Allen das Gleiche? Die Philosophie der sozialen Gerechtigkeit
Jedem das Seine? Oder allen das Gleiche? In der Philosophie, die sich von Anbeginn mit Fragen der Gerechtigkeit beschäftigt, taucht der Begriff der sozialen Gerechtigkeit erst relativ spät auf. Welche Gedanken und Ideen zum Thema soziale Gerechtigkeit gibt es und wie kann eine Gesellschaft sie erreichen? Autorin: Claudia Heissenberg (BR 2023)
Credits
Autor/in dieser Folge: Claudia Heissenberg
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Katja Bürkle, Johannes Hitzelberger, Caroline Ebner
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Christoph Butterwegge, Armutsforscher und emeritierter Professor für Politikwissenschaft, Universität Köln;
Wilfried Hinsch, Professor für Philosophie, Universität Köln
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John Rawls - Vordenker einer gerechten Gesellschaft
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Literaturtipps:
Wilfried HINSCH, Die gerechte Gesellschaft – Eine philosophische Orientierung.
Kurze, aber umfassende und gut verständliche Abhandlung über die Idee der sozialen Gerechtigkeit und die Frage, wie sich unser Gerechtigkeitsverständnis entwickelt hat.
Richard WILKINSON und Kate PICKETT, Gleichheit ist Glück – Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind.
Die beiden britischen Wissenschaftler haben eine Fülle an statistischem Material ausgewertet und festgestellt, dass Gesellschaften, die weniger Ungleichheit aufweisen, auch weniger Kindersterblichkeit, weniger Kriminalität, weniger Drogenmissbrauch, weniger Gewalt, weniger Krankheiten etc. haben.
Thomas MORUS (Sir Thomas More), Utopia.
Für alle, die keine Angst vor alten Texten haben (geschrieben wurde das Büchlein 1515) und immer schon mal wissen wollten, wie das Leben in Utopia aussieht.
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK 1 (Z8046313101 Tobi Morare: Ghetto Beat 0‘54)
ZITATOR:
Das S in unserer Partei steht für den sozialen Zusammenhalt und für soziale Gerechtigkeit. (CSU)
ZITATORIN:
Gerechte Teilhabe am erwirtschafteten Ertrag ist das Gebot sozialer Gerechtigkeit und ökonomischer Vernunft. (SPD)
ZITATOR:
Deshalb ist es gerecht, dass die Stärkeren einen größeren Beitrag für unser Gemeinwesen leisten als die Schwächeren. (CDU)
ZITATORIN:
Ausuferndes Gewinnstreben und wachsende materielle Ungleichheit zersetzen die Gesellschaft von innen. (Die Linke)
ZITATOR:
Für uns ist das Prinzip der Fairness Voraussetzung und Maßstab der steten Suche nach Gerechtigkeit. (FDP)
ZITATORIN:
Gerechtigkeit meint auch Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern. (Die Grünen)
O-TON 1: (Butterwegge)
Die große Mehrheit der Bevölkerung strebt eigentlich danach, dass eine gerechtere Verteilung stattfindet in der Gesellschaft, und deshalb müssen die Parteien selbst dann, wenn sie beim Regierungshandeln davon wenig erkennen lassen, zumindest programmatisch dieses Ziel der sozialen Gerechtigkeit hochhalten.
ERZÄHLERIN:
… sagt Christoph Butterwegge, Armutsforscher und emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Universität zu Köln.
O-TON 2 (Butterwegge):
Parteien, die sagen würden, wir wollen mehr Ungerechtigkeit und mehr Ungleichheit schaffen, wir wollen das Privatvermögen des reichsten Mannes in der Bundesrepublik, Dieter Schwarz, Eigentümer von Lidl und Kaufland, Privatvermögen 41,8 Milliarden Euro, wir wollen das noch vergrößern und wir wollen gleichzeitig dafür sorgen, dass der Paketzusteller, der Fahrradkurier und der Getränkelieferant noch weniger verdienen, so ne Partei würde höchstens von den am meisten Privilegierten unterstützt.
