Die Lyrikerin Marie Luise Kaschnitz - Auf der Suche nach dem Ich
Marie Luise Kaschnitz ist eine der bedeutendsten Dichterinnen der Nachkriegsjahre. Sie beschreibt die Trümmer des Zweiten Weltkrieges, beschäftigt sich immer wieder mit dem eigenen Ich, ist eng befreundet mit Ingeborg Bachmann und Theodor W. Adorno. Als sie 1974 stirbt, hinterlässt sie ein vielschichtiges Werk. Doch heute scheint sie fast vergessen. Autorin: Juliane Ziegler (BR 2022)
Credits
Autorin dieser Folge: Juliane Ziegler
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Stefan Wilkening, Katja Bürkle
Technik: Regina Staerke
Redaktion: Andrea Bräu
Im Interview:
Brigitte Raitz, Germanistin und Kuratorin zweier Ausstellungen über Marie Luise Kaschnitz
Literaturhinweise:
Kaschnitz, Marie Luise: Gesammelte Werke in 7 Bänden. Hrsg.: Christian Büttrich. Frankfurt am Main: Insel-Verlag, 1981-1989.
Kaschnitz, Marie Luise: Das dicke Kind und andere Erzählungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002.
Kaschnitz, Marie Luise: Liebe beginnt. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1984.
Kaschnitz, Marie Luise: Das dicke Kind. Prosa, Gedichte und Gespräche. Ausgewählt von Christian Büttrich. der Hörverlag, 2001. (CD)
Raitz, Brigitte: „Ein Wörterbuch anlegen". Marie Luise Kaschnitz zum 100. Geburtstag. Marbacher Magazin 95/2001: Marbach am Neckar, 2001.
von Gersdorff, Dagmar: Marie Luise Kaschnitz. Eine Biographie. Frankfurt am Main und Leipzig: Suhrkamp, 1992.
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ZITATORIN: KASCHNITZ/DAS DICKE KIND
Wie es dasaß in seinem haarigen Lodenmantel, glich es einer fetten Raupe, und wie eine Raupe hatte es auch gegessen, und wie eine Raupe witterte es jetzt wieder herum. Jetzt bekommst du nichts mehr, dachte ich, von einer sonderbaren Rachsucht erfüllt. Aber dann ging ich doch hinaus und holte Brot und Wurst, und das Kind starrte darauf mit seinem dumpfen Gesicht, und dann fing es an zu essen, wie eine Raupe frisst, langsam und stetig, wie aus einem inneren Zwang heraus, und ich betrachtete es feindlich und stumm.
SPRECHER
Dann geht das träge Raupen-Mädchen hinaus, zum zugefrorenen See, wo die ältere Schwester Pirouetten dreht. Anmutig und schön. Das dicke Kind jedoch bricht im Eis ein. Alles beobachtet von der Erzählerin - auf sie übt das Kind eine seltsame Anziehung aus.
Dieser Text von 1952 gilt als eine der bekanntesten Kurzgeschichten von Marie Luise Kaschnitz. Die Ludwigsburger Germanistin Brigitte Raitz sagt:
O-TON (1) RAITZ
Das Besondere ist - dass Kaschnitz praktisch sich selbst als Kind und auch ihre damalige große Eifersucht auf die ältere Schwester Lonja thematisiert. Also es ist so’ne Verwandlung, also am Übergang vom Kind zum Jugendlichen. Und das hat sie öfters thematisiert.
O-TON (2)
Interview: Marie Luise Kaschnitz mit Horst Bienek, 1961, Hessischer Rundfunk
Ja, das dicke Kind bin ich selbst. Die Schwester ist meine Schwester Lonja, der See ist der Jungfernsee bei Potsdam. Wir haben dort in der Nähe gewohnt. Wir sind viel Schlittschuh gelaufen und ich bin auch einmal eingebrochen, aber - wie das dicke Kind - nur einen Meter tief. Ich war auch ein braves, schläfriges, viel essendes Kind, aber eben eines mit vielen Ängsten und eines, das bei jeder Gelegenheit zu heulen anfing.
SPRECHER
… erklärt Marie Luise Kaschnitz in einem Interview mit dem Hessischen Rundfunk 1961. In vielen ihrer Texte verarbeitet sie selbst Erlebtes, die teils auch bitteren Erfahrungen aus der Kindheit. Immer wieder beschäftigt sich mit ihrem früheren Ich. Sie, die Schriftstellerin, sagt, sie könne gar nichts neu erfinden, sie sei eine ewige Autobiografin.
