Kriegsenkel - Das besondere Erbe dieser Generation
Transgenerationale Weitergabe nennen Psychologen das Phänomen der emotionalen Weitergabe von Kriegserlebnissen während des Zweiten Weltkriegs, von dem wohl rund ein Drittel der Kriegsenkel betroffen ist. (BR 2017) Autorin: Daniela Remus
Credits
Autorin dieser Folge: Daniela Remus
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Christiane Roßbach, Johannes Hitzelberger, Carsten Fabian, Rahel Comtesse, Peter Veit
Technik: Gerhard Wicho
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Sabine Bode, Journalistin, Köln;
Christina Kanese, Finanzberaterin, Hamburg;
Matthias Lohre, Journalist, Berlin;
Prof. Hartmut Radebold, Altersforscher, Kassel;
Prof. Luise Reddemann, Psychoanalytikerin, Köln
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Musik „Lethargia (more red)“, Matthias Deger/Andreas Suttner
Take 1 (O-Ton Lohre)
„Es war immer eine bleierne Atmosphäre bei uns zu Hause, weil unser Vater doch die Ruhe haben wollte und weil unsere Mutter doch letztlich auch Ruhe haben wollte und immer Angst hatte, dass unser Vater noch wütend wird.“
Musik kurz freistehend
Take 2 (O-Ton Kanese)
„Warum hatte ich so eine Angst davor, als junges Mädchen ver¬ge¬waltigt zu werden? Natürlich klar, ist das so in der Gesellschaft, pass auf und so, aber es ist eine ganz reale Angst, obwohl nie in irgendeiner Form irgendwas mal ge¬we¬sen ist, ich habe wirklich keine Angst haben müssen, wo man dann auch irgendwie denkt, wo kommt das her?“
Musik endet / Musik „Torture chamber“, Andreas Suttner/Anselm C. Kreuzer
Erzählerin:
Die Finanzexpertin Christina Kanese und der Journalist Matthias Lohre wurden 1973 und 1976 geboren. Ihre Eltern haben den Zweiten Weltkrieg als Kinder erlebt. Mit Nächten im Bombenkeller, Todesangst und Panik. In bren¬nen¬den Städten, bei eisiger Kälte, auf der Flucht oder als Flakhelfer.
Erzähler:
Millionen Menschen waren damals diesen Kriegs¬er¬eig¬nissen aus¬ge¬setzt, darunter auch etwa 16,5 Millionen Kinder. Diese Kriegs¬kinder starteten nach 1945 in das Nachkriegsleben.
Musik endet
Werbe-Trailer-Collage, 99233330 Z00 – endet unter dem nachfolgenden Text
Musik „Prophecies“, Anton Batagov, beginnt unter dem nachfolgenden Text
Erzählerin:
Auch wenn Wirtschaftswunder, Vollbeschäftigung, Wohlstand, Fleiß und funktionierende Demo¬kra¬tie eine große Erfolgsgeschichte zu sein schienen, sind doch viele dieser Kriegs¬kinder die Schrecken und Traumata, die sie als passiv Beteiligte des Krieges erfuhren, nie ganz losgeworden. Sie haben sie in sich vergraben, abgekapselt und verdrängt. Und oft un¬be¬wusst an ihre Kinder übertragen.
Erzähler:
Trans¬ge¬ne¬ra¬tio¬nale Weitergabe nennen die Psychologen und Psychotherapeuten dieses Phänomen, das aus der Trauma¬for¬schung bekannt ist. Hierzulande hat es jahrzehntelang nie¬man¬den interessiert. Erst seit wenigen Jahren ändert sich das: Die Generation der Kriegs¬¬en-kel erforscht nun, wie die Kriegser¬leb¬nisse ihrer Eltern das Fa-milienleben geprägt haben:
Musik endet
Take 3 (O-Ton Bode)
„Es gibt Sätze die immer wieder auftauchten: Nummer Eins, ich kann meine Eltern emotional nicht erreichen. Das Zweite ist: Ich habe Ängste, die sich durch meine Biographie nicht erklären lassen, ich bin ganz normal aufgewachsen. Das sind Ängste, die ich schlecht steuern kann, ich weiß nicht, wo sie her¬kom¬men. Das Dritte ist, nicht so recht Boden unter den Füßen zu haben, das Vier¬te ist, nicht im eigenen Leben angekommen zu sein, gar nicht zu wis¬sen, wo man wirklich zu Hause ist.“
Erzählerin:
So schildert Sabine Bode, was Kriegsenkel an sich wahrnehmen. Die 1947 geborene Journalistin war eine der ersten, die sich gefragt hat, welche Spuren der Zweite Weltkrieg bei den Kriegs¬kindern und deren Kindern hinterlassen hat.