MUSIK 2 (Z8039716115 Louis Edlinger/Tony Delmonte: Stay Calm 0‘48)
ERZÄHLERIN:
Seitdem Menschen über eine gerechte Ordnung von Gesellschaft und Staat nachdenken, geht es um die Frage:
Wie sind Macht und Einfluss, Güter und Einkommen, Lasten und Pflichten zu verteilen? Diese Frage beantwortet allerdings jeder anders. Denn das, was als gerecht oder als ungerecht empfunden wird, ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich und hängt ab von der persönlichen Situation. Wo die Verantwortung der Gesellschaft beginnt und wie weit sie gehen soll – beurteilen Menschen in den USA zum Beispiel ganz anders als in Skandinavien. Und für einen Linken bedeutet soziale Gerechtigkeit etwas völlig anderes als für einen Liberalen oder Konservativen.
O-TON 3: (Wilfried Hinsch)
Die einen sagen, wir müssen mehr Umverteilung vornehmen, die anderen sagen, nein, nein, wir brauchen mehr Ungleichheit, damit mehr produziert wird, dann gewinnen alle.
ERZÄHLERIN:
Wilfried Hinsch ist Professor für Philosophie und Autor des Buches
„Die gerechte Gesellschaft. Eine philosophische Orientierung“. Darin beschäftigt er sich unter anderem mit der Frage, welche Bedingungen gesellschaftliche Einkommens- und Vermögensverteilungen erfüllen müssen, um als gerecht gelten zu können.
O-TON 4: (Hinsch)
Erstens kann man feststellen, Menschen haben sehr verschiedene Auffassungen, es geht hoch her, wenn angesichts aktueller Probleme über Fragen sozialer Gerechtigkeit gesprochen wird. Denken Sie an diese hohen Extrazahlungen an Top-Manager, also die Emotionen gehen hoch und die Meinungen gehen weit auseinander. Und ich denke auch, dass man philosophisch am Ende keine einhellige Auffassung von sozialer Gerechtigkeit finden wird, so wie man verschiedene Auffassungen davon haben kann, wie man am besten die Gleichberechtigung von Männern und Frauen umsetzt.
ERZÄHLERIN:
Wenn über soziale Gerechtigkeit gestritten wird, geht es nicht allein um Fakten, sondern auch um die eigenen Wertvorstellungen und ethischen Normen. Jedem das Seine? Oder allen das Gleiche?
MUSIK 3 (Z8039716115 Louis Edlinger/Tony Delmonte: Stay Calm 0‘08)
ZITATOR:
Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es.
ERZÄHLERIN:
Das ist Artikel 1 in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, die nach der Französischen Revolution am 26. August 1789 verkündet wurden. Laut Wilfried Hinsch prägt diese Idee der Gleichheit unsere Vorstellung von einer gerechten Gesellschaft bis heute. Trotzdem vergrößern sich die sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten von Jahr zu Jahr. 3,2 Milliarden Menschen mussten 2022 mit weniger als 200 Dollar im Monat auskommen, heißt es im Welternährungsbericht der Vereinten Nationen. Elon Musk, einer der reichsten Menschen der Welt, verfügt über ein Vermögen von über 200 Milliarden Dollar.
Ist das gerecht? Ist es gerecht, dass Frauen in gleicher Position oft weniger verdienen als Männer? Ist es gerecht, dass die soziale Herkunft entscheidend ist für den Schulabschluss? Was bedeutet soziale Gerechtigkeit?
MUSIK 4 (Z80465531001 Caspar: Intro 0‘15)
ZITATOR:
Bedarfsgerechtigkeit
ZITATORIN:
Chancengerechtigkeit
ZITATOR:
Leistungsgerechtigkeit
ZITATORIN:
Verteilungsgerechtigkeit
ZITATOR:
Geschlechtergerechtigkeit
ZITATORIN:
Lohngerechtigkeit
MUSIK 5 (MR027040111 William Byrd: The Woods So Wild. Variations 1‘02)
ERZÄHLERIN:
Bereits 1515, also 174 Jahre vor der Französischen Revolution, verfasste der englische Jurist, Humanist und Politiker Sir Thomas More ein Büchlein mit dem Titel „Von der besten Staatsverfassung und über die neue Insel Utopia“. Darin beschreibt er das Leben auf einer fiktiven Insel, wo es keine Habgier gibt, weil niemand Wert auf persönlichen Besitz legt. „Das Land, was nirgends ist“, so die Übersetzung seiner Wortschöpfung Utopia ist sein Modell für eine gerechte Gesellschaft und zugleich Kritik an den Zuständen und der Politik seiner Zeit. Auf Utopia arbeiten die Menschen, und zwar Männer und Frauen gleichermaßen, nicht länger als sechs Stunden pro Tag, alle Kinder erhalten Schulbildung, es gibt gemeinschaftliche Mahlzeiten, aber weder Geld noch Handel.