Geboren wird Marie Luise Freiin von Holzing-Berstett am 31. Januar 1901 in Karlsruhe. Als sie ein Jahr alt ist, ziehen sie - die Eltern entstammen beide adeligen Familien - nach Potsdam, später nach Berlin, wo der Vater Flügeladjutant unter Wilhelm II. wird. Nach zwei Mädchen hatte die Mutter bei der Geburt von Marie Luise auf einen Jungen gehofft. Sie verbirgt ihre Enttäuschung nicht. Erst drei Jahre später kommt der ersehnte Sohn auf die Welt.
O-TON (3) RAITZ
Es war eine große Distanz zwischen den Kindern und den Eltern und sie hat darunter doch sehr gelitten und hat vor allem die Zuwendung der Mutter vermisst.
SPRECHER
… sagt Brigitte Raitz. Die Germanistin hat zwei Ausstellungen über Marie Luise Kaschnitz kuratiert.
O-TON (4) RAITZ
Sie hat aber auf die Dauer gesehen viel profitiert von diesem Elternhaus, denn beide Eltern waren musisch sehr interessiert. Die Mutter war sogar ausgebildete Sängerin und hat offensichtlich hervorragend Klavier gespielt, hat auch den Kindern ein Puppentheater eingerichtet und ist mit den Kindern ganz früh in Berlin in Konzerte, in Theateraufführungen, in die Oper gegangen.
SPRECHER
Marie Luise und ihre Geschwister wachsen behütet, streng erzogen und großbürgerlich auf. Gespielt wird mit der Tochter des Kaisers.
Bis 1917 bleiben die Holzing-Berstetts in Berlin. Dann ziehen sie nach Bollschweil bei Freiburg. Dorthin wird Marie Luise Kaschnitz ihr gesamtes Leben über zurückkehren, der Ort wird immer wieder in ihrer Arbeit auftauchen. 1922 beginnt sie eine Lehre als Buchhändlerin in Weimar. Ihr Interesse an Kultur ist groß. Es zieht sie aber eher zum Bauhaus als ins Goethehaus, lieber Szene als Hochkultur.
1924 geht Marie Luise für ihre erste Stelle nach München. Hier lernt sie Guido (Aussprache: Gu-ido) Kaschnitz von Weinberg kennen, einen Archäologen aus Wien. Kurz darauf treffen sie sich in Rom wieder - sie arbeitet in einem Antiquariat, er am Deutschen Archäologischen Institut. Sie heiraten bald und bleiben in Rom. Von da an trägt Marie Luise die einst hüftlangen dunklen Haare kurz, Guido gefällt es so besser. Auf Fotografien blickt sie freundlich und interessiert, aber meist ernst in die Kamera. Die Augen groß, die Brauen markant. Später trägt sie oft Perlen um den Hals.
1928 kommt Tochter Iris Costanza (italienische Schreibweise, ohne vorderes „n“) auf die Welt. Für ihr Kind schreibt sie eines ihrer bekanntesten Gedichte, Am Strande:
ZITATORIN
Heute sah ich wieder dich am Strand
Schaum der Wellen dir zu Füßen trieb
Mit dem Finger grubst du in den Sand
Zeichen ein, von denen keines blieb.
Ganz versunken warst du in dein Spiel
Mit der ewigen Vergänglichkeit
Welle kam und Stern und Kreis zerfiel
Welle ging und du warst neu bereit.
Lachend hast du dich zu mir gewandt
Ahntest nicht den Schmerz, den ich erfuhr
Denn die schönste Welle zog zum Strand
Und sie löschte deiner Füße Spur.
SPRECHER
Schon als Jugendliche schreibt Kaschnitz kurze Texte, von nun an veröffentlicht sie Prosa und Gedichte, arbeitet an Romanen - aus der jungen Buchhändlerin wird eine Autorin. Rückblickend wird Marie Luise Kaschnitz diese Zeit in Rom als das Glück schlechthin bezeichnen. Das zeigt sich auch in ihrer Arbeit: Die Ewige Stadt und Italien sind immer wieder Gegenstand ihrer Texte. Einen weiteren Schwerpunkt legt sie auf menschliche Beziehungen und persönliche Konflikte - etwa schwierige Verhältnisse unter Geschwistern, Verrat oder Schuld.
