Negative Erfahrungen speichert unser Gehirn intensiver ab, als positive Erfahrungen. Denn aus schlechten Erfahrungen können wir lernen. Wird Pessimismus aber zu einer Grundstimmung, dann erreicht eine solche Weltsicht eher das Gegenteil: Dann fehlt es an Motivation, etwas daran ändern zu können. Autorin: Daniela Remus
Credits
Autorin dieser Folge: Daniela Remus
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Hemma Michel
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Dr. Hennig Beck, Neurowissenschaftler, Frankfurt/M.;
Dr. Marlies Pinnow, (sprich: Pinnoo) Psychologin, Ruhr Universität Bochum;
Prof. Lars Schwabe, Psychologe, Universität Hamburg
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ZUM PODCAST
Literaturtipps:
Beck, Hennig: 12 Gesetze der Dummheit. Denkfehler, die vernünftige Entscheidungen in der Politik und bei uns allen verhindern. Ullstein Verlag, Berlin 2023.
Forschung von Dr. Marlies Pinnow, Ruhr Universität Bochum:
Schlüter, C., Fraenz, C., Pinnow, M., Friedrich, P., Güntürkün, O., & Genç, E. (2018). The structural and Forschung functional signature of action control. Psychological Science, 29(10), 1620-1630.
Pinnow, M. (2018). Wünschen, Wählen, Wollen: Individuelles Entscheiden und Handeln im Spiegel der Neurowissenschaft. In C. Gorr und M.C. Bauer (Hrsg.), Was treibt uns an? (pp. 67-81). Springer: Berlin.
Forschung von Prof. Lars Schwabe, Universität Hamburg:
Rouhani, N., Niv, Y., Frank, M. J., & Schwabe, L. (in press). Multiple routes to enhanced memory for emotionally relevant events. Trends in Cognitive Sciences.
Baczkowski, B. M., Haaker, J, & Schwabe, L. (2023). Inferring danger with minimal aversive experience. Trends in Cognitive Sciences, 27, 456-467.
Schwabe, L., Hermans, E., Joëls, M., & Roozendaal, B. (2022). Mechanisms of memory under stress. Neuron, 110, 1450-1467.
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
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MUSIK
SPRECHERIN
„Das schaffe ich nie”, „Die denken doch nur an sich” oder „Das wird nie mehr gut”! Nicht wenige Menschen denken so und antworten auch entsprechend negativ. Und sie urteilen dermaßen pessimistisch nicht nur in einzelnen Situationen, sondern bei fast jeder Gelegenheit. Ob es um die Diät nach den Feiertagen geht, die nächste Prüfung, die weltpolitische Lage oder um den Streit in der Familie: „Das kann ja alles gar nicht anders als schlecht enden”! Und mit dieser pessimistischen Grundeinstellung sind sie nicht allein. Weltweit äußern sich in Umfragen zwei Drittel der Menschen düster und negativ über Gegenwart und Zukunft. Das ist für die Bewältigung der aktuellen Krisen kein gutes Zeichen, aber neurobiologisch ist der Pessimismus durchaus zu erklären.
TAKE 1 (O-Ton Beck) L: 0, 25
Wir erinnern uns an sehr negative Ereignisse intensiver, als an sehr positive Ereignisse. Das hat einfach auch den Vorteil, dass man dadurch besser lernen kann. Also man stellt sich mal die Alternative vor, wir würden uns an positive Sachen immer erinnern, dann wären die immer präsent und wir hätten gar nicht mehr den Antrieb die nochmal erreichen zu wollen. Wohingegen, wenn ich mich an die negativen Sachen erinnere, dann habe ich die so präsent, dass ich immer weiß, die möchte ich vermeiden.