ZITATOR:
Ebenso wundern sich die Utopier darüber, dass das Gold, das seiner Natur nach so unnütz ist, jetzt überall in der Welt so hochgeschätzt wird, dass der Mensch selbst viel weniger gilt als das Gold selber, und zwar so viel weniger, dass irgendein Dämlack, geistlos wie ein Holzklotz und ebenso schlecht wie dumm, trotzdem eine Menge kluger und braver Diener hat, allein deshalb, weil er zufällig einen großen Haufen Goldstücke sein Eigen nennt.
MUSIK 6 (Z8046313101 Megan Thee Stallion: Cobra 0‘45)
O-TON 6: (Yvonne)
Es sollte eigentlich keine Armut auf der Welt allgemein geben, weil es gibt so viele reiche Leute auf dieser Welt und die könnten was von ihrem Geld abgeben oder so, damit jeder gleich ist.
O-TON 7: (Bella)
z.B. Altenpfleger oder so, das ist ja eine körperliche sehr anstrengende Arbeit, die werden sogar unterbezahlt, z.B. jetzt Anwälte, die schreiben nur einen Brief und schicken die raus und kriegen dafür 150 Euro oder keine Ahnung wie viel, ich find das gar nicht in Ordnung, ganz ehrlich.
O-TON 8: (Ilayda)
Also die Reichen kriegen halt immer mehr, und die Armen kriegen halt gar nichts, und das merkt man halt auch.
O-TON 9: (Enise)
Gib ihnen doch einfach was ab! Ich verstehe nicht, warum es manchen Menschen einfach so schwerfällt, einfach etwas zu teilen. Nicht jeder hatte dieses Glück, was du hattest, die Chance wie du so viel Geld zu verdienen, dann gib doch einfach was ab. Das sind doch auch Menschen, wir sind doch alle Menschen.
ERZÄHLERIN:
Bella, Enise, Ilayda und Yvonne wissen genau, was es bedeutet, Geldsorgen zu haben – am Ende des Monats, wenn jeder Cent zweimal umgedreht werden muss. Die Designersachen der vier Mädchen, Statussymbole und Sinnbild für den sozialen Aufstieg, sind nicht echt. Die kaufen Enise und Ilayda in den Sommerferien bei Straßenhändlern in der Türkei. Bella und Yvonne fahren fast nie in Urlaub.
Von Fernreisen, dem Führerschein oder gar einem eigenen Auto können sie nur träumen. Auch Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge hat als unehelicher Sohn einer alleinerziehenden Mutter schon früh erfahren, dass manche Menschen gleicher sind als andere, weil das, was man hat, einen Unterschied macht.
O-TON 10: (Butterwegge)
Warum geben Reiche ungern ab? Das ist naheliegend. Durch Reichtum kann man natürlich sich ein schönes Leben machen, man hat dadurch viel mehr Möglichkeiten als je ein Armer hat, und es ist natürlich auch der soziale Status daran geknüpft, man gilt in der Gesellschaft natürlich auch mehr, wenn man reich ist, und deswegen werden die Reichen kaum freiwillig auf den Reichtum verzichten, …
ERZÄHLERIN:
… sagt der Armutsforscher. Und der Philosoph?
O-TON 11: (Hinsch)
Es gibt den Eigennutz, es gibt den Egoismus, es gibt dieses mehr haben wollen für sich selber, wobei dieses mehr haben wollen ja auch diese zwei Punkte hat, diese zwei Aspekte, einerseits will man einfach mehr haben, also mehr Kuchen, weil man möchte noch mehr Kuchen essen, aber manchmal will man auch mehr haben, weil man mehr haben will als die anderen. Es kommt einem gar nicht darauf an, jetzt mehr Kuchen zu haben, aber man will mehr Kuchen haben als der Nachbar.