Die Natur und die Antike sind weitere Motive in ihren Erzählungen und Gedichten zu jener Zeit. Angeregt durch das Umfeld in Italien und den Beruf ihres Mannes interessiert sich Kaschnitz jetzt sehr für griechische und römische Mythologie. Sie geht mit Guido auf viele Studienreisen: nach Griechenland, Sizilien, Nordafrika. Doch die Rollen zwischen ihnen sind klar verteilt:
O-TON (5) Kaschnitz/Interview Bienek, 1961
Ich musste dafür sorgen, dass mein Mann möglichst gut arbeiten konnte und dass er und unser Kind möglichst glücklich waren. Trotzdem habe ich auch damals immer gearbeitet und meine eigene Gedanken- und Ideenwelt gehabt. Ich glaube, dass mein Mann eher froh darüber war. Eine Frau, die am Diwan sitzt und auf den Mann wartet, hätte ihn verrückt gemacht.
SPRECHER
Die Priorität liegt auf Familie und Haushalt, geschrieben wird nebenbei:
O-TON (6) RAITZ
Das hätte sie eher als ein Laster betrachtet und als völlig unwichtig, und sie hat auch viel, schreibt sie, heimlich geschrieben. Und wenn sie unterwegs war, ist sie ins Café und hat dort geschrieben, oder auf Zugreisen auf den Knien - also sie hat es sehr heruntergespielt.
SPRECHER
… so Brigitte Raitz.
Die Ehe mit Guido bezeichnet Marie Luise Kaschnitz als harmonisch, liebevoll, eng. So eng, dass sie später von großen Schuldgefühlen ihrem Kind gegenüber berichtet, Tochter Iris sei als Dritte im Bunde zu kurz gekommen.
Doch: Die große Leidenschaft Guidos für seinen Beruf, sein Ehrgeiz und Arbeitspensum führen zeitweise auch zu Missstimmung. Marie Luise kämpft mit Unsicherheiten.
O-TON (7) RAITZ
An ihn kann sie nicht heranreichen, an ihn, an seine Intelligenz, an sein Wissen, an seine Fähigkeiten auf wissenschaftlichem Gebiet.
SPRECHER
Kaschnitz arbeitet an einem Roman: Liebe beginnt erscheint 1933. Im Fokus steht ein junges Paar, das eine Reise nach Süditalien unternimmt. Die Parallelen zu den Eheleuten Kaschnitz sind klar zu erkennen. Feste Rollenmuster, Unterlegenheitsgefühle, Neid und letztlich der Umgang damit innerhalb ihrer Beziehung - das sind die Themen des Buchs. In der Öffentlichkeit wird der Roman jedoch kaum beachtet.
Anfang der Dreißiger Jahre geht die Familie nach Deutschland, lebt in Bollschweil, Königsberg, Marburg. Durch die Arbeit als Archäologe gibt Guido stets den jeweiligen Wohnort vor, Marie Luise und Tochter Iris ziehen mit. Ihr Mann ist es aber auch, der sie immer wieder zum Schreiben animiert, an ihr Talent glaubt, erklärt Kaschnitz-Expertin Raitz:
O-TON (8) RAITZ
Dass sie überhaupt geschrieben hat und so weit gekommen ist, das hatte er eigentlich in Gang gesetzt, er hat sie sehr bestärkt und hat sie immer unterstützt, dass sie, wenn sie enttäuscht war oder so, dass sie net die Flügel hängen lässt.
SPRECHER
Doch Motivation und Bestätigung kommen dann auch von außen: 1934 gewinnt Marie Luise Kaschnitz einen Lyrik-Wettbewerb der renommierten Zeitschrift Die Dame. Vom Preisgeld kauft sie sich ihr erstes eigenes Auto, einen Opel.
Anfang der Vierziger Jahre arbeitet Kaschnitz an einer Biographie des Malers Gustave Courbet und bezeichnet dieses Buch als einen Übergang zu einer neuen Epoche. Motive aus Natur und Antike verschwinden aus ihren Texten, sie beschäftigt sich jetzt stärker mit der Gegenwart.
