Angst vor der Dunkelheit - Was die Finsternis unheimlich macht
Fast jedes Kind kennt sie: die Angst vor der Dunkelheit, ein kulturübergreifendes Phänomen. Ohne sich mithilfe des Sehsinns orientieren zu können, tauchen die Menschen in eine Sphäre der Unsicherheit, viele fühlen sich unheimlichen Phantasien preisgegeben. Warum ist das so? RadioWissen ist der Angst vor der Dunkelheit auf der Spur. (BR 2021) Autorin: Susanne Hofmann
Credits
Autorin dieser Folge: Susanne Hofmann
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Christian Baumann, Katja Amberger, Peter Lersch, Thomas Birnstiel, Chonstanze Fennel
Technik: Viktor Verres
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
Eva-Maria Fassot, Kinder- und Jugendpsychotherapeutin in der Hochschulambulanz der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.
Carina Breidenbach, Dozentin der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft an der LMU München – Promotion zu „Poetiken der Angst und Paranoia in Textens des 20. und 21. Jahrhunderts“.
Prof. Ulrich Bröckling, Professor für Kultursoziologie an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Musik: Bitter intrigues 0‘49
1. ZUSPIELUNG Kinder (kürzbar)
„Ich hab Angst, wenn es in meinem Zimmer knackst und ich bin allein im dunkeln Zimmer …
Da trägt mich Papa immer ins Bett und da lassen sie die Tür ein bisschen offen, weil es mir dann zu dunkel ist – und dann kommt ein bisschen Licht rein in dein Zimmer – weil ich denk immer, dass dann Geister kommen – ganz gruselig! – da will ich lieber immer wach bleiben“
Hanna: oder abends allein draußen, da hab ich schon mehr Angst, weil da können auch Füchse zum Beispiel
ERZÄHLER
Die Angst vor der Dunkelheit oder vor dem, was da im Dunkeln alles lauern könnte, ist eine Angst, die Kinder für gewöhnlich im Alter von drei bis vier Jahren entwickeln. Diese Angst steckt uns seit Millionen von Jahren quasi in den Knochen, sie ist ein Erbe der Evolution, erklärt Diplompsychologin Eva-Maria Fassot [französische Aussprache] von der Universität Freiburg.
2. ZUSPIELUNG Fassot 00:10
„Wenn man sich überlegt, wie unsere Vorfahren gelebt haben, dann ist es schon so, dass Angst vor Dunkelheit sicherlich einen Anpassungsvorteil früher mit sich gebracht hat. Es macht heutzutage bestimmt nicht mehr so viel Sinn. Aber wenn Sie jetzt sich heutzutage auf eine Safari begeben oder im Outback sind, ist es sicherlich immer noch empfehlenswert, wenn Sie vor Dunkelheit eher Angst haben. Also Angst vor Dunkelheit hat ursprünglich bestimmten evolutionären Vorteil gebracht.“
Musik: Z8023888135 Cold analysis 0‘28
ERZÄHLERIN
Unsere frühen Vorfahren waren Raubtieren, die in der Dunkelheit lauerten, weitgehend hilflos ausgeliefert. Nur wer ein gut funktionierendes inneres Alarmsystem besaß und auf Gefahren schnell durch Flucht oder Kampf reagierte, sicherte das Überleben seiner Gene. Ebenso lebensrettend konnten in der Frühzeit des Menschen andere Ängste wirken, die Furcht vor Schlangen zum Beispiel oder vor Spinnen.
ERZÄHLER
Auch diese Empfindungen sind nach Meinung einiger Wissenschaftler seitdem biologisch in uns angelegt, sie sind eine anthropologische Konstante und leben in vielen von uns bis heute fort – obwohl sie streng genommen in einer weitgehend ausgeleuchteten, schlangenfreien zivilisierten Welt keinen Nutzen mehr für uns haben, also eigentlich irrational sind. Reale Gefahren des modernen Lebens, wie den Straßenverkehr oder Ernährungsfehler, unterschätzen dagegen die meisten, weil sie sich davor nicht instinktiv fürchten.