MUSIK 7 (Z8038700120 Fatima Dunn / Tony Delmonte /Beda Thornton: Thoughts Through The Window (Main) 0‘38)
ZITATOR:
Die Gleichheit und Gerechtigkeit wollen, sind immer die Schwächeren, während die Stärkeren sich über diese Dinge keinen Kummer machen.
ERZÄHLERIN:
… meinte Aristoteles, der vor mehr als 2.000 Jahren die Grundlagen für unser Verständnis von Gerechtigkeit legte. Für den griechischen Philosophen ist sie eine Tugend, die den guten Menschen kennzeichnet. Wer gerecht handelt, tut etwas für andere und denkt nicht nur an sich selbst, strebt also nicht nach persönlichen Vorteilen. Aristoteles unterscheidet dabei:
O-TON 12: (Hinsch)
Die Gerechtigkeit des Umgangs miteinander, die sogenannte kommutative Gerechtigkeit, und die Gerechtigkeit der Verteilung. Von Gütern, Einkommen, Weizen, aber auch Verteilung von Land, Pflichten und dergleichen, aber das Entscheidende war, dass aus einer aristotelischen Perspektive, Gerechtigkeit eine persönliche Tugend ist und dass damit der Fokus der Diskussion im Grunde auf der Frage: Verhalten sich einzelne Personen gerecht oder ungerecht lag.
ERZÄHLERIN:
Ein Unternehmer, der seine Angestellten und Arbeiter nicht ausbeutet, sondern ordentlich entlohnt, handelt also im Sinne von Aristoteles gerecht und tugendhaft. Genauso wie Menschen, die Notleidenden wohltätig unter die Arme greifen. Dass aber nicht nur der Einzelne, sondern der Staat, also die Gemeinschaft aller, als übergeordnete Instanz eingreifen könnte oder sollte, um das Problem der ungleichen Verteilung zu lösen, spielte in philosophischen Überlegungen lange Zeit keine Rolle.
O-TON 13: (Hinsch)
Das eine ist, dass es über weite Strecken der Geschichte, auch bis ins 19. Jahrhundert hinein, doch die vorherrschende Vorstellung gab, besonders verstärkt durch das Christentum, dass Armut im Grunde immer verdiente Armut ist. Also Armut als Strafe Gottes. Und dass es eine ganze Weile brauchte, bis der überwiegende Teil der Bevölkerung und der überwiegende Teil der Politiker zu der Überzeugung kam, dass es unverschuldete Armut gibt.
MUSIK 8 (R0011480005 Etienne Nicolas Méhul: Ouvertüre aus „La Chasse du jeune Henri“ 1‘09)
ERZÄHLERIN:
Einer, der bereits früh erkannte, dass Reichtum und Armut nicht unbedingt auf Verdiensten oder Versäumnissen beruhen, war Marie Jean Antoine Nicolas Caritat, Marquis de Condorcet. Der Philosoph, Mathematiker und liberale Aufklärer setzte sich nicht nur für die Gleichberechtigung von Frauen und die Abschaffung der Sklaverei ein. In seinem 1794 erschienenen „Entwurf eines historischen Gemäldes der Fortschritte des menschlichen Geistes“ fragt sich der Marquis, ob die ungerechten Einkommens- und Vermögensverhältnisse und die Unfähigkeit des Staates, dagegen vorzugehen, eines Tages Vergangenheit sein werden?
ZITATOR:
„Um jener wirklichen Gleichheit, dem letzten Zwecke der Staatskunst, zu weichen, welche nur noch eine solche Ungleichheit bestehen lässt, die im Interesse aller nützlich ist, weil sie die Fortschritte der Zivilisation, des Unterrichts und der Industrie begünstigt, ohne weder Abhängigkeit noch Herabwürdigung, noch Verarmung nach sich zu ziehen?