Die Gegenwart: das Dritte Reich und der Zweite Weltkrieg. Das gesellschaftliche Klima und die Bedrohung, die von den Nationalsozialisten ausgeht, nimmt Kaschnitz aufmerksam wahr. Im November 1938 notiert Kaschnitz in ihrem Tagebuch:
ZITATORIN
In Bollschweil. Tage der tiefsten Niedergeschlagenheit, Scham und Trauer.
SPRECHER
Die Kriegsjahre verbringt die Familie teils in Frankfurt am Main, teils im nahe gelegenen Kronberg. Neben Bollschweil und Rom wird Frankfurt der dritte Ort von zentraler Bedeutung in Kaschnitz’ Leben und Werk. Dort lebt die Familie ab 1941. Noch heute prangt am Hauseingang im Frankfurter Westend eine kleine Gedenktafel zu Ehren der prominenten Bewohnerin - bis zum Tod von Marie Luise Kaschnitz bleibt dies ihr Wohnsitz.
Aber wie haben sie und Guido sich in jener Zeit positioniert?
ZITATORIN
Ja, danach fragen jetzt alle, nach dem Engagement, aber ich kann diese Frage in einem Sie befriedigenden Sinn kaum beantworten. In der Nazizeit war ich zwar ‚dagegen‘ und habe ein paar Unannehmlichkeiten gehabt, aber ich war doch viel zu feig, um wirklich etwas zu tun. Mich als ‚engagiert‘ zu bezeichnen wäre nichts als Angeberei.
SPRECHER
… äußert sich Marie Luise Kaschnitz 1971 in einer Befragung von Schüler*innen.
Sie schreibt weiter, arbeitet an der Courbet-Biographie. Unauffällig, unverfänglich. Politische Aussagen macht sie keine. Dem Begriff der Inneren Emigration begegnet Marie Luise Kaschnitz jedoch kritisch, wie hier in dem 1973 erschienenen Text ihres Buches Orte:
ZITATORIN
Und worin soll sie denn bestanden haben, unsere sogenannte innere Emigration? Darin, dass wir ausländische Sender abhörten, zusammensaßen und auf die Regierung schalten, ab und zu einem Juden auf der Straße die Hand gaben, auch dann, wenn es jemand sah? Nicht heimlich im Keller Flugblätter gedruckt, nicht nachts verteilt, nicht widerständlerischen Bünden angehört, von denen man wusste, dass es sie gab, es so genau aber nicht wissen wollte. Lieber überleben, lieber noch da sein, weiterarbeiten, wenn erst der Spuk vorüber war. Wir sind keine Politiker, wir sind keine Helden, wir taten etwas Anderes.
SPRECHER
Guido geht seiner wissenschaftlichen Arbeit als Archäologe nach, soweit möglich, sie ihrem Beruf als Schriftstellerin: Marie Luise Kaschnitz fängt die Stimmungen nach dem Krieg in ihrer Lyrik ein, fasst ihr Entsetzen in Worte. Sie beschreibt Ruinen und Zerstörung, Wohnungsnot, Leid. Ihr Gedicht-Band Totentanz bringt ihr die Bezeichnung Trümmerdichterin ein.
O-TON (9) RAITZ
Berühmt wurde sie nach ’45 in der deutschen Literatur zunächst für diese großen Zyklen, die das unmittelbare Kriegsende und die unmittelbare Nachkriegszeit thematisieren: Rückkehr nach Frankfurt ist vielleicht das berühmteste. Oder dann Die große Wanderschaft, die großen Flüchtlingszüge, der Hunger, das Elend, auch das grausame Verhalten zum Teil.
SPRECHER
Nach dem Krieg arbeitet sie in der Redaktion der neuen Zeitschrift Die Wandlung mit, übernimmt das Literatur-Ressort und empfiehlt Dichter*innen wie Paul Celan oder Gabriele Wohmann. Kaschnitz ist Mitglied des PEN-Clubs, tauscht sich mit Autor*innen der Gruppe 47 aus, schreibt viel, Gedichte und Essays. Das Papier ist knapp, mit Guido streitet sie um jedes Blatt, berichtet sie einem Freund. Sie pflegt einen großen Freundes- und Bekanntenkreis. Theodor W. Adorno und seine Frau sind enge Freunde, sie wohnen in der Frankfurter Nachbarschaft.
