Pauperismus - Verelendung im vorindustriellen Deutschland
"Pauperismus" nannten Zeitgenossen die Massenarmut, die zwischen 1750 und 1850 in den deutschen Staaten um sich griff in Folge der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbrüche, die mit dem Beginn der Industrialisierung einhergingen. Autorin: Renate Eichmeier (BR 2019)
Credits
Autorin dieser Folge: Renate Eichmeier
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Irina Wanka, Friedrich Schloffer
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Karl Borromäus Murr (Dr.; Leiter d. Staatlichen Textil- u. Industriemuseums Augsburg)
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHER:
Zerlumpte Kinder, die betteln, niedrige Hütten aus Lehm und Baumzweigen, nass und feucht, ohne Kamin, voller Rauch und Dunst, eine magre Kuh, karge Felder … Gebe man einem der kleinen bettelnden Mädchen eine Silbermünze, dann sei dies mehr als sie in mehreren Wochen mit Flachsspinnen verdienen könne.
ERZÄHLERIN:
Anfang der 1840er Jahre beschrieb der junge Journalist Georg Weerth die Armut in der Senne, einer Heidelandschaft in der Region Ostwestfalen-Lippe. Die Menschen dort hatten über Generationen hauptsächlich vom Flachsspinnen und Leinenweben gelebt. Vom nahegelegenen Bielefeld aus, einem Zentrum des Leinenhandels, wurden ihre Produkte verkauft. Und nicht nur von dort gab es Berichte über die zunehmende Armut.
SPRECHER:
Aus allen Gauen Deutschlands gebe es seit einigen Jahren Klagen übersteigende Armut, Nahrungslosigkeit, Verarmung ganzer Bezirke und auch über die Unzulänglichkeit der Almosen, die gegeben werden, um das Leid zu lindern.
ERZÄHLERIN:
Schrieb ein anonymer Autor 1844 in einem Essay in der "Deutschen Vierteljahres Schrift" – und:
SPRECHER:
Das rasch um sich greifende Übel, der Pauperismus, sei nichts Vorübergehendes – etwa hervorgerufen durch ein Stocken des Handels oder eine Missernte, die Klagen würden seit Jahren immer häufiger und dringender, mit einem Wort: der Notstand wachse und wachse.
O1 Murr 36''
Pauperismus ist Massenarmut und zwar in einem Ausmaß, dass die Schere zwischen der wachsenden Bevölkerung und den zur Verfügung stehenden Ressourcen, also Arbeitsplätze, aber auch Nahrung - die Schere geht immer weiter auseinander, so dass plötzlich viel mehr Menschen der Armut verfallen, ans Existenzminimum gelangen, ja Hungertod sterben, Tausende. Das ist also wirklich dramatisch und das ist ein neues Phänomen, das in Deutschland so in den 1820er, 30er, 40er Jahren voll durchschlägt.
MUSIK
ERZÄHLERIN:
In vielen Gebieten Europas grassierten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer wieder Hungersnöte. Auch in Deutschland waren ganze Landstriche betroffen. Breite Bevölkerungsmassen verarmten, lebten am Existenzminimum, hungerten. Aufstände drohten. Wie konnte es dazu kommen?
O2 Murr 9''
Wirtschaftlich befinden wir uns in einer Übergangsphase. Der allererste Faktor ist nach wie vor die Agrargesellschaft, die Landwirtschaft. Die meisten Menschen wohnen nach wie vor auf dem Land.
ERZÄHLERIN:
Und die Menschen auf dem Lande wurden mehr – seit Mitte des 18. Jahrhunderts wuchs die Bevölkerung stark und kontinuierlich. Die Landwirtschaft konnte hier nicht mithalten, die Lebensmittel waren knapp, die Preise stiegen …
Die deutschen Länder, seit 1815 lose vereint im Deutschen Bund, suchten nach Abhilfe. Sie wollten die Landwirtschaft modernisieren, die Produktivität steigern. Dafür mussten die alten feudalen Strukturen, die noch aus dem Mittelalter stammten, überwunden werden. Das hatte allerdings schwerwiegende Folgen für die Bauern. Denn in jenen feudalen Strukturen standen sie in einem komplexen Abhängigkeitsverhältnis zu ihren Grundherren, hatten oft den Status von Leibeigenen ohne persönliche Freiheiten und mussten Frondienste und Abgaben leisten. Dafür bekamen sie allerdings im Gegenzug Hilfe von den Grundherren bei Ernteausfällen, Bränden, Schulden. Diese Strukturen sollten nun aufgebrochen werden. Die deutschen Staaten leiteten Reformen ein, die von der Geschichtsschreibung als "Bauernbefreiung" bezeichnet werden. Der Prozess zog sich über Jahrzehnte hin, lief regional unterschiedlich und ziemlich chaotisch ab. In der Regel bekamen jedenfalls die Bauern persönliche Freiheiten, durften Beruf, Aufenthaltsort, Ehepartner selbst wählen und wurden vom Frondienst befreit, teilweise bekamen sie auch die Höfe, die sie bewirtschafteten, als Eigentum übertragen. Soweit die Vorteile. Aber das Ganze war auch mit existenziellen Nöten verbunden: Denn die Bauern mussten ihre Grundherren entschädigen, sie verschuldeten sich und verloren nicht selten Haus und Hof. Sprich: Sie wurden zwar frei, aber arm. Sie hatten nichts mehr und mussten sich als Landarbeiter verdingen. Später analysierte der Historiker Friedrich Knapp die Zwiespältigkeit der sogenannten "Bauernbefreiung".