O-TON 14:
Und dann hat er die Idee gehabt, die im Grunde auch allen unseren Versicherungssystemen, also nicht nur der Sozialversicherung, sondern auch der Gesundheitsversicherung zugrunde liegt, nämlich dass wir uns doch versichern können gegen die Lebensrisiken, vor denen wir stehen. Dass wir soziale Gerechtigkeit als eine Versicherungsangelegenheit betrachten.
ERZÄHLERIN:
Condorcet plädiert für eine Art Pflichtversicherung, in die alle einzahlen. Ausgezahlt wird nur im Fall von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Unfall oder frühzeitigem Tod des Ernährers, damit die betroffene Familie nicht verarmt. Damit war der französische Philosoph ein früher Wegbereiter für den Sozialstaat, wie er heute in vielen Ländern besteht. Der Begriff der sozialen Gerechtigkeit taucht in der Philosophie allerdings erst rund 150 Jahre später auf. Mitte des 19. Jahrhundert schreibt der Jesuit Luigi Taparelli d’Azeglio, einer der Begründer der katholischen Soziallehre, angesichts der katastrophalen Arbeits- und Lebensbedingungen der armen Bevölkerung während der Industrialisierung erstmals über „giustizia sociale“.
O-TON 15: (Hinsch)
Also Not und Elend derjenigen, die nicht in privilegierten gesellschaftlichen Positionen lebten. Und dann kamen natürlicherweise Forderungen nach größerer Gleichstellung, nach Verhinderung von Verelendung und dergleichen auf und das ist das, was man seitdem mit der Idee der sozialen Gerechtigkeit verbindet. Und diese Idee wurde im Grunde erst mit der großen Wirtschaftskrise Ende der 20er Jahre und mit dem New Deal von Roosevelt in den Vereinigten Staaten wirklich voll erfasst und umgesetzt.
ATMO: Börsenglocke + Börsenatmo
ZITATORIN:
Wall Street in Panic as stocks crash. Billions lost.
MUSIK 9 (Z8035054114 Paul Whiteman & His Orchestra: Sweet Sue, Just You 0‘12)
ZITATOR:
Wallstreet in Panik. Milliardenverluste!
ERZÄHLERIN:
… titelt der „Brooklyn Daily Eagle“ in der Spätausgabe vom 29. Oktober 1929.
MUSIK 10 (Z9457573208 Bix Beiderbecke & His Gang: At The Jazz Band Ball 0‘28)
ZITATORIN: (kurz frei, dann als Atmo unter Erzählerin)
Wallstreet was in a panic today, with no one to guide it out. Stocks broke terrifically without any support whatever.
ERZÄHLERIN:
Es ist der Tag, der in Amerika als Schwarzer Donnerstag und in Europa als Schwarzer Freitag in die Geschichtsbücher eingeht. Der Crash der New Yorker Börse markiert den Beginn der schwersten Wirtschaftskrise des 20. Jahrhunderts. Innerhalb weniger Stunden stürzen die Aktienkurse ins Bodenlose. Banken sind zahlungsunfähig, Geschäfte und Fabriken schließen ihre Pforten. Millionen Menschen verlieren ihr Vermögen, ihren Besitz, ihren Arbeitsplatz. Dazu kommt eine verheerende Dürre im Mittleren Westen Amerikas, die viele Landwirte in den Ruin treibt und eine Hungersnot auslöst.
O-TON 16: (Hinsch)
Und diese beiden Ereignisse haben Roosevelt klar vor Augen geführt, dass es Dinge gibt, die sozusagen einzelmenschlich nicht bewältigbar sind und die auch einzelne Wohltätigkeitsorganistionen, Charitys oder christliche Einrichtungen, die sich um notleidende Menschen kümmern, mit denen sie nicht zurechtkommen können, hier muss etwas sehr viel Massiveres geschehen.
