frieda in ihren Memorien.
MUSIK 5 „Drowning by Numbers“; ZEIT: 01:06
ZITATORIN
Dann, als er sich zu bewegen begann, in der plötzlichen Hilflosigkeit des Orgasmus, erwachten in ihrem Innern ganz neue, fremde, sie durchflutende Schauer. Sie kamen Welle auf Welle, wie das flackernde Überlappen sanfter Flammen, sanft wie Federn, sie liefen aus in leuchtenden Spitzen, köstlich, so köstlich, und ihr Inneres schmolz dahin, zerfloss. Es war wie Glockengeläut, das sich höher und höher bis zum Höhepunkt aufschwang.
MUSIK wegblenden
ERZÄHLERIN
Lawrence spricht sich vehement für eine freie Entfaltung der Persönlichkeit aus - das schließt die Sexualität mit ein und: Es schließt Frauen mit ein. Connie emanzipiert sich in einer männlich-kapitalistisch geprägten Gesellschaft. Das hat Lawrence nicht davor bewahrt von feministischer Seite kritisiert zu werden.
O-Ton 6 Karschay (15:18)
Manche sahen in ihm eben ein Plädoyer für ein erfülltes, gleichberechtigtes Sexualleben zwischen den Geschlechtern, aber manch feministische Stimmen, besonders die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Kate Millett hat ein Buch geschrieben mit dem Titel „Sexual Politics“, in dem sie Lawrence vielmehr als einen chauvinistischen Vertreter einer patriarchalen Kultur sah, der den Phallus zum dominanten Symbol einer männlichen Sexualität machte.
ZITATORIN
So stolz und so gebieterisch. Jetzt weiß ich, warum Männer so anmaßend sind. Aber er ist herrlich, wirklich! Wie ein anderes Wesen! Ein bisschen zum Fürchten. Aber so schön, wirklich! Und er kommt zu mir!
ERZÄHLERIN
Huldigt Connie Mellors‘ Phallus. Lawrence löst mit „Lady Chatterley“ nicht nur durch die Themen eine Kontroverse aus, sondern auch besonders durch seinen Stil. So vermeidet er in seiner Sprachwahl der Lüsternheit einer bigotten Leserschaft scheinheilig zu entsprechen. Lawrence schildert offen und präzise. Dazu gebraucht er auch Ausdrücke, die ein Mann aus dem Volk wie Mellors verwenden würde.
ZITATORIN
Fuck!
SPRECHER
Vulgär einerseits, in pathetischen Beischlafszenen schwülstig und kitschig andererseits. Lächerlich!
MUSIK 6 „Drowning by Numbers“; ZEIT: 00:52
ZITATORIN
Und ihr war, als sei sie wie das Meer, nichts als dunkles steigendes und fallendes Gewoge, von einem Strom getragen, und langsam geriet ihre ganze Dunkelheit in Bewegung, und diese war das Weltmeer, das in seiner dunklen Schwere dahinrollte. Und auf dem Grund ihres Inneren teilten sich die Tiefen und wogten auseinander von dem Mittelpunkt sanften Eindringens aus, als der Taucher tiefer eindrang, immer tiefer, (ab hier Text + MUSIK wegblenden) [tiefer wurde sie bloßgelegt und machtvoller rollten die Wogen ihres Seins dahin, einem fremden Ufer zu und deckten sie auf…]
(darüber)
O-Ton 7 Karschay (19:48)
Es ist in der Tat so, dass Lawrence‘ Schreibstil manchmal unangenehm, pathetisch und vielleicht heute, wenn man ihn liest, ungewollt komisch wirkt. Aber man muss ihn auch an seinen eigenen Maßstäben messen. Es bringt also nichts ihn für seine insistierenden Wiederholungen und seine schiefen Bilder zu kritisieren, denn diese stammen letztlich aus einer künstlerischen Überzeugung das Verhältnis des Menschen zu seiner Sexualität, aber auch zur nicht-menschlichen Natur neu und eben emphatisch, mit Nachdruck, zu konzipieren. Und er sah in diesem sehr geordneten, überintellektualisieren und in der asketischen Geistesarbeit letztlich Zivilisationskrankheiten, die zur Unterdrückung der sexuellen Natur des Menschen führen. Und für Lawrence war die Sexualität fast etwas mythisch heiliges, ja, fast eine Religion der Sexualität.