Musik: Misjudgement 0‘39
ERZÄHLERIN
Die Angst vor der Dunkelheit hängt natürlich auch eng damit zusammen, wie wir Menschen uns in unserer Umwelt orientieren. Unsere Sinne sind für Aktivitäten bei Helligkeit optimiert – tagsüber können wir uns gut durch das Sehen orientieren. Sinne, die nachts von Vorteil sind, wie das Hören, Riechen und Tasten, sind beim Menschen im Vergleich zu vielen Tieren dagegen weniger ausgebildet. Und das hat Folgen, meint die Literaturwissenschaftlerin Carina Breidenbach von der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sie arbeitet an ihrer Dissertation zum Thema „Angst in der erzählenden Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts“ – dort nimmt die Angst vor der Dunkelheit einen breiten Raum ein.
3. ZUSPIELUNG Breidenbach 2.58
„Kurz gesagt, stellt uns die Dunkelheit vor ein epistemologisches Problem. Also ein Problem, was mit unserem Wissen oder mit unserer Erkenntnis der Welt zu tun hat. Als Menschen können wir nicht so besonders gut hören. Wir können nicht so gut riechen wie Hunde. Das heißt, wir orientieren uns in erster Linie eben mit unserem Sehsinn. Und beherrschen dadurch auch die Natur, können uns orientieren. Und wenn es dunkel ist und uns eben diese Fähigkeit genommen wird, sind wir erst mal hilflos, fühlen uns ausgeliefert.“
ERZÄHLER
Deshalb ist die Dunkelheit für uns Menschen eine Sphäre der Unsicherheit und des Kontrollverlusts. Zumindest ist dies die eine Seite der Dunkelheit. Dass die Dunkelheit andererseits auch anziehen und faszinieren kann, was sich gerade auch in der Literatur spiegelt – dazu später mehr.
Musik: Incorrectness 0‘25
ERZÄHLERIN
Vor allem der Dunkelheit außerhalb des Hauses zu begegnen, löst bei vielen Menschen zumindest Unbehagen aus. Insbesondere Frauen nehmen lieber Umwege entlang hell beleuchteter Straßen in Kauf, als durch finstere Unterführungen oder auf unbeleuchteten Wegen zu laufen – auch aus Angst vor Kriminalität.
4. ZUSPIELUNG Bröckling 1:44
„Was hier festzustellen ist, ist dass die Angst, an solchen Orten Opfer eines Verbrechens zu werden, überfallen zu werden, etwa sehr viel größer ist als die tatsächlich vorkommenden Straftaten an solchen Orten.“
ERZÄHLER
Beobachtet Ulrich Bröckling, Professor für Kultursoziologie an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg.
5. ZUSPIELUNG Bröckling 1:44
„Also Kriminalitäts-Furcht und das tatsächliche Kriminalitätsaufkommen weichen oft voneinander ab. Das zeigt auch, dass Furcht oder Angst oft eine Eigendynamik entwickeln.“
ERZÄHLERIN
So haben 2015 britische Wissenschaftler von der London School of Hygiene (Aussprache englisch) in einer großen Studie anhand von 62 Städten untersucht, welche Folgen es hat, wenn man das Licht in einzelnen Stadtvierteln oder Straßen nachts löscht. Das Ergebnis: Es wurden im Dunkeln nicht mehr Verbrechen verübt als bei mehr Helligkeit. Der Mitautor Dr. Phil Edwards (von der London School of Hygiene) plädierte daher dafür, künftig an der Straßenbeleuchtung zu sparen – immerhin würden dafür im Jahr rund 300 Millionen Pfund alleine in Großbritannien ausgegeben.
ZITATOR
„In einer Zeit, in der die Behörden Ausgabenkürzungen vornehmen müssen, zeigen unsere Ergebnisse, dass bei sorgsam abgeschätzten Risiken die Straßenbeleuchtung ohne Zunahme an Unfällen und Kriminalität reduziert werden kann."