SPRECHERIN
Erklärt der Neurowissenschaftler und Sachbuchautor Hennig Beck. Tagein tagaus entscheidet unser Gehirn, was von dem, was wir erleben, als Erinnerung abgespeichert werden soll - und was nicht. Der Streit mit der Chefin, die schlechten Schulnoten, die freundliche Arzthelferin, der heftige Regenschauer und das Laubharken im Garten? Nicht alles, was wir erleben, wird zu einer Erinnerung. Aber negative Erlebnisse haben eine höhere Chance erinnert zu werden als positive. Das begünstigt ganz entscheidend den pessimistischen Blick auf die Welt.
TAKE 2 (O-Ton Beck) L: 0, 24
In einem Gehirn liegt Erinnerung nicht irgendwo rum, sondern eine Erfahrung, die Sie machen, etwas, was Sie sehen oder hören, das führt dazu, dass die Nervenzellen sich besser synchronisieren, besser abstimmen in ihrer Aktivität, sie passen ihre Verknüpfungen untereinander an und das führt dazu, dass sie das nächste Mal dieses Aktivitätsmuster, besser auslösen können und das ist das, was man Gedächtnis oder Erinnerung nennt.
SPRECHERIN
Früher nahmen Forschende an, dass es einen festen Ort im Gehirn gibt, an dem unsere Erinnerungen, ähnlich wie Kleidungsstücke in einer Schublade, aufbewahrt werden. Aber mittlerweile ist klar, diese Erklärung ist zu einfach. An der Gedächtnisbildung sind vielmehr sehr viele und unterschiedliche Bereiche des Gehirns beteiligt: So zum Beispiel die Nervenzellen im sogenannten Hippocampus und im sogenannten Enthorialen Cortex. Was im Einzelnen im Gehirn und speziell in diesen Bereichen passieren muss, damit ein Erlebnis zu einer Erinnerung verarbeitet wird, das haben die Forschenden aber trotz aller Forschungen bisher immer noch nicht in allen Details verstanden.
TAKE 3 (O-Ton Schwabe) L: 0, 10
Es ist natürlich so, dass die Relevanz und die emotionale Wertigkeit von Erfahrungen einen maßgeblichen Einfluss darauf haben, wie gut Sachen später erinnert werden.
SPRECHERIN
Erklärt Lars Schwabe, Professor für Psychologie an der Universität Hamburg.
TAKE 4 (O-Ton Schwabe) L: 0, 15
Wir wissen aus Verhaltensstudien auch sehr gut, dass emotional negative Ereignisse aber auch emotional positive Ereignisse tendenziell besser erinnert werden als die neutralen, alltäglichen Ereignisse. Das ist ein relativ robuster Befund in der Literatur.
SPRECHERIN
Ein relativ robuster Befund in der Literatur, das heißt, dieses Ergebnis hat sich in vielen unterschiedlichen Experimenten immer wieder bestätigt: Die emotionale Betroffenheit in einer Situation führt also dazu, dass sie intensiver im Gehirn verankert wird. Und das macht es wahrscheinlicher, dass sie im Gedächtnis als Erinnerung abgelegt wird, betont der Frankfurter Neurowissenschaftler Beck:
TAKE 5 (O-Ton Beck) L: 0,20
Alles, was emotional ist, ist so eine Art Beschleunigung für das Lernen. Es führt dazu, dass es besonders intensiv und weitläufig verarbeitet wird und genau an diesen Schnittstellen wo entschieden wird, was ist wichtig und was ist unwichtig, da ist Emotion so etwas, wie ein Lesezeichen, das markiert, oh das ist etwas, was man besonders intensiv später nochmal verarbeiten sollte.
SPECHERIN
Denn das Gehirn muss tagtäglich entscheiden, was wird als Erinnerung abgespeichert und was kann weg? Töne, Gerüche, Erlebnisse, Streit, ein unerwartetes Wiedersehen, Musik oder Gespräche: Emotionale Berührung machen einzelne Situationen von anderen unterscheidbar. Und bei negativen Emotionen ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß. dass sie es ins Gedächtnis schaffen und damit zu einem pessimistischen Blick auf die Welt führen.