Und dann, 1952, geht es wieder nach Rom! Guido wird Direktor des Deutschen Archäologischen Instituts. Insgesamt verbringt Marie Luise Kaschnitz über zehn Jahre ihres Lebens in Rom, als ihre Herzlandschaft bezeichnet sie die Stadt. Es sind wohl die Gegensätze, die Kaschnitz so faszinieren: hier die sichtbare Vergangenheit, dort die lärmende Metropole; Schwermut neben Vitalität, unfassbare Schönheit neben sozialer Armut. Briefe aus dieser Zeit zeigen, wie gut es ihr in Italien geht. Später blickt sie zurück:
O-TON (10) Kaschnitz/Interview Bienek, 1961
Rom hat mich gewiss auch künstlerisch beeinflusst. Man lernt dort Geschichte und lernt, sich gegen die Geschichte zu wehren. Ich glaube, dass man vor allem sehen lernt. Man hat viele Impulse durch Augenfreuden, und weil das Leben sich zum großen Teil draußen, nicht in den Häusern abspielt, erfährt man auch viel von den Menschen, viel mehr als hier.
((SPRECHER
In Rom ist Kaschnitz Teil eines deutschsprachigen Autoren- und Intellektuellen-Kreises und genießt das Leben in Italien. Sie lernt Ingeborg Bachmann kennen, mit der sie zeitlebens eng befreundet bleibt. Daneben trifft sie sich mit Kollegen wie Gustav René Hocke, Hermann Kesten, später auch mit Max Frisch und Luise Rinser. Als sensibel wird sie beschrieben, mit einem Gespür für besondere Situationen und Stimmungen. Eine Menschenfischerin sei sie, so Kaschnitz über sich selbst.))
O-TON (11) RAITZ
Sie war eine ungeheuer gute Beobachterin und Zuhörerin und sie hat vieles aus ihrem eigenen Erfahrungsschatz vor allem in die Erzählungen übernommen. Und sie beschreibt sehr genau, psychologisch korrekt, sehr psychologisch oft. Aber nie irgendwie verschwommen oder verrätselt, sie hat einen sehr direkten Stil, wenn man das sagen kann. Sie lässt oft die Handelnden erzählen, aber sehr oft, sicher Dreiviertel davon sind in der Ich-Form.
SPRECHER
So auch die Kurzgeschichte Das dicke Kind, mit der Marie Luise Kaschnitz viel Aufmerksamkeit erlangt.
Die Erzählerin, voller Abscheu diesem trägen Kind gegenüber, folgt ihm dennoch neugierig nach draußen:
ZITATORIN
Ich muß doch sehen, wie diese Raupe Schlittschuh läuft, dachte ich. Ich muß doch sehen, wie sich dieser Fettkloß auf dem Eise bewegt. Und ich beschleunigte meine Schritte, um das Kind nicht aus den Augen zu verlieren.
SPRECHER
Dann, der Schreck: Das Kind bricht im Eis ein. Doch es gelingt ihm, sich selbst zu retten. Alles beobachtet von der Ich-Erzählerin:
ZITATORIN
Und das war ein langer Kampf, ein schreckliches Ringen um Befreiung und Verwandlung, wie das Aufbrechen einer Schale oder eines Gespinstes, dem ich zusah, und jetzt hatte ich dem Kinde wohl helfen mögen, aber ich wusste, ich brauche ihm nicht mehr zu helfen - ich hatte es erkannt . . .
SPRECHER
Denn die Erzählerin ist selbst das Kind. Marie Luise Kaschnitz hält sich einen Spiegel vor und verarbeitet ihre eigenen Erfahrungen aus der Kindheit. Dabei bewegt sich der Text zwischen Realität und Fiktion. 1961 bekennt sie:
O-TON (12) Kaschnitz/Interview Bienek, 1961
Ich halte die Geschichte Das dicke Kind für meine stärkste Erzählung, weil sie am kühnsten und am grausamsten ist. So grausam zu sein, konnte mir nur gelingen, weil das Objekt dieser Grausamkeit ich selber war.
SPRECHER
Hart und schonungslos gegenüber dem eigenen Ich, der eigenen Vergangenheit.
Anderen Menschen hingegen begegnet sie aufgeschlossen und wohlwollend. Sie pflegt ihr großes Netzwerk von unterschiedlichen Persönlichkeiten aus Kunst, Kultur und Wissenschaft. Immer wieder fördert sie junge Talente, etwa die Schriftstellerin Ingrid Bachér.
