Die Jagd nach unbekannten Pflanzen und Tieren war ihre Leidenschaft. In Europa und Australien sammelte und konservierte die Naturforscherin Amalie Dietrich zahllose für die Wissenschaft neue Arten. Auf Verlangen ihres Auftraggebers sendete sie sogar Schädel und Skelette der australischen Eingeborenen nach Deutschland. Autorin: Claudia Heissenberg (BR 2022)
Credits
Autorin dieser Folge: Claudia Heissenberg
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Katja Amberger, Irina Wanka, Frank Manhold
Technik: Regina Staerke
Redaktion: Matthias Eggert
Im Interview:
Birgit Scheps-Bretschneider, Kustodin am Grassi-Museum in Leipzig;
Renate Hücking, Sachbuchautorin
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ATMO 1 + 2:
Federkiel auf Papier und Urwaldgeräusche
ZITATORIN:
Meine liebe Charitas (sprich: Caritas). Mit einem wahrhaft feierlichen Gefühl rüstete ich mich für meine erste Sammeltour im neuen Erdteil. Neu ist ja alles, und eine Fülle von Material wächst einem hier entgegen, dass man geradezu in Verlegenheit gerät, wo man zuerst zugreifen soll. Mir wird manchmal ganz Angst, wenn ich mich zwischen üppigen Schlingpflanzen, Farnen und Gesträuch hindurch arbeiten muss. Große Orchideen hängen an fast unsichtbaren Fäden von den Bäumen herunter, sie sind so wunderbar geformt, sie haben so schöne Farben und sehen mich so geheimnisvoll an, dass meine Hand sie nur mit einer gewissen Scheu pflückt, als seien es lebendige Wesen, die mir Vorwürfe machen, dass ich ihr ruhiges Dasein störe.
MUSIK : Z9318366102 Snake 1‘21
ERZÄHLERIN:
Auf der Suche nach lohnenswerten Neuentdeckungen durchstreifte Amalie Dietrich zu Fuß und unter großen Strapazen halb Europa und Australien, das damals noch Neuholland hieß. Mehr als 50 Tier- und Pflanzenarten tragen ihren Namen: Zum Beispiel die Alge Sargassum Amaliae, der Sonnentau Drosera dietrichiana oder die Wespe Odynerus Dietrichianus. Dabei hat Amalie Dietrich nie studiert und war in Botanik und Zoologie eine Autodidaktin. Und die einzige Frau, die Mitte des 19. Jahrhunderts als Naturforscherin zu Ruhm und Ehren kam – und nahezu in Vergessenheit geriet. Doch ihre unermüdliche Sammelleidenschaft hatte auch eine dunkle Seite.
O-TON 1: (Birgit Scheps-Bretschneider)
Die Amalie-Dietrich-Sammlung enthielt also auch ursprünglich acht Skelette und natürlich stellte sich auch da die Frage, wie ist sie dazu gekommen, warum war das so? Als Frau natürlich, das hat dann nochmal so einen besonderen Beigeschmack.
ERZÄHLERIN:
Dr. Birgit Scheps-Bretschneider betreut im Grassi Museum für Völkerkunde in Leipzig die Abteilung Ozeanien. Mit Amalie Dietrich beschäftigt sich die Kustodin seit 1978. Sie kennt ihre Sammlungen, ihre Reisen und alle Facetten ihres ungewöhnlichen Lebens.
Musik: Dream time 0‘54
Auch den kurzen Absatz, den der englische Anthropologe Henry Ling Roth in einem Buch über „Die Entdeckung und Besiedelung von Port Mackay, Queensland“ geschrieben hat.
ZITATOR:
„Das berühmte Hamburger Godeffroy Museum hatte in der Jahren 1863 bis 1873 eine Sammlerin an der Küste, die diverse vergebliche Versuche unternahm, einheimische Siedler zu überreden, einen Aborigine zu erschießen, damit sie das Skelett nach Hamburg schicken kann.“
ERZÄHLERIN:
Henry Ling Roth kam zwar erst fünf Jahre nach Amalie Dietrichs Abreise nach Australien und sein Buch erschien sogar fast vier Jahrzehnte nach den geschilderten Ereignissen, aber die Legende, dass die deutsche Naturforscherin über Leichen ging, war damit in der Welt.