TAKE 6 (O-Ton Beck) L: 0, 32
Es gibt so eine Art Koordinationsstelle im Gehirn, die die wichtigsten Infos des Tages noch einmal reaktiviert. Nennt sich Hippocampus. Und diese Region ist quasi so ein Taktgeber dafür zu entscheiden, was ist wichtig, was ist unwichtig? Und in der Nacht, wenn man schläft, wird dann eben geschaut, was war besonders überraschend? Was war besonders emotional? Was war besonders neu, was man erlebt hat? Und das wird dann in der Nacht in den Großhirnarealen, dezentral, verankert unter Anleitung von eben jenem Hippocampus.
SPRECHERIN
‚Gedächtnisspur‘ nennen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das, was der Hippocampus in den verschiedenen Gehirnarealen aufbaut und was dann später als Erinnerung wieder abgerufen werden kann. Positive und negativen Erlebnisse, die in uns Gefühle hervorrufen, entweder der Freude, des Glücks oder auch des Leids und der Trauer, hinterlassen besonders tiefe Gedächtnisspuren, werden also deutlich besser erinnert. Und manchmal, bei besonders traumatisierenden Erlebnissen kommt es dadurch zu einer derart präsenten Erinnerung, dass diese nicht mehr bewusst kontrolliert werden kann, wie bei einer Posttraumatischen Belastungsstörung.
((TAKE 7 (O-Ton Beck) L: 0, 30
Wenn es besonders positiv oder besonders negativ ist, führt das zu einer besseren Gedächtnisspur, zu einem besseren Training kann man sagen, der Nervenzellen und ich behalte das intensiver. Tatsächlich muss man aber sagen, dass negative Emotionen, hochnegative Emotionen, Niederlagen beispielsweise oder Trauerereignisse, Schicksalsschläge, besonders intensiv verarbeitet werden. Intensiver als positive Emotionen und das führt dazu, dass man sich an solche sehr negativen Ereignisse häufig auch sehr negativ erinnert.))
SPRECHERIN
Indem unser Gehirn vergangene Erlebnisse und Erfahrungen strukturiert und gewichtet und unter Umständen zu Erinnerungen macht, hilft es uns, unser Leben zu bewältigen, erklärt Lars Schwabe:
TAKE 8 (O-Ton Schwabe) L: 0, 25
Das ist tatsächlich eine Idee, dass die maßgebliche Funktion des Gedächtnisses ist, uns eben auf ähnliche Situationen in der Zukunft bestmöglich vorzubereiten und daraus resultiert einfach auch der Umstand, dass dieses emotionale Gedächtnis, also die Steigerung der Erinnerungsfähigkeit emotionaler Inhalte, dass das auch ein grundadaptiver Mechanismus ist, der uns für zukünftige Gefahren bestmöglich vorbereitet.
SPRECHERIN
Es ist also vermutlich evolutionsbiologisch zu erklären, dass negative Erfahrungen besonders intensiv erinnert werden. Denn das hilft dabei, solche Erlebnisse in Zukunft zu vermeiden. Insofern könnte man auch sagen, dass ein pessimistischer Mensch sich v.a. davor schützen möchte, besonders negative Situationen zu erleben. Wie zum Beispiel das Anfassen der heißen Herdplatte. Biochemisch betrachtet lässt sich die intensive Erinnerung mit dem Hormoncocktail erklären, den der Körper in solchen Situationen ausschüttet. In glücklichen Momenten, wie beispielsweise bei der Geburt eines Kindes, produziert der Organismus besonders viel vom Botenstoff Dopamin, alltagssprachlich auch bekannt als ‚Belohnungshormon‘. Anders in einer emotional belastenden Situation: in der schüttet der Körper die Botenstoffe Noradrenalin und Cortisol aus, beide alltagssprachlich auch als ‚Stresshormone‘ bekannt. Vor allem diese Stresshormone aktivieren, so der gegenwärtige Wissensstand, die sogenannte Amygdala. Die ist, evolutionsbiologisch betrachtet, ein sehr alter Teil des Gehirns, häufig auch Mandelkern genannt, der für die Bewertung von emotional wichtigen, und zwar vor allem negativen Erlebnissen zuständig ist, ((erklärt Lars Schwabe:
TAKE 9 (O-Ton Schwabe) L: 0, 13
Das heißt, die Amygdala sagt gewissermaßen, ‚hey, das ist jetzt eine extrem wichtige Situation, Hippocampus merk dir das mal besonders gut!‘, plakativ gesprochen und das ist der Mechanismus, der für aversive Ereignisse ganz gut etabliert ist.