Erzähler:
Dass viele Kin¬der und Jugendliche durch den Zweiten Welt¬krieg seelisch schwer be¬¬schä¬digt und belastet worden seien, wird jetzt sichtbar. Z. B. durch die gehäuften Depressionen und Suizide in der Gene¬ra¬tion der Kriegs¬kinder. Dass viele von ihnen, selbst im hohen Alter, die Kriegs¬er-in¬¬nerungen aber noch immer zu verdrängen versuchen, ist für die Traumaforscherin und Psychoanalytikerin
Luise Reddemann aus Köln durchaus nachvollziehbar. Denn diese Menschen waren damals in jungen Jahren passiv Beteiligte eines Krieges, für den ihre
Eltern¬ge¬ne¬ration politisch verantwortlich war. Das hat in der damaligen Zeit viele von ihnen in psychische Konflikte gestürzt.
Take 5 (O-Ton Reddemann)
„Das andere ist aber auch, dass wir aus der Traumatherapie wissen, dass die Menschen eine Zeit brauchen, vor allem erstmal äußerlich wieder zur Ruhe zu kommen, d.h. wieder in Sicherheit zu sein, nach schlimmen traumatischen Erfahrungen, und dass man sich da dann häufig nicht auseinandersetzen kann mit dem Schlimmen.“
Musik „Prophecies“, Anton Batagov
Erzählerin:
Und genau das tun auch immer mehr Kinder der Kriegskinder. Zu diesen sogenannten Kriegsenkeln gehören etwa 20 Millionen Menschen, die zwischen 1955 und 1975 geboren wurden. Viele von ihnen fühlen sich als unfreiwillige Erben des Zweiten Weltkriegs.
Erzähler:
Manche schrei¬ben auto¬biographische Bücher, wie der Journalist Matthias Lohre, andere arbeiten ihre Familiengeschichte in Thera¬pien auf, wieder andere, wie die Finanzexpertin Christina Kanese, treffen sich in Ge¬sprächsgruppen oder grün¬den Vereine, tauschen sich in Internet-Foren aus oder veranstalten Ta¬gungen zum Thema. Denn viele der sogenannten Baby¬boomer, heute ungefähr zwischen 40 und 60 Jahre alt, blicken zwar auf eine Kind¬heit in Wohlstand und Frieden zurück, beklagen aber gleichzeitig eine emotionale Kälte, Gewalt, Schweigen, Familien¬geheimnisse und diffuse Ängste.
Erzählerin:
Dass das nicht auf die übersteigerte Selbstbeschau einer verwöhnten Generation zurückzuführen ist, bestätigen die wenigen wissenschaftlichen Untersuchungen, die es dazu gibt. Auch Berichte von Psycho¬the¬rapeu¬ten, Psychoanalytikern und Traumaforschern, die mit diesen Menschen arbeiten, bezeugen das.