SPRECHER:
Das herrschaftliche Gut sei in eine neue Stufe seines Daseins getreten: die Bauern müssten nicht mehr geschützt werden, die Gutsherren, die durch die Entschädigungen bereits Land dazugewonnen hätten, könnten nun auch noch die unabhängig gewordenen Bauernhöfe aufkaufen und hätten zudem Landarbeiter zur Verfügung, die eben keine Landwirte mehr wären, sondern nur Arbeiter, die nicht dauerhaft blieben.
MUSIK
ERZÄHLERIN:
In ländlichen Gewerbegebieten wie Nordböhmen, Sachsen oder Schlesien versuchten viele Bauern, sich durch zusätzliche Heimarbeit den Lebensunterhalt zu sichern. Mit arbeitsintensiver Handarbeit am Spinnrad oder am Webstuhl produzierten sie zuhause Stoffe und Garne, die dann von sogenannten Verlegern überregional vertrieben wurden.
O3 Murr 22''
Früher war der Verleger sozusagen der Vorgänger des Unternehmers, der eine sogenannte Heimindustrie organisiert hat, dass meinetwegen Handweber oder Spinner, die Textilproduktion, das Textilgewerbe, dass die Aufträge bekommt. Der Verleger sorgt dann für den Verkauf der Waren und verdient auch am meisten, hat zugleich diese Heimindustrie unter seinem Gängelband.
ERZÄHLERIN:
Das Verlagssystem, das vor allem die Textilindustrie betraf, hielt die Bauern und Heimarbeiter in Armut - denn es waren nicht sie, die wirklich vom Verkauf der hergestellten Waren profitierten, sondern der Verleger. Verglichen mit England war die Heimarbeit in Deutschland ohnehin veraltet. Schon seit mehreren Jahrzehnten lief in England die Industrialisierung auf Hochtouren. Grundherrschaft war schon früh abgeschafft, eine Infrastruktur aufgebaut, freier Handel möglich gemacht worden. Der Einsatz von mechanischen Webstühlen und Spinnmaschinen war dort schon längst die Regel, während in Deutschland erst vereinzelt Manufakturen entstanden, in denen Teilprozesse mechanisiert waren, die meiste Arbeit aber noch mit der Hand gemacht werden musste. Zunächst durften die Engländer aber wegen der sogenannten Kontinentalsperre nicht auf das europäische Festland exportieren. So konnte die rückständige deutsche Heimindustrie mangels Konkurrenz erstmal gedeihen. Als aber 1815 die Kontinentalsperre aufgehoben wurde, fluteten die englischen Industrieprodukte den deutschen Markt. Die Heimindustrie stürzte in eine tiefe Krise. Und mit ihr die Heimarbeiter.
O4 Murr 28''
In Deutschland ging ja die Industrialisierung fast eine Generation später los im Vergleich zu England, d.h. es mussten Hand-Weber und Spinner konkurrieren mit Maschinen-Produkten aus England, das konnte nicht gutgehen. Gerade die wirklich krassen Beispiele der schlesischen Weber, die sich ja wiederholt erhoben hatten, die sind ein Zeugnis, dass hier Wettbewerbe einfach nicht mehr gegen die Industrie bestanden oder gewonnen werden konnten.