ERZÄHLERIN
Lawrence kritisiert die Entfremdung des Menschen von sich selbst durch die Allmacht des Kapitalismus. Sir Clifford repräsentiert die zerstörerische und zugleich nicht zeugungsfähige Kraft der Industrialisierung. Bei einem Waldausflug mit Connie zum Beispiel zermalmt er zahllose blühende Blumen unter den Rädern seines Rollstuhls und hinterlässt in der vorher unberührten Natur eine Spur der Verwüstung.
SPRECHER
Seine Fans haben Lawrence später gar zu einem Vorreiter der Umweltschutzbewegung erklärt.
ERZÄHLERIN
Davon, dass man ihn zur Ikone von Umweltschutz, Arbeiterklasse und sexueller Revolution erhob, bekam Lawrence freilich nicht mehr mit.
Als er seine Arbeit an „Lady Chatterley“ begann, war er bereits schwer krank. Ende November 1926 schloss er die erste Fassung des Romans ab. Zwei weitere sollten folgen.
Erfahrungen mit der Zensur wegen zu expliziter Darstellung von Erotik hatte Lawrence schon mit seinem Roman „The Rainbow – Der Regenbogen“ von 1915 gemacht.
SPRECHER (pikiert)
Er umging daher bei „Lady Chatterley“ die von der Zensur vorgegebenen Grenzen von Sitte und Moral mit einer privaten Erstveröffentlichung von 200 Exemplaren der unbereinigten Fassung in Florenz. Raubkopien davon geraten in Umlauf.
O-Ton 8 Karschay (24:13)
Und dann gab es eine zweite Fassung, die erst später in den 70er-Jahren in englischer Sprache erschien, als „John Thomas an Lady Jane“. Und hier ist zum ersten Mal erkennbar, wenn man das zurückverfolgt, dass Lawrence in diesem Text vor allen Dingen seine Auseinander-setzung mit der Industrialisierung ausgebreitet hat. (…) Und die Endfassung, die über die wir eigentlich heute sprechen, das ist die von 1928. Und hier haben wir dann eben die zunehmend explizite Darstellung von Sexualität.
ERZÄHLERIN
Die unzensierte 3. Fassung erschien in Großbritannien erst wieder 1960. Der Taschenbuchverlag Penguin Books, stellte sich damit offen gegen den im Jahr zuvor in Kraft getretenen „Obscene Publications Act“.
SPRECHER
Ein vom britischen Parlament verabschiedetes Gesetz das die Veröffentlichung von pornographischer Literatur zu verhüten suchte.
ERZÄHLERIN
Um ein Gerichtsverfahren zu erzwingen, zeigte sich Penguin Books gleichzeitig mit der Veröffentlichung selbst an. Stephan Karschay:
O-Ton 9 Karschay (09:34)
Die Anklage in diesem Prozess hatte eine ganz klare Agenda: Sie versuchte zu zeigen, dass der Roman geeignet sei, bestimmte Leser*Innen zu korrumpieren. (…) Und dabei spielte auch die Veröffentlichung als billiges Taschenbuch eine Rolle also, dass der Verlag Penguin in Großbritannien diesen Text nicht nur veröffentlichen und einer Leserschaft zur Verfügung stellen wollte, sondern dass auch in einem Format tun wollte, das sich durchaus ein breites Publikum leisten konnte.
MUSIK 7 „The Draughtsman's Contract“ auf Schluss; ZEIT: 02:35
SPRECHER
Der Prozessendete am 2. November 1960.