1952 wird ihr erstes Hörspiel gesendet, bis in die Siebziger Jahre folgen rund zwanzig weitere. Kaschnitz sagt, großes Vergnügen bereite ihr dabei die Arbeit am Dialog, der freie Umgang mit Ort und Zeit.
Drei Jahre später, 1955, der Höhepunkt ihres Schaffens: Sie erhält den Georg-Büchner-Preis, viele weitere Auszeichnungen folgen. Spätestens jetzt hat Marie Luise Kaschnitz einen festen Platz in der literarischen Szene im Nachkriegsdeutschland.
Dann ein großer Schicksalsschlag für sie: 1958 stirbt Guido. Zwei Jahre zuvor wurde bei ihm ein Hirntumor entdeckt, die Zeit bis zu seinem Tod ist zermürbend.
ZITATORIN: KASCHNITZ/Dein Schweigen, meine Stimme
Du entfernst dich so schnell
Dein Schweigen
Meine Stimme
Dein Ruhen
Mein Gehen
Dein Allesvorüber
Mein Immernochda
SPRECHER
Das Ende dieser glücklichen Beziehung stürzt sie in eine Krise, die auch in ihrem Werk als Zäsur zu erkennen ist. Viele Gedichte aus dieser Zeit haben den Tod, Trauer, Vergänglichkeit und Verlust zum Thema. Halt findet sie in der Familie, bei ihren Freunden, im Austausch mit Kolleg*innen. Langsam tastet sie sich ins Leben zurück. Ihr Interesse am Zeitgeschehen und an jüngster Geschichte wächst. Früher habe sie sich oft Guidos Meinung angeschlossen, berichtet Germanistin Brigitte Raitz:
O-TON (13) RAITZ
Sie hat sich erst nach seinem Tod politisch geäußert. Und dazu sagt sie: Der Liebe - das war so ihr Name für ihn - der Liebe hätte jetzt sicher den Kopf geschüttelt oder die Stirn gerunzelt.
SPRECHER
Zwischen Aufarbeitung der Nazi-Zeit, Wirtschaftswunder und Mauerbau taucht nun häufiger Gesellschaftskritik in ihren Texten auf. Sie hofft auf Veränderung und Aufbruch, wird politisch:
O-TON (14) RAITZ
Nicht nach außen, also sie tritt nicht mit Reden auf oder politischen Äußerungen wie vielleicht Walser oder Grass oder so Leute. Sie besucht zum Beispiel 1964 als eine der ganz wenigen Schriftsteller und Schriftstellerinnen den Auschwitzprozess in Frankfurt und macht Notizen darüber. Und sie hat in Frankfurt (lacht) mit großer Sympathie den Häuserkampf der Studenten verfolgt. Ist wohl auch bei manchen Demonstrationen mitgelaufen und sie hat auch später immer vor ihrem Angst vor Atomschlag, vor der Umweltzerstörung gesprochen.
SPRECHER
Viele ihrer Texte sind zeitlos. Und doch sind die Romane und Essays, Kurzgeschichten und Gedichte jüngeren Leser*innen heute kaum noch bekannt.
Gefragt, in welcher literarischen Form sie sich selbst am deutlichsten verwirklichen könne, antwortet Marie Luise Kaschnitz:
O-TON (15) Kaschnitz/Interview Bienek, 1961
Ich glaube, im Gedicht. Ich will aber noch mehr und anderes sagen, als sich im Gedicht ausdrücken lässt. Die Kritik hat mich die längste Zeit nur als Lyrikerin gesehen. Tatsächlich setze ich mich mit Vorliebe zwischen alle Stühle insofern, als man meine Gedichte episch, meine Prosa lyrisch und meine dramatischen Versuche sowohl episch wie lyrisch nennt.
SPRECHER
Im Herbst 1974 soll Marie Luise Kaschnitz die Frankfurter Buchmesse mit einem Vortrag eröffnen. Der Titel: Rettung durch Phantasie, ein Plädoyer für die Lyrik. Dazu kommt es nicht mehr. Sie stirbt nach einem Badeunfall am 10. Oktober in Rom ((- in ihren Notizheften noch viele unverarbeitete Ideen)).
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