ERZÄHLERIN:
Mittellose Heimarbeiter, verarmte Bauern und Landarbeiter, Arbeitslose – die armen Massen auf dem Land: Auf der Suche nach Arbeit zogen sie in die Städte und landeten oft in den Armenvierteln. Zwar waren die Zünfte mit ihren strikten Arbeitsregelungen in Auflösung begriffen, vielerorts wurde Gewerbefreiheit eingeführt, so dass prinzipiell ein Job als Handwerker möglich war. Doch der Markt war überschwemmt mit Arbeitssuchenden. Miserabel bezahlte Jobs, Arbeitslosigkeit, Krankheit, Alkoholismus, Kriminalität, Bettelei waren die Folge.
O5 Murr 14'' Kürzungsmöglichkeit
Oft haben sich die Handwerkerzahlen verdoppelt in diesen Jahren. Und so viel Nachfrage gab es gar nicht. Die Konzessionierungen mussten eingeschränkt werden. Es waren einfach viel zu viele Menschen für viel zu wenig Arbeit vorhanden.
MUSIK
SPRECHER:
Kinder, halbnackt, die in der Hütte kauern, ein kranker Großvater auf einem Strohlager. Sein Sohn, der Bauer, kann seine Familie nicht mehr ernähren. Eine Missernte habe es gegeben, so der Bauer, er habe keine Vorräte mehr. Der Leinen-Handel liege darnieder. England betreibe ihn mit großem Erfolg. Das Garnspinnen bringe nicht mehr genug Geld zum Überleben.
ERZÄHLERIN:
Wie viele der zeitgenössischen Journalisten thematisierte auch der Journalist Georg Weerth die Gründe für die Massenverarmung in seinem Artikel über die Senne, der ostwestfälischen Heidelandschaft nahe Bielefeld. Und er stellte in seinem Artikel dem Bauern die Frage, die viele seiner Zeitgenossen beschäftigte und die implizit den Armen die Schuld für ihre Misere gab.
SPRECHER:
Warum, zum Teufel, habe er auch so viele Kinder?
ERZÄHLERIN:
Zwischen 1816 und 1864 stieg die Einwohnerzahl im Deutschen Bund um über 50 Prozent: von 30 Millionen auf 46 Millionen. Über die Ursachen gibt es bis heute in der Wissenschaft Debatten. Diskutiert werden: bessere medizinische Versorgung, geringere Säuglingssterblichkeit, ausbleibende Seuchen wie Pest oder Cholera, Verbesserungen in der Landwirtschaft, dadurch insgesamt bessere Versorgung mit Lebensmitteln. In Sachsen verdoppelte sich die Bevölkerung, in Preußen wuchs sie um über 80 Prozent, im süddeutschen Raum um etwa ein Drittel. In der Öffentlichkeit machte sich die Angst vor einer Überbevölkerung breit und die Angst, die Menschen nicht mehr ernähren zu können. Auch wenn sich die Landwirtschaft zwischen 1750 und 1850 entscheidend verbessert hat.
O6 Murr 16''
Die Produktivität konnte gesteigert werden: von der berühmten Dreifelderwirtschaft, wo ja immer ein Drittel brachlag, wurde eine intensivere Bewirtschaftung aller Flächen mit eben Fruchtfolgenwechsel eingeleitet. Dadurch konnten viel mehr Leute ernährt werden.
Erzählerin:
Aber dann war ein Sättigungsgrad erreicht.
O7 Murr 5''
Ab den ja 1810er, 20er Jahren. Das konnte nicht weiterwachsen. Die Bevölkerung wuchs aber weiter.
ERZÄHLERIN:
Bereits Ende des 18. Jahrhunderts hatte der Engländer Thomas Robert Malthus Furore gemacht mit seinem "Essay on the Principle of Population". Darin stellt er die These auf:
SPRECHER:
Die Lebensmittelproduktion wachse linear, die Bevölkerung aber vermehre sich exponentiell, Lebensmittelproduktion und -nachfrage klafften also immer weiter auseinander, Hunger und Armut seien die Folge.
ERZÄHLERIN:
Robert Malthus wurde auch in Deutschland intensiv rezipiert. Hatte man früher Hungersnöte als gottgegeben hingenommen, entbrannte nun eine öffentliche Diskussion um das nicht zu übersehende Phänomen der massenhaften Verarmung, wofür sich den 1820er Jahren der Begriff "Pauperismus" durchsetzte: übernommen aus dem Englischen, abgeleitet vom Lateinischen "pauper", arm.