ERZÄHLERIN:
Der sogenannte „New Deal“ bezeichnet eine Reihe von Reformen, die die Not der Menschen lindern und die Wirtschaft ankurbeln sollen. Abgesehen von zinsgünstigen Krediten für Landwirte und Unternehmer und der Erhöhung des Spitzensteuersatzes von 25 auf 79 Prozent, werden den Banken riskante Wertpapiergeschäfte untersagt und Einlagensicherungsfonds für Sparguthaben eingerichtet. Zeitweise arbeiten rund sieben Millionen Amerikaner in Jobs, die der Staat geschaffen hat, und fast jeder Fünfte bezieht staatliche Hilfsleistungen. Wie erfolgreich Roosevelts New Deal am Ende tatsächlich war, ist allerdings umstritten.
O-TON 17: (Hinsch)
Es wird aber praktisch von niemanden bezweifelt, dass der New Deal insgesamt es geschafft, hat, erstens den Glauben in die Fähigkeit einer liberalen Demokratie, auch mit schweren Krisen zurechtzukommen, bewiesen hat und zweitens, dass ein wesentliches Element darin besteht, dass der Staat massive wirtschaftliche Unterstützung leistet für große Teile der Bevölkerung.
ERZÄHLERIN:
Die sozialen Unterschiede in der Gesellschaft korrigierte der New Deal jedoch nicht. Dabei wird längst nicht jede Ungleichheit auch als ungerecht wahrgenommen. Für den Philosophen Wilfried Hinsch ist Ungleichheit in Einkommen und Vermögen zum Beispiel gerechtfertigt, wenn sie nicht nur dem Einzelnen, sondern allen Vorteile bringt. Auch Armutsforscher Butterwegge findet nicht, dass alle gleich viel verdienen und besitzen müssen.
O-TON 18: (Butterwegge)
Also es soll schon Unterschiede in der Gesellschaft geben, aber sie müssen natürlich im Rahmen bleiben, d.h. wenn der Vorstandsvorsitzende 268-mal so viel verdient wie ein Arbeiter, der in seinem Konzern tätig ist, dann hat das mit sozialer Gerechtigkeit nichts mehr zu tun. Wenn der Arzt, sagen wir mal, weil er eine längere Ausbildung hat, weil er mehr Verantwortung trägt, wenn der doppelt so viel verdient, wie die Krankenschwester dann finde ich das akzeptabel.
MUSIK 11 (Z8046363105 Will Dorey: Care About Me 0‘37)
ERZÄHLERIN:
Erst wenn es für Ungleichheit keine zufriedenstellende Begründung gibt, entsteht der Eindruck, das sei ungerecht. Und dabei geht es nicht nur um die Verteilung von Einkommen und Vermögen, sondern auch um die Möglichkeiten, etwas aus seinem Leben zu machen. Für den Philosophen John Rawls muss soziale Gerechtigkeit darum immer auch das Glück der Menschen berücksichtigen, die am schlechtesten gestellt sind. In seinem 1971 erschienenen Buch „A Theory of Justice“ entwickelt der US-Amerikaner die Idee von Gerechtigkeit als Fairness.
O-TON 20: (Hinsch)
Dazu gehört auch diese Idee, dass Ungleichheit rechtfertigungsbedürftig ist. Die Idee, dass wir eine Gesellschaft haben wollen, in der sich Menschen gegenübertreten, die mit Selbstachtung und Selbstvertrauen ihr Leben bestreiten können und miteinander umgehen können.
ERZÄHLERIN:
Soweit die Theorie. Die Realität sieht allerdings anders aus. Dazu ein paar Zahlen aus der Statistik: 2020 schafften 35 Prozent aller deutschen Schüler und Schülerinnen das Abitur. Bei Schülern mit ausländischen Wurzeln waren es 14 Prozent. Also weniger als die Hälfte. Christoph Butterwegge:
O-TON 21: (Butterwegge)
Es ist nicht so, dass ein Kind aus einer Familie des Paketzustellers die gleichen Chancen hat wie das Kind, das aus einer Großunternehmerfamilie kommt, wo eine Villa ist, ist auch ein Weg zum Abitur, zum Studium und zur beruflichen Karriere, und es ist ganz klar, dass da Kinder aus reichen Familien viel bessere Startchancen haben.
ERZÄHLERIN:
In kaum einem anderen westlichen Land sind die Bildungserfolge der Kinder so stark mit dem sozialen Status der Eltern verknüpft wie in Deutschland. Niedriges Einkommen oder ein Migrationshintergrund sind die größten Hindernisse für einen erfolgreichen Schulabschluss.