ERZÄHLERIN
Mit einem Freispruch. Das Exemplar der „Lady Chatterley“ das der Richter Sir Lawrence Byrne im Prozess verwendet hatte, erzielte 2018 bei Sotheby’s in London einen Auktionsrekord.
ZITATORIN (amüsiert)
56.250 Pfund für das anstößigste Buch der Welt.
ERZÄHLERIN
Die Frau des Richters hatte ihrem Gatten darin die anzüglichsten Passagen angestrichen und dem Exemplar eine graue Tasche aus Damast genäht – um zu verhindern, dass Pressefotografen ihren Mann mit dem Buch ablichteten. Im Anschluss an den aufsehenerregenden Londoner Prozess wurde der Roman 1960 als Taschenbuch in Deutschland veröffentlicht – vom Rowohlt Verlag, aus dessen Übersetzung in dieser Sendung zitiert wird.
Ganz England stürzte sich nach dem Prozess auf die erstmalig unzensierte Fassung von „Lady Chatterley“.
Die Folge des Prozesses waren aber nicht nur enorme Verkaufszahlen, sondern vor allem die Aufhebung von Zensurbestimmungen in Großbritannien und auf dem Fuße folgend: eine sexuelle Revolution, die nicht auf die britischen Inseln beschränkt bleiben sollte.
SPRECHER (unbehaglich)
Ein Wandel der öffentlichen Sexualmoral im Sinne einer Enttabuisierung sexueller Themen.
ERZÄHLERIN
Der Prozess um Lady Chatterley gewann damit nicht nur eine juristische, sondern eine kulturelle Bedeutung. Die Gesellschaft der westlichen Welt wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine andere.
SPRECHER (naserümpfend)
Man adaptierte das Buch als Film – als Softporno mit Sylvia Kristel 1981.
ERZÄHLERIN
Als BBC-Vierteiler 1993, als preisgekrönte Erweckungsgeschichte der französischen Regisseurin Pascale Ferran oder aufwendige Netflix-Produktion mit Emma Corrin in der Hauptrolle.
SPRECHER (aburteilend)
Nicht wenigen Kritikern wie etwa James Joyce gilt Lawrence’ Werk als trivial.
ERZÄHLERIN
Mit „Lady Chatterley“ hat eine der imponierendsten Frauengestalten der Literaturgeschichte geschaffen.
ZITATORIN
Eine Frau muss ihr Leben leben oder leben, um zu bereuen, dass sie es nicht gelebt hat.
SPRECHER
Selbst Feministinnen kritisieren Lawrence als Chauvinisten, der über die heilige Kraft des Phallus schwadroniert!
MUSIK ENDE
O-Ton 10 Karschay (28:12)
Lawrence ist ein sich selbst widersprechender Schriftsteller, für den die Literatur immer ein Experimentierfeld darstellte. Und Lawrence verdient es auch heute noch kritisch gelesen zu werden. Selbst wenn man dann am Ende zu dem Schluss kommen sollte, dass seine Texte ambivalent und zutiefst widersprüchlich bleiben. Vielleicht ist gerade, dass ihr besonderer Reiz. Man wird dem Roman auch nicht gerecht, wenn man ihn ausschließlich für seine erotischen Passagen liest, dann würde man den gleichen Fehler begehen wie die Zensoren von Literatur vor 1959. Nur wenn man sich auf den Roman letztlich als Ganzes einlässt, erhält man einen Eindruck von D. H. Lawrence als einem der wichtigsten Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts, der uns auch heute besonders in unserem Verhältnis zur nicht-menschlichen Natur, vieles zu sagen hat.
MUSIK 8 M0025854 W03 „Drowning by Numbers“; ZEIT: 00:50
ZITATORIN
Und immer weiter rollten die Wogen ihres Seins fort von ihr, ließen sie zurück, bis jäh, in sanftem, schauerndem Erbeben, der Kern all ihres Plasmas getroffen wurde – sie sich getroffen wusste – und die Vollendung über sie kam und sie verging. Sie verging, sie war nicht mehr, sie wurde geboren…
MUSIK ENDE
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