O8 Murr 37''
Der Pauperismus ist nicht nur ein Phänomen auf der sozialen-wirtschaftlichen Ebene, sondern ein Phänomen auch einer neuen Wahrnehmung der Not und auch eine Wahrnehmung der menschgemachten Not. Früher war es Schicksal, heute war es sozusagen vom Menschen gemacht. Und es gibt ganz viele Quellen eigentlich von Schriftstellern, von staatlichen Beamten, die sozusagen in die Landschaft gehen und Beobachtungen anstellen. Und alle versuchen natürlich die Not sich zu erklären, weil es war in dieser Massierung ein neues Phänomen.
ERZÄHLERIN:
Die Massenarmut beunruhigte die staatlichen Obrigkeiten und das aufstrebende Bürgertum gleichermaßen.
SPRECHER:
Die Reichen hätten Angst und wollten sich um jeden Preis gegen die Gefahren sichern, die sie von dem wachsenden Elend der Armen befürchteten.
ERZÄHLERIN:
Schrieb zu jener Zeit der Historiker Friedrich Bülau.
SPRECHER:
Wenn die Reichen es den Armen erleichtern würden, durch eigene Anstrengung zu mehr Wohlfahrt zu kommen, sei allen geholfen. Die Reichen aber handelten nur auf Kosten der Armen, glaubten, sich durch Verbote vor der Gefahr schützen zu können, die von den Armen ausgeht, verstärkten aber im Grunde genommen die Gefahr dadurch.
ERZÄHLERIN:
Die Angst vor Aufständen war groß, vor einem Heer der Armen, das außer Kontrolle gerät. Schließlich hatte die Französische Revolution 1789 hatte das feudalistische Europa in seinen Grundfesten erschüttert, aller Welt die Macht der Massen vor Augen geführt, ein über Jahrhunderte bestehendes monarchisches Herrschaftssystem hinweggefegt. Die sogenannte Pauperismus-Literatur entstand: Essays, Aufsätze, Stellungnahmen, Analysen, Polemiken. Kritische Stimmen führten wirtschaftlich-strukturelle Gründe an: die Konkurrenz durch die englischen Industrieprodukte, die chaotisch ablaufende Bauernbefreiung, zu hohe Steuern, die von den Armen verlangt würden … Journalisten wie Georg Weerth oder Wilhelm Wolff, die beide Karl Marx, Friedrich Engels und der aufkommenden kommunistischen Bewegung nahestanden, ergriffen die Partei der Armen.
Auf konservativ-bürgerlicher Seite dominierten dagegen Furcht vor Unruhen und Schuldzuweisungen an die Armen: zu viele Kinder, mangelnde Selbstdisziplin, mangelnder Arbeitswille …Und:
O9 Murr 19''
Es gab Stimmen, auch Jeremias Gotthelf zum Beispiel, der Schriftsteller, die alle sozusagen fast apokalyptisch wurden, vor einem Ausbrechen, vor einem Politisch-Werden, vor einem Massenprotest und gewaltsamen Umsturz dieser verelenden Proletarier warnten.
MUSIK
ERZÄHLERIN:
Die Armen selbst hatten keine Stimme, die gehört wurde. Sie mußten versuchen zu überleben. Kamen dann noch Naturkatastrophen hinzu, spitzte sich ihre Situation lebensbedrohlich zu. 1815 brach in Indonesien der Vulkan Tambora aus. Die Ernte in Europa fiel fast komplett aus. Es folgten katastrophale Hungersnöte.
1816/17 waren allein in Köln 18 bis 19 Tausend Menschen auf öffentliche Unterstützung angewiesen. Das war ein Drittel der Einwohner. Doch auch in Jahren ohne außergewöhnliche Krisen brauchten 10 bis 20 Prozent der Bevölkerung Hilfe – nicht nur in Köln, auch in anderen großen Städten wie Hamburg, Barmen, Elberfeld. 1830 soll jeder vierte Berliner Unterstützung bekommen haben. Auf dem Land in Preußen waren Schätzungen zufolge etwa 50 Prozent der Menschen eigentumslos, also auf Lohnarbeit angewiesen, auf Erwerbsmöglichkeiten, die oft fehlten.
MUSIK
ERZÄHLERIN:
In den 1840er Jahren erreichte die Krise ihren Höhepunkt. Missernten und Kartoffelfäule führten zu einer dramatischen Verknappung und explosionsartigen Verteuerung der Grundnahrungsmittel. Zeitweise konnten sich die meisten nicht einmal mehr Kartoffeln leisten.