Musik endet unter dem nachfolgenden O-Ton
Take 6 (O-Ton Bode)
„Das Interessante ist, dass diese Gruppe sich den Namen selbst ge¬ge-ben hat. Das gibt es ja normalerweise nicht, dass plötzlich aus der Gesellschaft Menschen sich zusammentun, und sich ge¬ne¬ra¬tions¬bezogen dann auch noch einen recht originellen Namen geben, nämlich Kriegs¬-enkel. Ich habe den nicht erfunden! Das heißt, es gibt da ganz of¬fen¬-sichtlich Bedarf, sich um etwas zu kümmern, was bislang im Schat¬ten gelegen hat.“
Musik „Angst 1“ und „Angst 3“, László Dobos/Michi Koerner sowie
Atmo Zweiter Weltkrieg beginnen unter dem nachfolgenden Text
Erzählerin:
Die eigene Familiengeschichte nämlich, im Schatten des Zweiten Weltkriegs:
Zitatoren:
– Fast tausend Städte und Orte werden bombardiert, fast die Hälfte aller Häuser dabei zerstört
– 2,5 Millionen Kinder werden ab 1940 im Rahmen der Kinder-landverschickung aus den städtischen Ruinen aufs Land geschickt
– Mindestens 10 Millionen Menschen, vor allem Frauen und Kinder, sind 1945 aus den sogenannten Ostgebieten auf der Flucht
– Mindestens 1,9 Millionen Frauen und Mädchen werden vergewaltigt, so die Schätzungen der Historiker
– 500.000 Kinder sind nach dem Krieg Vollwaisen
– 20 Millionen Kinder und Jugendliche leben nach dem Krieg als Halbwaisen
Musik und Atmo enden / Musik „Time suspension“, Dru Masters
Erzählerin:
All das hinterlässt Spuren: Wissenschaftler gehen davon aus, dass mindestens ein Drittel der Kriegskinder psychisch schwer belastet und sogar jeder Zehnte regelrecht traumatisiert ist. Für deren Kinder mitunter eine schwere Belastung, die die ganze Kindheit überschattet.
Musik endet
Erzähler:
Auch die Eltern von Matthias Lohre sind Kriegskinder. Der Journalist, 1976 in einem Dorf im Münsterland geboren, hatte schon als kleines Kind das Gefühl, seine Eltern emo¬tional nicht zu erreichen. Deshalb wollte er einfach nur weg und zog nach der Schule so schnell wie möglich fort. Heute lebt er in Berlin.
Take 7 (O-Ton Lohre)
„Meine Eltern waren zwar komisch, seltsam, ich habe sie nicht verstanden, und sie waren wortkarg und eine ganz andere Welt, aber das habe ich darauf geschoben, dass meine Eltern vergleichsweise alt waren. Ich bin das jüngste von fünf Kindern, meine Mutter war 38 als ich zur Welt kam, mein Vater 44.“
Erzählerin:
Doch was auch immer Matthias Lohre in der Folgezeit unternahm, wie sehr er sich anstrengte, ob er Bücher schrieb oder Reportagen, ob er viel Geld verdiente oder eine anspruchsvolle Stelle bekam, er fühlte sich innerlich getrieben und hatte das Gefühl, seine Anstrengungen wären nichts wert:
Take 8 (O-Ton Lohre)
„Das Komische war: Immer wenn ich irgendetwas erreicht hatte, von dem ich vorher gedacht hatte, das wird mich glücklich machen, dann ist das plötzlich zu einem grauen Nichts zerflossen.“
Erzählerin:
Je älter er wurde, desto unglücklicher wurde Matthias Lohre mit dieser Situation. Obwohl er gleichzeitig das dringende Gefühl hatte, er dürfe nicht jammern, ihm ginge es doch gut! Ein Gefühl, das viele Kriegs¬enkel an sich beobachten:
Un¬bewusst ver¬gleichen sie ihr Leben mit dem ihrer Eltern und verbieten sich zu
kla¬gen, weil sie ja keiner exis¬ten¬tiellen Not aus¬ge¬setzt waren und sind.