Musik: Nebulous thoughts 0‘20
ZITATOR/ZITATORIN - Collage
Das bleibt im Dunkeln – schwarzer Peter – schwarze Magie – schwarze Kassen – das Dunkelfeld müssen wir erhellen – da sieht es zappenduster aus! – finstere Gestalten – dunkle Mächte – das Darknet – Dunkeldeutschland
ERZÄHLER
Im deutschen Sprachgebrauch schwingt bei der Dunkelheit und dem Dunklen im Allgemeinen etwas Negatives mit – oft steht es für Gefahr, Bedrohung, das Unheimliche. Redewendungen wie „im Dunkeln tappen“ oder „im Dunkeln bleiben“ verweisen auf die Dunkelheit als eine Sphäre der Unwissenheit, einen Raum, der sich der Erkenntnis entzieht.
Musik: Bright ideas 0‘16
ZITATOR/ZITATORIN - Collage
Da muss Licht ins Dunkel – endlich, ein Licht am Ende des Tunnels! – da ist mir ein Licht aufgegangen – das war die Erleuchtung – Licht am Horizont – das Glück erhellte ihr Gesicht – er ist ein helles Köpfchen
ERZÄHLERIN
Das Licht und das Helle dagegen sind im Deutschen meist positiv besetzt: Es steht für Aufklärung, für Erkenntnis und, im weiteren Sinne, für Wissen und Beherrschung der Natur, analysiert die Literaturwissenschaftlerin Carina Breidenbach von der Ludwig-Maxilimians Universität in München:
6. ZUSPIELUNG Breidenbach 20.00
„Das Gute und das Böse sind natürlich immer mit diesen Lichtmetaphern irgendwie verbunden. Also die Schattenseite der menschlichen Natur ist irgendwie das Irrationale, Unkontrollierbare Unbewusste. Dunkle Machenschaften haben meistens mit Gewalt und Bedrohung zu tun. Eine Lichtgestalt ist in der Regel was Gutes und Positives, während ein schwarzes Schaf auf dem negativen Ende des Spektrums angeordnet ist. Hell und dunkel als Metaphern für Gut und Böse und für Wissen und Unwissen, das findet man auch in unserer Alltagssprache überall und natürlich ganz besonders deutlich in dieser Epochenbezeichnung „Aufklärung“, also die Epoche, wo es eben zu dieser noch verstärkten Beherrschung der Natur durch die menschliche Ratio, durch die Wissenschaft kam. Da hat man diese Metapher des Lichts für das Wissen noch mal ganz deutlich.“
ERZÄHLER
Die Assoziation der Dunkelheit mit der Sünde, ja dem Bösen schlechthin auf der einen, und die Assoziation des Lichts mit dem Guten auf der anderen Seite finden sich schon in der Bibel, genauer in der Schöpfungsgeschichte.
Musik: In the shadows 0‘23
ZITATOR
„Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde, und die Erde war wüst und leer, und Finsternis lag auf der Tiefe, und der Geist Gottes schwebt über dem Wasser, und Gott sprach, es werde Licht, und es ward Licht.“
ERZÄHLERIN
Indem Gott spricht: „Es werde Licht“, kommt Licht in die Welt, die bis dahin aus Finsternis besteht. Im Johannes-Evangelium wird dann Jesus selbst mit dem Licht identifiziert, das die Dunkelheit erhellt.
Suspended transucent 0‘16
ZITATOR
„Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben.“
7. ZUSPIELUNG Breidenbach 18:00
„Also, man hat im Christentum schon ganz früh diese Assoziation von Licht und Gutem und Gott - und der Dunkelheit mit dem Bösen. Gerade im Mittelalter dann ist es natürlich besonders präsent. Also der Teufel hat ja zum Beispiel den Beinamen Fürst der Finsternis, und auch die ganzen Geschöpfe im Gefolge des Teufels, Hexen und so weiter, sind natürlich alle mit der Sphäre des Bösen und Teuflischen und des Dunklen irgendwie verbunden.“
ERZÄHLER
Sagt die Literaturwissenschaftlerin Carina Breidenbach. Sie sieht in der basalen menschlichen Angst vor der eigenen Hilflosigkeit im Dunkeln den Ursprung dieses hell-dunkel-Topos – der sich übrigens in vielen Schöpfungsgeschichten und Mythen wiederfindet.