O-TON 2:
Diese Geschichte ist einfach so grauselig, dass man sie also immer wieder auch gern kolportiert, aber auf der anderen Seite denke ich, wenn man historische Persönlichkeiten betrachtet, muss man immer auch ganzheitlich schauen, auf die Zeit und die Umstände, die die Menschen dazu gebracht haben, bestimmte Dinge zu tun, Dinge, die wir heute verurteilen und die wir nicht gutheißen, die aber unter Umständen in der Zeit üblich waren und auch nicht als schlimm empfunden wurden, und ich denke, wichtig ist auch immer, die Auftraggeber zu beschreiben. Die Menschen dazu gebracht haben, eben woanders Tote zu sammeln zum Beispiel.
Musik: Drei Fantasiestücke für Klavier
ERZÄHLERIN:
Es war der reiche Hamburger Reeder Johan Cesar Godeffroy, der Amalie Dietrich beauftragte, die Flora und Fauna im australischen Queensland zu erkunden und Exponate für sein Privatmuseum zu sammeln, das er mit Tieren, Pflanzen, Waffen und Gebrauchsgegenständen aus aller Welt bestücken wollte. Für die damals 42 Jahre alte Naturforscherin, die aus einfachen Verhältnissen stammt, geht damit ein Lebenstraum in Erfüllung. Sie beginnt direkt, eifrig Englisch zu lernen und nimmt Schießunterricht, um für die abenteuerliche Reise ans andere Ende der Welt gewappnet zu sein. Im Museum wird sie in Präparationstechniken unterwiesen.
ATMO 3: Ozean (Wellenschlag), Möwen
ERZÄHLERIN:
Am 17.Mai 1863 verlässt Amalie Dietrich als einzige Passagierin der ersten Klasse auf dem Segelschiff „La Rochelle“ den Hamburger Hafen. Im Gepäck hat sie Lupe, Mikroskop, 2 Kisten Gift, 100 Gläser mit Stöpseln, Insektennadeln, Spiritus und Seidenpapier, dazu ein englisches Wörterbuch sowie die wichtigsten Werke zur Pflanzenkunde. In den kommenden zehn Jahren sammelt sie mehr als 20.000 Pflanzenarten, außerdem Insekten, Vögel, Fische, Säugetiere – darunter zahllose für die Wissenschaft neue Arten. Auch das erste Exemplar der giftigen Taipan-Schlange findet sich in den Kisten, die sie nach Deutschland schickt. Es ist die größte Sammlung, die jemals eine Einzelperson zusammen trägt.
O-TON 3: (Renate Hücking)
Sie hat Massen an Flora und Fauna nach Hamburg gebracht. Ihre Sammlungen, die hier im Museum waren, waren Forschungsgegenstände und keiner, der was über die australische Flora und Fauna schreiben wollte, kam an diesen Sammlungen vorbei, aber man hat sich nie wissenschaftlich mit ihr als Forscherin, als Naturkundlerin auseinander gesetzt und das, denke ich, hat was damit zu tun, dass sie eben Frau war, und dass sie Autodidaktin war und dass man sie nicht ernst genommen hat als Wissenschaftlerin.
ERZÄHLERIN:
Im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen, die regelmäßig Berichte über ihre Forschungsreisen veröffentlichten, sei Amalie Dietrich immer eine reine Sammlerin geblieben, sagt Renate Hücking, die der Naturkundlerin in ihrem Buch „Pflanzenjäger“ ein Kapitel gewidmet hat. So lassen sich Fiktion und Fakten im Leben der Amalie Dietrich, die zwar Unmengen an Material, aber nichts Schriftliches hinterließ, nur schwer unterscheiden.