Erzähler:
Erst als der Vater von Matthias Lohre 2012 bei einem Auto¬unfall ums Leben kommt, fragt sich der Journalist, ob die per¬¬ma¬nente Unzufriedenheit, die Angst, nicht genug zu leisten, etwas mit seinen Eltern zu tun haben könnten. Und erkennt plötzlich Pa¬ral¬lelen:
Take 9 (O-Ton Lohre)
„Kriegskinder wie Kriegsenkel halten ihre Leben aus. Sie versuchen durchzuhalten, wie das die Kriegskinder im Krieg ausgehalten haben und die Kriegsenkel tun das in gewisser Weise auch. Was meine ich mit aushalten? Damit meine ich, dass sie versuchen, Leistung zu bringen, weil sie gemerkt haben, dass Leistung gegenüber den Eltern oder auch in der Schule oder im Job, dass das ihnen die soziale Anerkennung bringt.“
Erzähler:
Heile Welt, Sicherheit, Geborgenheit und Ruhe, danach haben sich viele Kriegskinder gesehnt. Denn genau das haben sie in ihrer Kind¬heit häufig schmerzlich vermisst. Von ihren Eltern und Familien gab es wenig Trost, sie sollten tapfer sein. Diese Eltern hatten mit sich selbst genug zu tun, und auch die NS-Ideologie war noch höchst lebendig, wie die Kölner Psychotherapeutin
Luise Reddemann erklärt, die selbst 1943 geboren wurde:
Take 10 (O-Ton Reddemann)
„Die ganze Nazi-Erziehung, würde ich sagen, die hat ja auf sehr viele Menschen eingewirkt und dieses Härte-Denken, also, dass man keine Gefühle zeigen durfte, dass man auch als Individuum nix galt, ‚Du bist nichts, dein Volk ist alles‘ und ‚hart wie Kruppstahl sein‘, alle diese Sachen, die spielen meines Erachtens eine ganz große Rolle für die Kriegskindergeneration.“
Erzählerin:
Raum für ihre Ängste und Sorgen bekommen die Kriegskinder von der Elterngeneration in der Regel nicht.
Take 11 (O-Ton Radebold)
„Wenn man sich die Situation dieser Kinder während und kurz nach dem Krieg anguckt, so sind sie ja zu einem großen Teil erst einmal verstört, sie sind abgemagert, sie sind hungrig, sie sind schlecht versorgt mit allem.“
Erzähler:
Viele dieser Kinder waren direkt nach dem Kriegsende voller Ängste, sie schreckten nachts auf und konnten sich schlecht konzentrieren, sagt der Psychoanalytiker Hartmut Radebold. Aber schon wenige Jahre später, 1949, haben diese Kriegs¬kinder nichts Auffälliges mehr an sich, das zeigen die Berichte aus einem Kinder¬heim auf der Insel Langeoog. Radebold erklärt das mit psychischen Ab¬wehr¬me¬chanismen:
Take 12 (O-Ton Radebold)
„Sie haben generalisiert: Das haben doch alle erlebt. Sie haben bagatellisiert: Das war doch nicht so schlimm. Sie haben Verkehrung ins Gegenteil, d.h. sie haben die abenteuerlichen Geschichten erzählt, aber nicht Angst, Panik und Kummer, sie haben aufgespalten in Inhalt und Affekt.“
Erzählerin:
Deshalb ist es den Kriegskindern zum überwiegenden Teil gelungen, sich – äußerlich be¬trach¬tet – völlig „normal” im Sinne von unauffällig, weiter zu entwickeln.
Take 13 (O-Ton Radebold)
„Und sie haben sich identifiziert mit den Ansichten der Familie, d. h. was die ideologisch, zum Teil auch noch aus dem Dritten Reich, was die Familie vermittelt hat, das war sozusagen ein Halt, der nicht kritisch hinter¬fragt werden konnte. Mit diesen Abwehrmechanismen haben sie das, was sie erlebt haben, unter einer stabilen seelischen Betondecke ver¬gra¬ben, haben funktioniert. Aber das war natürlich eine Pseudo-, oder eine pathologische Normalität, die sie hatten.“
Erzählerin:
Die Pseudo-Normalität funktionierte, weil der Schrecken abgespalten, beschwiegen und verdrängt wurde. Und weil der emotionale Bezug dazu fehlte, erlaubten es sich die Kriegskinder nicht, über ihre Verluste und Erlebnisse zu trauern, sich ihre Ängste einzugestehen oder ihre Wut. Selbst dann nicht, als sie schon längst erwachsen waren, berufstätig und mit einer eigenen Familie.