8. ZUSPIELUNG Breidenbach 10:00
„Geschichten werden erzählt, um etwas zu vertreiben, im harmlosesten, aber nicht unwichtigsten Fall: die Zeit, sonst und schwerwiegender: die Furcht. Also eine Funktion von Geschichtenerzählen, von Mythen, von Literatur kann eben sein: diese unkontrollierbare Natur, unsere Erfahrungen damit irgendwie handhabbar zu machen.
ERZÄHLERIN
So sah es der Philosoph Hans Blumenberg, der sich in seiner „Arbeit am Mythos“ der Funktion und Wirkung von Mythen oder, allgemeiner, der Literatur widmete. Beides, die Dunkelheit wie die Angst davor haben keine klaren Konturen – gerade deshalb fordern sie den Menschen heraus. Carina Breidenbach:
9. ZUSPIELUNG Breidenbach 13:55
„Es gibt in der Existenzphilosophie eine wichtige Unterscheidung zwischen Angst und Furcht. … Angst ist unbestimmt… also man hat dieses unwohle Gefühl, weiß aber nicht, was bedroht mich da eigentlich? Es könnte irgendwie alles oder nichts sein, und die Furcht ist eben auf der anderen Seite angesiedelt. Die ist bestimmt, weil man da ein Objekt hat, was man identifizieren kann, zum Beispiel wildes Tier oder ein bedrohlicher Mensch. Und die Furcht ist eben einfacher zu bewältigen. Man kann den Gegner bekämpfen oder man kann weglaufen. Bei der Angst ist es eben nicht der Fall. Man kann sie eigentlich nicht auflösen. Man weiß nicht, … was steht mir da eigentlich gegenüber? Und die Dunkelheit ist natürlich gerade diese Sphäre der Unbestimmtheit und das Nichts, wo wir tatsächlich diese Angst irgendwie empfinden, man beschreibt Angst manchmal als frei flottierend, sie hat irgendwie kein Objekt, man weiß nicht so richtig, wann sie anfängt und aufhört, und das macht es eben gerade so unmöglich, irgendwie mit ihr umzugehen.“
Musik: Constant fear red 0‘33
ERZÄHLER
In den Augen des Philosophen Hans Blumenberg erzeugen Menschen vor allem deshalb Kultur, um ihre vage, existentielle Angst in den Griff zu bekommen. In Erzählungen bekommt das Unbenennbare, Abstrakte Furchterregende eine Gestalt, einen Namen. In dieser konkreten Form können die Leserinnen und Leser Ängste, so auch die Angst vor der Dunkelheit, dann bewältigen – eine wichtige Funktion der Literatur.
10. ZUSPIELUNG Breidenbach 08:56
„Ein Genre, was zum Beispiel diese Funktion sehr sichtbar erfüllt, ist natürlich das Märchen, der dunkle Wald im Märchen ist ja auch so ein Topos. Also Hänsel und Gretel gehen durch den dunklen Wald, Rotkäppchen trifft im Dunkeln bald auf den bösen Wolf. Und diese diffuse Angst, die wir als Menschen verspüren, in einer Umwelt, die wir halt nicht komplett kontrollieren können, die wird halt in so einer Märchenhandlung, in so einem sehr einfachen Narrativ, irgendwie greifbar und bearbeitbar und handhabbar und dadurch irgendwie auch ab-erzählbar.“
ERZÄHLERIN
Märchen hatten vor allem früher fast immer auch eine pädagogische Funktion. So funktionalisieren einige Märchen und Mythen die Angst vor dem Dunkeln auch, um Kinder zum richtigen Verhalten zu erziehen.