O-TON 4: (Hücking)
Sie wäre wirklich eine Fußnote in der Geschichte der Naturwissenschaft oder der Naturkunde geblieben, wenn nicht ihre Tochter ein unheimlich populäres Buch über sie geschrieben hätte: Amalie Dietrich - ein Leben, ist 1909 erschienen und es ist meiner Meinung nach eine sehr gelungene Mischung aus Dichtung und Wahrheit, also das ist alles mit Vorsicht zu genießen, es gibt ein paar Originalgeschichten, das sind Briefe, die ihr Auftraggeber an sie nach Australien geschickt hat, also sie war tatsächlich da, also das ist alles verbürgt, ....ansonsten ist die Quellenlage ziemlich dünn.
ATMO 1: (Feder auf Papier)
ZITATOR:
Hamburg, 3. Januar 1864. Frau Amalie Dietrich. Sie schrieben uns, dass Sie schon tüchtig sammeln, darüber freuen wir uns. Über das Sammeln der Schmetterlinge möchten wir bemerken, dass Sie dieselben in Tüten schicken können. Selbst die größten Nachtfalter, wenn Sie ihnen die Flügel zusammenklappen, können Sie ruhig in dieser Weise absenden.
MUSIK: Frühling red. 1‘12
ERZÄHLERIN:
Dass Amalie Dietrich eines Tages die Natur im fernen Australien erforschen würde, war ihr nicht in die Wiege gelegt. Geboren wird sie am 26. Mai 1821 als Concordia Amalie Nelle im sächsischen Städtchen Siebenlehn. Der Vater ist Beutler von Beruf. Er stellt, wie der Name schon sagt, Beutel her: Taschen, Geldbörsen, Bälle und andere Dinge aus Leder, die die Familie auf Märkten in der Umgebung verkauft. Die Schule besucht Amalie nur vier Jahre lang, lernt aber fleißig und liest wissbegierig alles, was sie in die Finger bekommt. Schon bald lästern die Leute, sie rede wie ein Buch. Und schütteln verständnislos den Kopf, als sie erfahren, dass die arme Handwerkertochter den Heiratsantrag eines reichen Mehlhändlers abgelehnt hat. Doch Amalie und ihre beste Freundin haben sich geschworen, dass sie „niemals heiraten, es sei denn, es käme einer, der hoch über ihnen stände.“ Diesen Mann trifft die 24-jährige an einem schönen Herbsttag im Wald, in dem sie mit der Mutter Pilze sammelt.
O-TON 5: (Hücking)
Wilhelm Dietrich, ein Naturkundler, der ihr einfach das Einmaleins der Botanik beigebracht hat, mit dem ist sie durch die Wälder gezogen, mit dem hat sie gelernt, Pflanzen zu unterscheiden, an welchen Merkmalen unterscheidet man Pflanzen, von dem hat sie gelernt, wie pflege ich das, was ich da abpflücke, wie presse ich das, und wie behandele ich es, dass es nicht schimmelig wird. Also von ihm hat sie ungeheuer viel gelernt
Musik: Organic fractures 0‘36
ERZÄHLERIN:
Amalie, die sich laut ihrer Tochter Charitas direkt in den Mann mit dem vornehmen Gesicht und den klugen blauen Augen verliebt, setzt gegen den Willen der Eltern die Hochzeit durch. Die Aussteuer verwendet das junge Ehepaar für die Einrichtung einer botanischen Werkstatt. Tagsüber streifen sie gemeinsam durch die Natur und sammeln Blumen, Gräser, Kräuter, Farne und Moose, die abends gepresst und zum Trocknen ausgelegt werden.
O-TON 6: (Scheps)
Sie hat sich auch relativ wenig um Konventionen geschert, also die Kleinstadtgesellschaft ist ja auch immer so auf permanenter Lauer und Beobachtung, man hört also auch heute noch, wenn man in Siebenlehn fragt, ja, die war dann verheiratet und wohnte im Forsthof, und man soll es nicht glauben, sie hat dann im Wäscheschrank nicht die Wäsche aufbewahrt, sondern dort lagen die Herbarien und die Tierpräparate drin.