Musik “Lethargia (more red)“, Matthias Deger/Andreas Suttner
Erzähler:
All das unausgesprochen Erlebte aber ist es, was die Kriegsenkel in ihren Familien gespürt haben und zum Teil bis heute noch spüren: beklemmende Familienfeste, freudlos und ver¬¬krampft, übertriebenes Spar- und Sicher¬heits¬bedürfnis oder emotionale Kälte beispielsweise. Das alles hat die Kriegsenkel-Generation ver¬unsichert und verursacht gleichzeitig Schuldgefühle. Denn die Kriegsenkel sind sich sehr bewusst, dass sie im Vergleich zu ihren Eltern, äußerlich betrachtet, ein sehr privilegiertes, friedliches Leben führen, ohne Hunger, Angst und Schrecken:
Musik unter dem nachfolgenden O-Ton ausgeblendet
Geräusch Klimaanlage
Take 14 (O-Ton Kanese)
„Auch wenn ich meinen Vater frage, das ist halt ein typisches Kriegskind, wie hast Du denn das erlebt: ‚Ach ja, da kann ich mich gar nicht mehr erinnern‘, also da kommt einfach nicht viel…“
Erzähler:
…erzählt Christina Kanese. Die 1973 geborene Volkswirtin arbeitet heute als selbstständiger Finanz-Coach in Hamburg:
Take 15 (O-Ton Kanese)
„…ansonsten hab ich ein sehr gutes Verhältnis zu meinem Vater, aber ich hab früher immer gedacht, das hängt damit zusammen, dass meine Mutter so früh gestorben ist, und dass er natürlich auch über dieses Thema nicht gerne redet, aber dann hab ich gemerkt, das ist speziell dieses Thema, Krieg…“
Geräusch endet
Erzählerin:
Christina Kanese hatte den Eindruck, sie solle irgendetwas nicht er-fahren. Trotz zahlreicher Gespräche be¬kam sie zur Fa¬milien¬geschichte nicht mehr als ein paar dürre Fakten zusammen: Die Mutter habe als Vier¬¬jährige aus Schlesien fliehen müssen, der Vater sei den üblichen Bom¬¬benangriffen ausgesetzt gewesen. Bei der Finanzexpertin ver¬fes-tigte sich das Gefühl, von ihrer Familiengeschichte ab¬geschnitten zu sein.
Erzähler:
Gleichzeitig litt sie aber unter massiven Ängsten, die sich keiner er¬klä-ren konnte und die ihr Lebensgefühl deutlich beeinträchtigten. Erst als sie von einer Freundin ein Buch zum Thema Kriegsenkel geschenkt bekam, begriff sie beim Lesen, dass auch sie von den Spät¬folgen der elterlichen Kriegserlebnisse betroffen ist:
Geräusch Klimaanlage
Take 16 (O-Ton Kanese)
„Je mehr ich da Licht reingebracht habe, ich für mich mehr erklären konnte, aha, da haben die, meine Mutter, meine Oma, wahrscheinlich richtig schlimme Dinge erlebt, und das für mich auch so eine Erklärung war, warum ich bestimmte Ängste habe, so, die rein objektiv überhaupt nicht erklärbar sind. Warum hatte ich so eine Angst davor, als junges Mädchen ver¬ge¬waltigt zu werden?“
Erzähler:
Eine emotionale Achterbahnfahrt sei die Auseinandersetzung mit dem Thema gewesen, so beschreibt Christina Kanese es heute, aber auch extrem erhellend:
Take 17 (O-Ton Kanese)
„Das war für mich dann so richtig eine Erkenntnis, dass ich dachte, ah, jetzt konnte ich es mir erklären, und dadurch konnte ich es auch ein Stück¬weit so ein bisschen beiseite packen, aha, das kommt da her, und dadurch hab ich auch so ein bisschen Frieden damit auch geschlossen.“
Geräusch endet
Erzählerin:
Heute versteht sie ihre Ängste, hat sie im Griff und tauscht sich mit anderen Kriegs¬enkeln in einer Gesprächsgruppe aus. Und stellt dabei immer wieder fest: Sie ist nicht allein, die familiären Erfahrungen der Kriegskinder-Generation sind sich auf ganz frappierende Weise ähnlich.