11. ZUSPIELUNG Breidenbach 23:00
„Es gibt im englischsprachigen Raum die Figur des sogenannten Bogeyman, im Deutschen haben wir den Butzemann, … oder auch den schwarzen Mann. Also das sind eben diese Gestalten, die eigentlich nur im Dunkeln rauskommen und Kinder, die sich nicht benehmen, irgendwie entführen oder auffressen. … also dieser Kinderschreck, mit dem man Kinder dazu bringt, nach der Dämmerung nicht mehr alleine draußen rumzulaufen.“
Musik: Sonate für Klavier 0‘30
ERZÄHLER
In der Epoche der Romantik tritt die Dunkelheit sozusagen ins literarische Rampenlicht. Ihr kommt nun eine besondere Bedeutung zu – auch als Gegenpol zur vorangegangenen Epoche der Aufklärung mit ihrer Betonung der Ratio. In der Nacht offenbarte sich den Romantikern die menschliche Natur mitsamt dem Unterbewusstsein.
12. ZUSPIELUNG Breidenbach 24:23
„Es gibt eine Unterströmung in der Romantik, die sich schwarze Romantik nennt, also Tieck, E.T.A. Hoffmann gehören dazu, die sich eben mit dieser Nachtseite der menschlichen Natur sehr stark auseinandersetzen, also das, was die Aufklärung eigentlich versucht hat, auszumerzen und auszuschließen, also das Triebhafte im Menschen, das Irrationale, das Unkontrollierbare, Wahnsinn, das Böse sind eben Themen, die eine große Faszination ausstrahlen in der schwarzen Romantik, und die Dunkelheit und so etwas wie unterirdische Bergwerke stehen da eben oft für das Unbewusste und das Irrationale im Menschen also, da hat man diese Nachtseite der menschlichen Natur.“
ERZÄHLERIN
Carina Breidenbach beobachtet, dass die Angst vor der Dunkelheit in der Literatur in dem Moment eine Hoch-Zeit erlebt, in dem die Menschen damals anfangen, die Nacht mit künstlichem Licht zu erhellen, die Wohnungen mit Kerzen- und Gaslicht beleuchten und in den Städten Straßenlaternen aufstellen. Als es also im wirklichen Leben allmählich heller wird, wird es in der Literatur dunkler: Ende des 18. Jahrhunderts entsteht das Genre der sogenannten Gothic Novel, des Schauerromans, der auch in Deutschland von Autoren wie E.T.A. Hoffmann mit seinen „Nachtstücken“ aufgegriffen wird. Darin verschwimmen die Grenzen zwischen dem Realistischen und dem Phantastischen.
Musik: Intermezzo (3) 0‘33
ERZÄHLER
Ein Meister der Schauerliteratur ist der US-amerikanische Autor Edgar Allan Poe – auch er zelebriert die Schrecken der Dunkelheit, zum Beispiel in der Kurzgeschichte „Die Grube und das Pendel“. Darin geht es um einen Gefangenen, der zum Tode verurteilt wird, in Ohnmacht fällt und in einem stockfinsteren Kerker erwacht.
ZITATOR 2
„Die hohen Kerzen versanken ins Nichts, ihre Flammen loschen aus. Schwarze Finsternis siegte. Alle Empfindungen ging unter in einem tollen, rasenden Sturz, als falle die Seele in den Hades. Dann war meine Welt nur Schweigen und Stille und Nacht. Ich hätte gern die Augen geöffnet, aber ich wagte es nicht. Ich fürchtete den ersten Blick auf meine Umgebung. Es war nicht Furcht, etwas Entsetzliches zu erblicken, sondern das Grauen nichts zu sehen. Endlich, mit wilder Verzweiflung im Herzen öffnete ich schnell die Augen. Meine schlimmsten Ahnungen bestätigten sich. Schwarze, ewige Nacht umgab mich.“
13. ZUSPIELUNG Breidenbach ca 7:00
„In dem Moment, wo wir die Dunkelheit beherrschen können, zu dem Ausmaß, dass sie uns nicht mehr wirklich bedroht im echten Leben, da wird sie Gegenstand der Literatur, die eben auch Lust erzeugen kann, wo wir eben Erfahrungen machen können, die wir im Alltagsleben nicht machen können, wo wir eben nicht gefährdet sind und dann immer in diesem geschützten Raum der Fiktion bleiben, und nach der Lektüre eines Schauerromans kann man natürlich das Licht einfach wieder anknipsen, wenn man Angst hat und genau da eben diese ja diese Möglichkeit, dieses angenehmen Schauers, dieses wohligen Gruselns möglich.“
ERZÄHLERIN
Nicht nur in der Literatur ist die Dunkelheit nicht immer eindeutig negativ besetzt. Vielmehr ist sie ein zutiefst ambivalentes Phänomen, beobachtet auch der Kultursoziologe Ulrich Bröckling von der Universität Freiburg.