O11 Murr 27''
Es gibt ganz viele Regionen in Deutschland, die betroffen waren, stark der deutsche Südwesten, aber auch Westdeutschland, Hessen, der Nordwesten, Bielefeld, diese Region war sehr stark betroffen. Schlesien, berühmt ist ja der schlesische Weber-Aufstand 1844. Und auch das Erzgebirge, das heißt: es war schon flächig sehr verteilt und gleichermaßen in Städten und auf dem Land.
ERZÄHLERIN:
Die Kommunen, die zuständig waren für die Armenversorgung, waren überfordert, Unruhen und Tumulte die Folge: In Berlin kam es zu der sogenannten "Kartoffel-Revolution", in Bayern zu "Bierkrawallen" … Oft begannen die Proteste auf den Märkten, wo den Händlern Waren weggenommen wurden. Dutzende, oft Hunderte schlossen sich zusammen, bewaffneten sich mit Knüppeln, plünderten Läden und Getreidespeicher, blockierten den Abtransport von zum Export bestimmten Gütern, zogen übers Land, requirierten gewaltsam Nahrungsmittel. Allein 1847 gab es etwa 200 solcher Aufstände in den Ländern des Deutschen Bundes, mehr als die Hälfte davon in Preußen. Es waren Ausbrüche ohne politische Zielsetzung, auch ohne eine überregionale Vernetzung.
Die Regierungen reagierten teils mit Einsatz von Polizei und Militär, teils boten sie Hilfen an: Geld für Kredite, Saatkartoffeln, Getreide aus Militärmagazinen … Aber nachhaltige Konzepte für den Umgang mit den Hungerkrisen und der zunehmenden Massenverelendung fehlten. Die Länder des Deutschen Bundes griffen in erster Linie zu Verboten wie Bettlerverordnungen und Eherechtsbeschränkungen, um die Armen unter Kontrolle zu halten.
O12 Murr 51''
Wichtig ist zu wissen, dass Armut lange Zeit kein Gegenstandsbereich staatlicher Fürsorge gewesen ist, sondern dass für die Armen die jeweilige Gemeinde, die Kommune aufzukommen hatte. Das heißt, wenn jetzt die Armut steigt, wenn der Hunger wächst, dann werden die Kommunen viel restriktiver. Es wurde peinlichst darauf geachtet, dass nicht zu viele, die eben sich nicht selbst ernähren können, heiraten dürfen.
ERZÄHLERIN:
Preußen war das einzige Land des Deutschen Bundes, in dem es volle Freiheit der Eheschließung gab, obwohl auch in Berlin die Situation in den Armenvierteln katastrophal war: drängende Enge in den Wohnungen, mangelnde Hygiene, Krankheiten … Suppenküchen wurden gegründet, Wärmestuben, Sparvereine, Brotvereine: Das waren aber nur Tropfen auf den heißen Stein. Viele kehrten Deutschland den Rücken. 1844 schrieb ein Journalist:
SPRECHER:
Die Leute würden sagen, dass es ihnen gleichgültig sei, wo sie den Hungertod sterben, hier in Deutschland oder in Nord- und Südamerika.
O13 Murr 22''
Wenn man im Bereich der Antworten auf diesen Pauperismus noch mal weiter denkt, dann muss man eben auch an Massenauswanderung denken, die auch eine Rolle gespielt hat. Und das steigt bis Mitte des 19. Jahrhunderts bis auf fast eine halbe Million Menschen, die vor allem in die USA auswandern. Und das entspannt die Situation.
MUSIK
ERZÄHLERIN:
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbesserte sich die Situation der Menschen. 1834 hatten die Staaten des Deutschen Bundes den Zollverein gegründet. Zollschranken wurden abgebaut. Die wirtschaftliche Zusammenarbeit wurde forciert, ein gemeinsames Verkehrssystem ausgebaut: ein Netz von Straßen, Wasserstraßen und vor allem von Eisenbahnlinien, jenem neuen Transportmittel, das neue Produktionsstandorte und Märkte erschloss und Massentransporte zu moderaten Preisen möglich machte. Ab den 1870er Jahren lief die Industrialisierung in Deutschland auf Hochtouren. Fabriken wurden gebaut. Industriezentren entwickelten sich. Arbeitsplätze entstanden.
Die heterogene Gruppe der frühindustriellen Armen verschwand. Das Industrieproletariat trat auf die gesellschaftliche Bühne, die Massen der Arbeiter und Arbeiterinnen, die unter rechtlich nicht geregelten Bedingungen in den Fabriken malochten. Sie wurden als einheitliche Gruppe wahrgenommen: als Arbeiterklasse, die sich zu einer politischen Bewegung formierte und zu einem neuen Machtfaktor in der internationalen Politik wurde.
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