Zitatoren-Collage (mit Hall):
Ihr sollt es doch einmal besser haben!
Wir meinen es doch nur gut mit euch!
Sei doch nicht so undankbar!
Was sollen die Nachbarn denken?
Geh bloß kein Risiko ein!
Musik „Prophecies“, Anton Batagov
Erzählerin:
Nachkriegsfamilien¬ge¬schichten ähneln sich. Vieles, was als Eigenart der eigenen Eltern wahr¬¬genommen wurde, ist offenbar keine in¬dividu¬elle Besonderheit, sondern eine der Generation Kriegskinder, so die Erfahrungen der Kriegsenkel Matthias Lohre und Christina Kanese:
Geräusch Klimaanlage
Take 18 (O-Ton Kanese)
„Das ist schon auch ein Tabuthema, da spricht man einfach nicht gerne drüber und auch so ein bisschen so, nee, das lassen wir jetzt hinter uns und wir gucken nach vorne!“
Geräusch endet
Erzähler:
Auch der Journalist Matthias Lohre, Jahrgang 1976, brauchte einige Jahre, um zu begreifen, was das Verhältnis in seiner Familie so beschwert hat und an welchen Punkten er trotzdem die Verhaltensweisen und Ängste seiner Eltern übernommen hat.
Erzählerin:
Kalt, abweisend, unpersönlich und verschlossen, so erlebte Matthias Lohre seinen Vater. Seine Mutter dagegen war in einer dauerhaften und überbordenden Traurigkeit gefangen:
Musik endet unter dem nachfolgenden O-Ton
Take 20 (O-Ton Lohre)
„Ein kleines Beispiel: Als kleines Kind geh ich zum Zahnarzt, meine Mutter kommt mit, und wer am meisten zu leiden scheint, ist meine Mutter. Sie findet es doch ganz schrecklich, dass ich da jetzt auf diesem Zahnarztstuhl bin und leide, und ich als Kind fühle dann den Auftrag, meine Mutter zu trösten.“
Erzähler:
Dass Kriegsenkel bisweilen für die labilen Seelen ihrer Eltern zu¬ständig sind, wie bei Matthias Lohre, ist kein Einzelfall. Aber, dass dieses Gefühl viele Menschen einer ganzen Generation beherrscht, ist schon auffällig. Die Jour¬nalistin
Sabine Bode ist bei ihren Recherchen häufig auf diese Beschreibung gestoßen:
Musik „Time suspension“, Dru Masters
Take 21 (O-Ton Bode)
„Ich habe das Gefühl, und das schon von Anfang an meiner Kindheit, dass ich sozusagen meine Kraft den Eltern geben muss. Ich bin auf der Welt, damit meine Eltern glücklich sind, ich hab dafür zu sorgen.“
Musik endet
Erzählerin:
Die wissenschaftlichen Untersuchungen, die es zur trans¬gene¬ra¬tio¬na¬len Weitergabe von Traumata gibt, zeichnen ein düsteres Bild: Trau¬¬-matisierte Menschen, ob Vietnam-Veteranen oder Holocaust-Über¬le-bende, lei¬den auch noch Jahr¬zehnte später unter sogenannten post-trau¬ma¬ti¬schen Be¬lastungs¬störungen: mit Alb¬träumen, Kon¬zen¬trations-pro¬ble¬men, Panikattacken oder Depres¬sionen.