SPRECHERIN
Auch für die Entstehung von Angst, die sich ja aus negativen emotionalen Erinnerungen speist, spielt die Amygdala eine wichtige Rolle. Forschende vermuten deshalb, dass es nicht nur graduelle Unterschiede gibt, in der Abspeicherung und Verarbeitung von positiven und negativen Emotionen in unserem Gedächtnis, sondern tatsächlich auch qualitative Unterschiede.)) Und das sei ja auch sinnvoll, so Psychologieprofessor Lars Schwabe, weil Erfahrungen und Erinnerungen unser Verhalten prägen.
TAKE 10 (O-Ton Schwabe) L: 0, 17
Das heißt, unser Gedächtnis ist für unser Funktionieren im Alltag, in jeglicher Hinsicht, Motivation, Orientierung, Entscheidungsfindung absolut essentiell, aber auch essentiell dafür, wie wir uns als Person wahrnehmen.
SPRECHERIN
Ohne Erinnerung fehlten uns auch bedeutende Informationen über uns selbst. Deshalb, so Lars Schwabe, wüssten wir nicht, falls wir sie verlören, was wir für ein Mensch sind und was uns ausmacht. Wenig verwunderlich also, dass Erinnerungen auch mitbeeinflussen, wie Menschen auf die Welt, auf ihr Leben blicken. Sind sie eher optimistisch oder pessimistisch? Erwarten sie positive Entwicklungen für die Zukunft oder wird alles einfach nur immer schlechter?
TAKE 11 (O-Ton Schwabe) L: 0, 24
Und wenn wir dann aufgrund unserer Stimmungslage oder unseres Naturells vorrangig negativ gefärbte Erfahrungen erinnern und diese in unserem Gedächtnis überrepräsentiert sind, dann kann das schon was sein, dass dann halt so ein sich selbst verstärkender Prozess fungiert dass man dann einen stärkeren Pessimismus an den Tag legt möglicherweise sogar zu eine depressive Stimmung neigt.
SPRECHERIN
Und daraus kann sich eine regelrechte Abwärtsspirale entwickeln, in der sich negative Erfahrungen und Erinnerungen dauerhaft selbst verstärken, erklärt Lars Schwabe:
TAKE 12 (O-Ton Schwabe) L: 0, 31
Das heißt, dass wir erfahrungsbasiert bestimmte Schemata ausbilden, die Erwartungen widerspiegeln, was in einer bestimmten Situation vorhanden sein sollte. Und das leitet dann auch unsere Wahrnehmung und unsere Gedächtnisbildung, dass wir genau schauen, was sind die Aspekte, die bestimmte Situationen voneinander abgrenzen und was sind bestimmte Merkmale, die eigentlich überall da sind und das natürlich auch hilft für ein effizientere Gedächtnisabspeicherung.
SPRECHERIN
Im Alltag sprechen wir oft von einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung, wenn Menschen vor einem Prüfungstermin, der Führerscheinprüfung oder dem Bewerbungsgespräch mutmaßen, „das wird sowieso nichts” oder „ich kann das nicht”. Damit meinen wir, dass jede und jeder unbewusst oder bewusst durch das Verhalten mit dazu beiträgt, wie bestimmte Situationen sich entwickeln. Und tatsächlich existiert eine solcher Mechanismus. In Experimenten konnten Forschende nachweisen, dass negative Erlebnisse eine pessimistische Grundhaltung befördern und diese dann wiederum dazu führt, negative Erlebnisse zu begünstigen. Aber, ganz entscheidend in diesem Zusammenhang: Negative Erlebnisse werden dadurch nicht verursacht!