ERZÄHLERIN:
Im Winter wird die Ausbeute geordnet und zu Herbarien zusammengestellt, die die Eheleute an Apotheker, Lehranstalten und Privatpersonen verkaufen. Der Verdienst reicht gerade für das Nötigste, denn die Geschäfte laufen schleppend. 1848 kommt Tochter Charitas zur Welt.
ZITATORIN:
Jedes Mal, wenn ich Charitas in fremde Hände geben muss, frage ich mich wieder und wieder: Was ist meine erste Pflicht? Soll ich meinem Mann die Gehilfin oder soll ich dem Kind die Mutter sein? Wilhelm sagt - und das sehe ich auch ein – wir müssen reisen, das hängt notwendig mit dem Beruf zusammen.
Musik: Morgentau 1‘03
ERZÄHLERIN:
Oft ist das Ehepaar mehrere Wochen unterwegs, um Material für die Herbarien zu sammeln. Die schweren Körbe muss Amalie schleppen, denn Wilhelm Dietrich fühlt sich dafür zu schwach. Als die junge Ehefrau durch Zufall erfährt, dass ihr Mann eine Affäre mit dem Dienstmädchen hat, bricht für sie eine Welt zusammen. Enttäuscht und zutiefst gekränkt besorgt sie sich einen Reisepass und flieht mit Charitas zu ihrem Bruder Karl nach Bukarest. Aber das Leben in der Großstadt, der Luxus und die strengen Regeln im Haus der eleganten Schwägerin gefallen Amalie nicht. Sie findet eine Anstellung bei einem Ehepaar in den Karpaten und ist froh wieder in der Natur zu sein. Regelmäßig schickt sie dem treulosen Gatten das gesammelte Material und kehrt nach einem Jahr wieder nach Siebenlehn zurück.
O-TON 7: (Hücking)
Und dann fingen die Jahre an, wo ihr Mann, ich sag mal träge geworden ist und lieber zuhause saß, der Herr Naturforscher, als dass er selber noch in der Natur forschte, und das waren die Jahre, wo sie dann alleine durch halb Europa gezogen ist
MUSIK: Chirping the forest und Föhnsturm 0‘42
ERZÄHLERIN:
Ihre einsamen Wanderungen führen Amalie Dietrich bis in die Alpen und an die holländische Nordseeküste, wo sie Algen und Seetang sammeln soll. Immerhin hat sie mittlerweile einen Hund an ihrer Seite. Hektor ist nicht nur ein treuer Begleiter, sondern hilft ihr auch, den Wagen mit den Pflanzen zu ziehen. Trotzdem zehren die langen Fußmärsche bei Wind und Wetter an ihrer Gesundheit. Ausgelaugt und an Typhus erkrankt wird Amalie am Strand von Den Haag ohnmächtig und muss vier Wochen lang das Bett hüten. Als sie schließlich wieder zuhause eintrifft, ist die Tür verschlossen und Wilhelm Dietrich verschwunden.
O-TON 8: (Hücking)
Nun war der Ehemann weg, sie allein erziehende Mutter ...und hat sich dann wohl zum ersten Mal in ihrem Leben eine Bahnfahrkarte gekauft und ist nach Hamburg gefahren ... und sie hatte einen Kontakt da und der hat sich die Sachen angeguckt und war begeistert von ihren Herbarien und hat gesagt, du ich kenn da jemand, der sich für Naturkunde interessiert
ERZÄHLERIN:
Johan Cesar Godeffroy, der Fürst der Südsee, wirft die ärmliche Frau aus Sachsen, die um eine Anstellung als Feldforscherin bittet, kurzerhand aus dem Büro. Aber Amalie Dietrich lässt nicht locker, und als sie mit zahlreichen Empfehlungsschreiben der namhaftesten Wissenschaftler ein zweites Mal bei ihm vorspricht, bekommt sie ihren Vertrag und hat zum ersten Mal ein festes Einkommen, mit dem sie die Ausbildung ihrer Tochter bezahlt. Dafür wird sie zehn Jahre lang in den Jahren 1863 bis 1873 die Nordostküste Australiens erforschen und Material für das Museum zusammentragen.