14. ZUSPIELUNG Bröckling 11:20
„Dunkelheit hat auch ihren Reiz. Im Dunkeln kann man eben auch Dinge tun, ohne dass man dabei von anderen beobachtet wird … Die Dunkelheit übt eine große Faszination aus. Auch diese Seite sollten wir nicht vergessen. Und die Dunkelheit ist schließlich auch etwas, was Gelegenheiten schafft. Also im Dunkeln kann man dann vielleicht auch Dinge tun, bei denen man nicht nur nicht beobachtet werden möchte, sondern bei denen man vielleicht doch etwas tut, was nicht erlaubt oder was nicht den Werten entspricht, und manchmal … kommt uns die Dunkelheit auch zu Hilfe.“
Musik: Foreboding fate 0‘21
ERZÄHLER
Nicht nur Liebende und Verbrecher, sondern im Grunde jede und jeder von uns kann in die Dunkelheit eintauchen, eine ganz eigene Sphäre, in der die Regeln des helllichten Tages ihre Gültigkeit verlieren. Die Dunkelheit bildet so eine Art Schutzraum. Ulrich Bröckling:
15. ZUSPIELUNG Bröckling 2:41
„Die Dunkelheit ist etwas, was uns auch einen Rückzug ermöglicht. Nicht umsonst ist die Zeit, in der wir schlafen, häufig eben verbunden mit Dunkelheit. Und wenn es draußen noch hell ist, ziehen wir jedenfalls die Rollladen runter oder … verdunkeln den Raum, in dem wir uns bewegen, um uns zurückzuziehen können, um besser einschlafen, besser schlafen zu können. Also die Dunkelheit ist auch etwas, was mit Ruhe, mit Reizarmut verbunden ist, was uns von den vielen Eindrücken, die uns den ganzen Tag begleiten, temporär entlastet.“
ERZÄHLERIN
Heute, wo zumindest die Städte nachts fast taghell beleuchtet sind, taucht so etwas wie eine neue Sehnsucht nach der Dunkelheit auf. Man spricht von Lichtverschmutzung und sucht die „richtige“ Dunkelheit, die oft nur noch auf dem Land, abseits der Siedlungen zu finden ist. Carina Breidenbach:
16. ZUSPIELUNG Breidenbach 27.58
„Und es gibt solche Phänomene, wie zum Beispiel das Dark Dining, also … dass man ins Restaurant geht, wo es dunkel ist und dann im Dunkeln isst, wo man sich fragt, warum tut man sich sowas an? Aber da ist eben die Dunkelheit irgendwie ja so eine Sehnsuchtsraum, beim Dark Dining verbunden mit so einer Vorstellung von gesteigerter Sinneserfahrung. Wenn es dunkel ist und man nichts mehr sieht, dann kann man besser schmecken und besser riechen und besser hören.“
Musik: Where the darkness is 0‘34
ERZÄHLER
Obwohl der Mensch der Moderne die Dunkelheit aus seinem Leben weitgehend verbannt hat, es also immer weniger Gelegenheiten gibt, sich vor ihr zu fürchten – so wird die Dunkelheit für den Menschen vermutlich immer eines bleiben: Faszinosum und Projektionsraum für die Phantasie.
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