MUSIK
SPRECHERIN
Und noch ein wichtiger Unterschied: Negatives Erlebnis und negatives Erlebnis sind auf keinen Fall identisch. Krieg, Vergewaltigung und Folter sind selbstverständlich unter keinen Umständen zu vergleichen mit anderen Erfahrungen, die wir im Alltag oft als negativ wahrnehmen, wie beispielsweise einer ungerechten Kündigung. Dennoch gehen Menschen mit diesen unterschiedlich belastenden Erfahrungen sehr verschieden um. Und das liegt daran, dass nicht die objektive Schwere einer Situation dafür verantwortlich ist, sondern der Umgang des Individuums damit, erklärt Dr. Marlies Pinnow, Psychologin an der Ruhr-Universität in Bochum:
TAKE 13 (O-Ton Pinnow) L: 0, 39
Im Falle einer negativen Emotion … Angst, Trauer, Wut, kommt es ja in der Regel zu einer Coping Reaktion, also sie müssen das irgendwie bewältigen … Davon ist es ja abhängig, wie ich diese Erfahrung verbuche. Die kann ich erfolgreich bewältigen, lerne dadurch noch etwas … oder aber ich bewältige die nicht erfolgreich. Und das sind ja häufig Leute, die wir dann in der Praxis in den Therapien sehen. Die mit irgendeiner Situation in ihrem Leben, im Sinne eines positiven Copings nicht klargekommen sind.
SPRECHERIN
Selbstverständlich gibt es Menschen, die derart viele unvorstellbar negative Erfahrungen machen, dass sie von diesen geprägt werden und keine Kraft mehr haben, optimistisch, also hoffend und zuversichtlich in die Zukunft zu blicken. Menschen, die Kriege aushalten müssen, die Massaker und Terroranschläge überleben, Vergewaltigungen oder Folter überstehen. Aber nicht immer ist der Blick auf die Welt von solchen tatsächlich objektiv negativen Erlebnissen abhängig. Denn wie Menschen solche Erlebnisse verarbeiten, hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab, erklärt der Psychologe Lars Schwabe von der Universität Hamburg:
TAKE 14 (O-Ton Schwabe) L: 0,22
Da gibt es eine ganze Reihe von Faktoren: Persönlichkeit, frühkindliche Erfahrungen, genetische Ausstattung aber eben auch bestimmte Erinnerungstendenzen. Wenn es aber so ist, dass eine Person real sehr viel negative Situationen erfährt, die dann natürlich auch im Gedächtnis stark abgespeichert sind, dann hat das natürlich auch Implikationen, dafür, was sie erwartet, was in Zukunft passieren wird.
SPRECHERIN
Menschen, die extrem negative Situationen erleben mussten, wie z.B. Folter oder Missbrauch, können beispielsweise in eine sogenannte ‚erlernte Hilflosigkeit‘ rutschen. Das heißt, dass die negative Erinnerung und damit eine pessimistische Grundhaltung zum bestimmenden Aspekt der Persönlichkeit wird:
TAKE 15 (O-Ton Schwabe) L. 0, 10
Auch auf motivationaler Ebene, wo dann vielleicht so ein Pessimismus reinspielt, und auch auf kognitiver Ebene. Man sieht dann z.B. auch bestimmte Gedächtnis- oder Arbeitsgedächtnisauffälligkeiten.