ATMO 1: Feder auf Papier
ZITATOR:
Hamburg, den 20.1.1865. Unser Museum zieht immer mehr Beachtung auf sich, und es ist der wissenschaftlichen Welt wohl bekannt, wie viel Amalie Dietrich zu dessen steter Ausdehnung beiträgt. Wir freuen uns, dass Sie nördlicher gehen wollen und möchten Sie nochmals bitten, nicht nur Skelette von dort vorkommenden großen Säugetieren, sondern auch möglichst Skelette und Schädel von den Eingeborenen sowie auch deren Waffen und Geräte zu senden. Diese Sachen sind sehr wichtig für die Völkerkunde.
MUSIK: Mundunkala the creator 0‘40
ERZÄHLERIN:
Im 19. Jahrhundert begann man in der Anthropologie die Evolution zu erforschen. Wissenschaftler stellten sich die Frage, wie sich der Mensch aus dem Tier entwickelt hat und warum die Menschen in verschiedenen Teilen der Welt so unterschiedlich sind. Einige vermuteten, dass die Ureinwohner von Australien der sogenannte missing link sein könnten, der den Übergang vom Affen zum Menschen darstellen soll. Dr. Birgit Scheps-Bretschneider vom Völkerkundemuseum Leipzig:
O-TON 9: (Scheps)
Und so wurden also die Gebeine von Menschen aus aller Welt zu sehr gefragten Forschungsobjekten, in Deutschland gab es in Berlin den berühmten Mediziner Rudolf Virchow, der also sehr extensiv menschliche Gebeine gesammelt hat an der Charité, um dann solche Vergleiche vornehmen zu können, er kannte den Reeder Johan Cesar Godeffroy, und er hat dann über viele Jahre gedrängt, auch Gebeine aus Australien haben zu wollen.
ERZÄHLERIN:
Es gab damals einen weltweiten, lukrativen Handel mit menschlichen Gebeinen. Wissenschaftler wie Virchow konnten vom Schreibtisch aus, Skelette von Afrikanern, Asiaten und Australiern bestellen und wurden prompt beliefert. Wie man an die menschlichen Gebeine gelangt war, interessierte im 19. Jahrhundert niemanden.
ATMO 4: Schreibmaschine
ZITATOR:
Angel of the black death
ERZÄHLERIN:
Titelte im November 1991 das Newsweek-Magazin “The Bulletin” mit einem Bild von Amalie Dietrich.
ZITATOR:
„Diese Frau stiftete im 19. Jahrhundert dazu an, Aborigines für wissenschaftliche Untersuchungen zu töten. Schockierende neue Beweise zeigen, sie war nicht die einzige.“
MUSIK: Kokopelli Dreaming 0‘36
ERZÄHLERIN:
War Amalie Dietrich wirklich der Todesengel der Aborigines? Eine kaltblütige, skrupellose Frau, die den Auftrag erteilte, Menschen zu töten? Birgit Scheps-Bretschneider ist der Geschichte nachgegangen und hat vor Ort in Australien nach Beweisen gesucht. Unter anderem in der Familienchronik der Familie Archer. Auf deren Farm soll die Naturforscherin, so das Gerücht, nach einem Auftragskiller gesucht haben.
O-TON 10:
In dieser Chronik findet sich also gar kein Hinweis darauf, dass Amalie Dietrich auf dieser Farm gewesen ist, also dort ist alles Mögliche geschildert, wie viele Schafe man geschoren hat, was in der Familie geschehen ist, also so ein Besuch wäre auch dort mit Sicherheit festgehalten worden, und die Gebeine, die sie nach Europa geschickt hat, sind ja auch erst einige Jahre später an einem ganz anderen Ort gesammelt worden.