Erzähler:
Traumata und schwere emo¬tionale Verunsicherungen bleiben ein Teil der Persönlichkeit, wenn sie nicht aufgearbeitet werden und können deshalb an die eigenen Kinder weitergegeben werden. Und das ist es, was die Kriegsenkel beschre¬i¬ben: psychosomatische Störungen, Depressionen, Be¬zie¬hungs¬pro¬ble¬me und Ängste. Der Altersf¬orscher und Psychoanalytiker Hartmut Rade¬bold, selbst ein Kriegs¬kind, hat Kriegsenkel wissenschaftlich befragt:
Take 22 (O-Ton Radebold)
„Jetzt sagen die Befragten: Ihr habt uns erzogen nach Normen und Vorgaben, die ihr uns nicht erklärt habt. Warum müssen wir alles aufessen, was auf dem Teller ist, warum müssen wir sparsam sein, warum, warum, warum…“
Erzählerin:
Die Eltern hätten zwar für finanzielle Sicherheit gesorgt, hätten sie an¬-gehalten etwas zu leisten, fleißig zu sein und diszipliniert, aber emo-tional fühlten sich viele Kriegsenkel von ihren Eltern ab¬ge¬schnitten, so die Ergebnisse von Radebolds Untersuchungen. Er zitiert typische Aussagen:
Take 23 (O-Ton Radebold)
„Wir spüren in euch einen Bereich, wo ihr abgekapselt seid, wo wir euch gefühlsmäßig nicht erreichen können. Da ist irgendwo etwas in euch drin, wir können es noch gar nicht schildern, wo ihr unzugänglich seid, euch abkapselt usw. Es gibt weiterhin keine körperliche Nähe, ihr seid nicht in der Lage uns in den Arm zu nehmen…“
Erzähler:
In der Hälfte der Nachkriegsfamilien, so eine Studie der Universität Kas-sel, wurde nie über die Schrecken des Krieges gesprochen. Offene Gespräche fanden nur in einem Viertel aller Haus¬halte statt. Dabei haben die Kriegskinder ja enorm unterschiedl¬iche Er¬fahrungen gemacht. Manche erlebten Todesangst und Vergewalt¬i¬gung, Flucht und Nächte im Bombenkeller, andere dagegen haben kaum etwas mitgekriegt.
Erzählerin:
So unterschiedlich die Erlebnisse der Kriegs¬kinder, so unterschiedlich ist auch ihr Umgang damit. Manche forderten einen fast schon symbiotischen Zu¬sammenhalt von ihrem Nachwuchs, andere reagierten auf kleinste Abweichungen von dem, was sie für richtig hielten, hysterisch oder gewalttätig und wieder andere übertrugen ihre eigenes Misstrauen, ihre Lebens¬angst auf die Kinder.
Take 24 (O-Ton Radebold)
„Wir haben von euch Verhaltensweisen übernommen, die etwas mit dem Krieg zu tun haben…“
Musik „Prophecies“, Anton Batagov
Erzähler:
So haben es viele Kriegsenkel Hartmut Radebold zu Protokoll ge¬ge¬ben. Dass diese Generation jetzt entdeckt, wie sehr die Kriegs¬er¬lebnisse ihrer Eltern nachwirken, begrüßt der Psychoanalytiker. Denn nur so könnten die psychischen In¬stabilitäten in der Kriegsenkel-Ge¬neration aufgearbeitet werden. Und die seien nicht ausgedacht, sondern tatsächlich existent: Depressionen, Beziehungs-probleme, psychosomatische Beschwerden, Zwänge und Ängste, unter denen auffällig viele Babyboomer leiden.
Erzählerin:
Auch die Journalistin Sabine Bode ist davon überzeugt, dass die Auseinandersetzung mit dem psychischen Erbe der Kriegskinder und der Kriegsenkel ein ent¬schei¬den¬der Baustein ist, um die NS-Zeit nicht nur historisch-akademisch, son¬dern auch emotional aufzuarbeiten:
Take 25 (O-Ton Bode)
„Die meisten Kriegsenkel haben ja zunächst das Leid ihrer Eltern im Blick, und das kann man haben, wenn es um diese Kriegsschrecken geht in der Kindheit. Wenn Sie anfangen eine Generation weiterzugucken, in die Großeltern¬ge¬ne¬ration, dann entdecken Sie womöglich noch was anderes, nämlich Ver¬strickung und Profitieren vom NS-Regime. Das ist genauso wichtig, denn bestimmte Sachen lösen sich einfach nicht auf, wenn man nur auf die Elterngeneration und deren Kindheitsleid guckt, sondern sie lösen sich wirklich erst auf, wenn man sieht, was da an Familien¬geheimnissen und Familienlegenden war. Und danach ist das Leben bei sehr vielen sehr viel einfacher.“
Musik hoch und endet
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