SPRECHERIN
Aber auch bei denjenigen, die von solchen objektiv negativen Erlebnissen verschont sind, die Glück, Trauer, Wut und Freude in einem relativ gesicherten Umfeld erleben, so wie es für die meisten Menschen hier in Deutschland gilt, gibt es viele, die vor allem pessimistisch auf die Welt blicken. Sie haben eine Arbeit, werden auch mal krank, fallen durch Prüfungen oder werden von ihren Partnern verlassen, sie ärgern sich, wenn die Bahn unpünktlich, das Auto kaputt ist und das Lieblingsbrötchen ausverkauft. Unterschiedlich stark ausgeprägte Persönlichkeitsmerkmale beeinflussen, so der gegenwärtige Wissensstand, wie Menschen mit solchen negativen Alltagserfahrungen umgehen: Manche sind eher Handlungsorientiert, andere eher Lageorientiert. Handlungsorientierte überlegen bei Missgeschicken und negativen Erlebnissen, warum ist das so gelaufen, welche Gründe gibt es dafür, wie kann ich damit in Zukunft umgehen? Was kann ich verändern, damit das nicht noch einmal passiert? Lageorientierte Menschen dagegen sind so auf die Lage bzw. Situation fixiert, dass sie es nicht - oder nur sehr - schwer schaffen, sich von dieser Erfahrung zu befreien, sich von dem Missgeschick zu erholen oder auch daraus für die Zukunft zu lernen, wie die Psychologin Margret Pinnow erklärt:
TAKE 16 (O-Ton Pinnow) L: 0, 20
Wir haben diese Personengruppen tatsächlich in den Scanner gelegt… da haben wir angefangen zu schauen, weil es gibt Strukturen, die erlauben Emotionen besser zu regulieren und die sind tatsächlich bei den Handlungsorientieren stärker ausgeprägt als bei den Lageorientierten.
SPRECHERIN
Warum die einen deprimiert und pessimistisch reagieren, die anderen aber negative Erlebnisse und Niederlagen wegstecken, das ist bisher noch nicht richtig klar, sagt Marlies Pinnow. Sicherlich sind frühkindliche Bindungen dafür entscheidend, aber auch erlernte Emotionskontrolle und genetische Dispositionen. Fest steht, diese Eigenschaften beeinflussen, wie man auf die Welt blickt, welcher Blick sich verstetigt. Hinzu kommen darüber hinaus, neben diesen individuellen Persön-lichkeits¬merkmalen, auch noch weiter Faktoren. Sie liegen auf der gesellschaftlich-sozialen Ebene:
TAKE 17 (O-Ton Beck) L: 0, 17
Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass wirtschaftlich sehr reife Gesellschaften dazu tendieren, pessimistischer zu werden. Weil sie einfach an einem Punkt angekommen sind, wo man sich kaum vorstellen kann, dass es besser werden kann und ich diesen ganzen Fortschritt und Wohlstand als selbstverständlich annehmen.
SPRECHERIN
Sagt der Frankfurter Neurowissenschaftler Henning Beck, der zum grassierenden, gesellschaftlichen Pessimismus im Herbst 2023 ein Sachbuch veröffentlicht hat.
TAKE 18 (O-Ton Beck) L: 0, 23
Also für uns ist selbstverständlich, dass sauberes Wasser aus der Leitung kommt, für uns ist selbstverständlich, dass wir Erdbeeren im Winter kaufen können, ich kann mir alles liefern lassen, was ich will. Wir haben als Gesellschaft einen Zustand erreicht, der kaum noch verbesserungsfähig ist, in unserer Vorstellung. Welche Möglichkeiten hast du darauf psychologisch zu reagieren? Du schaust dir an, wo es schlechter werden könnte und hast Angst davor, und fängst also an zu verteidigen, was du hast.