ERZÄHLERIN:
Wie Amalie Dietrich in den Besitz der acht Aborigines-Skelette kam, wird sich wohl nie mehr klären lassen. Aber egal, ob sie die Gebeine der Toten in der Wildnis gefunden oder durch Tauschhandel erworben hat, ob sie dafür Gräber geplündert oder sogar Menschen hat töten lassen - die Geschichte wirft auch ein Licht auf den umstrittenen Sammeleifer und zweifelhafte Anschaffungspraktiken europäischer Naturkundemuseen. Die Gebeine, die Amalie Dietrich von Australien nach Hamburg schickte, gelangten 1885 nach Leipzig und fielen dort im 2. Weltkrieg einem Museumsbrand zum Opfer.
O-TON 11: (Scheps)
Ich arbeite ja auch sehr intensiv an der Rückführung menschlicher Gebeine in ihre Herkunftsgemeinschaften, zu ihren Familien, und ich weiß also auch, welche emotionalen Schmerzen es für die Menschen bedeutet bis heute, wenn Tote verschwunden sind und nicht bestattet werden können in dem Land, wo sie hingehören
MUSIK: Calm fluctuations 0‘50
ERZÄHLERIN:
Birgit Scheps-Bretschneider plädiert trotzdem dafür, Amalie Dietrich nicht zu dämonisieren, sondern anzuerkennen, was sie geleistet hat. Denn heute helfen ihre Sammlungen den australischen Ureinwohnern dabei, ihre Geschichte und Kultur zu rekonstruieren. Mehr als 40.000 Herbarienblätter der Pflanzenjägerin geben Wissenschaftlern Auskunft darüber, welche Gewächse an bestimmten Orten heimisch waren, bevor die Siedler den Regenwald für große Zuckerrohrplantagen und Ananasfelder abholzten.
O-TON 12:
Und man weiß ja, dass heute auch viel renaturiert wird, und das hilft dann auch dabei, wenn man sich entschließt in einem Nationalpark z.B. wieder Pflanzen dort auszubringen, die ursprünglich mal dort gewesen sind. Also das sind sehr, sehr interessante Projekte, die ohne Amalie Dietrichs Arbeit sozusagen in dieser Form überhaupt nicht machbar wären.
ATMO 2: Urwaldgeräusche
ZITATORIN:
Und doch all diese Sammlungen geben nur einen armseligen Begriff von dieser Märchenpracht. Es gehört eben eins zum anderen. Diese Pflanzenwelt ist belebt durch eine farben- und formenreiche Tierwelt. Wenn ich das herrliche Material einpacke, stelle ich mir immer vor, wie Herr Schmelz alles im Museum ausstellt. Schade, dass man den schönen Tieren und Pflanzen nicht etwas von ihrem Drum und Dran mitgeben kann. Losgelöst aus der märchenhaften Umgebung kann alles nicht so wirken, wie es sollte.
MUSIK: Talking to my father 1‘23
ERZÄHLERIN:
Nach zehn Jahren in der Fremde kehrt Amalie Dietrich 1873 nach Deutschland zurück und beginnt ihre Sammlungen zu ordnen. Sie ist 52 Jahre alt, ihr Gesicht von der Sonne gegerbt und faltig, umrahmt von dünnen, weißen Haaren. Sie bezieht im Museum ein Zimmerchen und besucht regelmäßig naturwissenschaftliche Vorlesungen an der Hamburger Universität. Als die Firma Godeffroy 1879 Konkurs anmeldet, wird das Museum verkauft, und Amalie Dietrich verbringt ihren Lebensabend im städtischen Altersheim. Sie stirbt im Alter von 69 Jahren an einer Lungenentzündung im Haus ihrer Tochter Charitas.
O-TON 13: (Scheps)
Sie hatte ja ein sehr schweres Leben, hat sich immer durchgekämpft durch die Widrigkeiten, die ihr natürlich auch die damals existierende Männergesellschaft gesetzt hat, und für Amalie Dietrich würde ich mir wünschen, dass man ihre wissenschaftliche Leistung würdigt und dass man sie vielleicht weniger benutzt, um Politik zu machen.
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