MUSIK 12 (Z8045759106 Sensorama: New Aged 1‘00)
O-TON 22: (Enise)
Diese allgemeine Bildung, Beispiel, wenn deine Eltern Arzt oder Anwalt oder so sind und du wächst dann in so einer Familie auf, dann wachsen diese Kinder schon meistens disziplinierter auf und wissen schon von Anfang an, lernen ist wichtig oder später was zu erreichen und erfolgreich zu werden oder mit dem Beruf Karriere zu machen, das wissen die schon von Anfang an, dass das wichtig ist, weil die ihre Eltern als Vorbild haben.
ERZÄHLERIN:
Wer nicht über ein akademisches Bildungserbe von Eltern und Großeltern verfügt, hat in der Schule schlechte Karten und braucht auf Chancengleichheit nicht zu hoffen.
O-TON 23: (Bella)
Ich kann vermuten, was es bedeuten könnte, also Chancengerechtigkeit, dass jeder eine Chance verdient, eine gerechte Chance sozusagen, so wie jeder andere Mensch gleichbehandelt wird, so stelle ich mir das vor.
O-TON 24: (Yvonne)
Dass jeder die gleiche Chance hat, das zu machen, was er will und das zu erreichen, was er will, dass jeder, egal jetzt ob Junge oder Mädchen, dass die gleichbehandelt werden, und dass nicht einer besser behandelt wird.
O-TON 25: (Hinsch)
Soziale Gerechtigkeit ist wie viele ethische oder sozial-ethische Ideale eine Frage der Abstufung, also es gibt mehr oder weniger davon, und ganz sicher gibt es auch in Gesellschaften, die wir nicht als himmelschreiend ungerecht betrachten würden, wie die deutsche Gesellschaft, gibt es gleichwohl gravierende Ungerechtigkeiten. Etwa in den Bildungschancen von Menschen, aber auch allgemeiner in den Chancen der Selbstverwirklichung und die Möglichkeiten eigene Lebenspläne zu entwickeln und dann auch zu verfolgen.
O-Ton 26: (Butterwegge)
Wenn der Gegensatz zwischen Arm und Reich so ausgeprägt wie bei uns, dass auf der einen Seite, 150 oder 200 Multimilliardäre existieren und auf der anderen Seite, die Armut sich immer mehr in die Mitte der Gesellschaft hinein ausbreitet, dann gibt es wenig soziale Gerechtigkeit. Soziale Gerechtigkeit hieße, es muss Umverteilung von oben nach unten geben, damit der Reichtum gerechter verteilt ist und damit mehr Menschen die Möglichkeit haben in dieser reichen, wohlhabenden Gesellschaft gut zu leben und damit natürlich auch ein glücklicheres Leben zu führen.
MUSIK 13 (Z8046012101 Conrad Oleak / Marcel Rainer: Reading The Indictment (full) 1‘12)
ERZÄHLERIN:
Alle Menschen sind gleich. Aber inwiefern? Als politische Zielsetzung und gesellschaftliche Wunschvorstellung wird soziale Gerechtigkeit von nahezu niemandem in Frage gestellt. Trotzdem ist soziale Ungleichheit schon lange ein Merkmal menschlicher Gesellschaften. Und was konkret unter sozialer Gerechtigkeit zu verstehen ist und inwieweit soziale und ökonomische Ungleichheiten gerechtfertigt sind oder von staatlicher Seite abgefedert werden müssen – darüber gehen die Meinungen weit auseinander.
O-TON 27: (Butterwegge)
Es sollte ja in der Gesellschaft ein Diskurs darüber stattfinden, was soziale Gerechtigkeit ist und wie man sie am besten verwirklicht, wenn es darüber nicht unterschiedliche Meinungen gäbe, wäre das ja eine sehr langweilige Gesellschaft, gerade im Kapitalismus ist es nötig, dass man sich darüber klar wird, was sozial gerecht wäre und wie man es vielleicht auch politisch in die Wege leitet. ...Darüber sich zu streiten, sich auseinanderzusetzen, das macht eigentlich Demokratie aus.
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