SPRECHERIN
Genau das sehen und erleben wir zurzeit in vielen europäischen Staaten. Eine Umfrage des Forsa Instituts vom September 2023 hat beispielsweise ergeben: In Deutschland sind rund 46 Prozent der Befragten der Ansicht, dass es ihnen in zehn Jahren deutlich schlechter gehen wird als heute. Nur 17 Prozent blicken optimistisch in die Zukunft, und erwarten, dass es ihnen dann besser gehen wird. Eine gesellschaftliche Stimmung also, die eindeutig pessimistisch ist und die ihre Ursachen nicht nur in der Angst vor Verlusten hat, sondern auch darin, dass das, was gut läuft, nicht als positiv wahrgenommen wird, sagt Hennig Beck:
TAKE 19 (O-Ton Beck) L: 0, 35
Warum sind Menschen so pessimistisch? Menschen erkennen den Fortschritt nicht. Also das Unglück ist sichtbar, das Glück auch, aber man sieht es nicht. Das Glück nimmt man eigentlich als selbstverständlich hin, also das, was früher eine medizinische Sensation war, früher war es eine Sensation, wenn du 90 Jahre alt geworden bist, heute regen sich 70,80jähirge auf, wenn sie in der Coronapandemie nicht mit einem Kreuzfahrtschiff fahren können. Ja, so ändern sich die Zeiten. Und dieser ganze Fortschritt, dass wir gesünder sind, besser leben, dass wir freier sind als früher, das sehen wir nicht, weil wir uns daran gewöhnt haben.
SPRECHERIN
„Früher war alles besser …” heißt es dann. Dabei sind immer mehr Krebsarten heilbar sind, deutlich mehr Menschen können lesen und schreiben, Demonstrationsfreiheit gilt selbst für abstruse Meinungen, sofern sie nicht gegen das Grundgesetz verstoßen. In Deutschland muss kaum noch jemand Hunger leiden, in Rhein und Elbe kann wieder geschwommen werden und die Zahl der Morde geht kontinuierlich zurück. Dennoch nehmen viele Menschen das ganz anders wahr. Neben den realen und beunruhigenden Kriegen und wirtschaftlichen Krisen, mit denen wir zur Zeit konfrontiert sind, gibt es dafür aber auch noch eine andere Erklärung:
TAKE 20 (O-Ton Beck) L 0, 38
Das nennt man Reminiszenz Effekt. Das ist dieser Effekt, dass man sagt, früher war alles besser. Und man vergleicht die Gegenwart jetzt mit der Vergangenheit und stellt fest, ach früher war doch eigentlich alles okay. Und das ist ein psychologischer Streich, den uns unser Gehirn spielt. Denn ja, es stimmt, dass negative Sachen intensiver erlebt werden als positive, …, aber wenn es um das gesamte Leben geht und man schaut zurück, an was erinnert man sich am meisten? Am meisten erinnert man sich an die Phase in den eigenen 20ern. Das ist so die Phase, die am präsentesten ist. Man ist von zu Hause ausgezogen, hat irgendwo eine Arbeit angefangen, hat einen Partner oder eine Partnerin fürs Leben kennengelernt, da ging´s ab.
SPRECHERIN
Und alles, was danach kommt, Konsolidierung im Beruf oder die Familienphase fällt dagegen ab, erscheint eher langweilig. Denn es passiert in der Regel deutlich weniger komplett Neues als in der Zeit zwischen 20 und 30:
TAKE 21 (O-Ton Beck) L: 0, 30
Der Grundton, dass man danach nicht sooo viel erlebt … führt dazu, dass man im Laufe des Lebens sagt, ach ja früher, da ging es rund, da hab ich viel gemacht, da war alles gut und jetzt ist viel weniger los und es wird eigentlich alles immer schlechter. Das führt dazu, dass man so eine pessimistische Grundeinstellung hat, weil man die Gegenwart mit der Vergangenheit vergleicht, obwohl das objektiv vielleicht gar nicht stimmt.
SPRECHERIN
Wenn große Teile einer Gesellschaft von dieser pessimistischen Grundstimmung erfasst werden, kann das, ganz pragmatisch betrachtet, durchaus problematisch sein. Denn in der gegenwärtigen Lage mit Erderwärmung, Kriegen und Krisen, brauchen Gesellschaften gute Ideen, und Menschen, die optimistisch in die Zukunft blicken, um die anstehenden Schwierigkeiten zu bewältigen und die Entwicklung zum Besseren wenden zu können. Pessimismus und der Blick zurück in eine vermeintlich gute Vergangenheit, ob persönlich oder politisch, ist dafür eher eine Sackgasse.
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