Luchino Visconti - Schönheit, Dekadenz und Tod
Als Sohn einer italienischen Adelsfamilie wäre sein Weg vorgezeichnet. Doch Luchino Visconti will hinter die Fassaden von Prunk und Pomp blicken. Er wird Drehbuchautor und Regisseur. "Ludwig II.", "Der Leopard", "Der Tod in Venedig", seine Filme zu Schönheit, Tod und Dekadenz erreichen Weltruhm. Von Susi Weichselbaumer (BR 2021)
Credits
Autorin dieser Folge: Susi Weichselbaumer
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Friedrich Schloffer, Julia Fischer, Stefan Wilkening, Katja Schild
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Andrea Bräu
Im Interview:
Michaela Krützen, Professorin für Medienwissenschaft, HFF München
Literaturtipps:
Schifano, Laurence: Luchino Visconti. Fürst des Films. Casimir Katz Verlag.
Schneider, Marianne/ Schirmer, Lothar: Visconti. Schriften, Filme, Stars und Stills. Schirmer/Mosel.
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | RadioWissen
JETZT ENTDECKEN
Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Michaela Krützen, Professorin für MediATMO Dreh
ERZÄHLER
Der alte Palazzo Gangi in Palermo ist längst aufgegeben. Für diesen Dreh jedoch
soll das verlassene Gebäude wieder erstrahlen. Strotzen vor Prunk und Pracht, erhabener wirken, denn je.
ERZÄHLERIN
Günstigere Pappkulissen hätten es vielleicht genauso getan…
ERZÄHLER
Nicht, wenn der Filmverantwortliche Luchino Visconti heißt. Visconti steht Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre auf dem Höhepunkt seiner Karriere als Drehbuchautor, Theater-, Opern- und eben Filmregisseur. Das Credo des Italieners:
ZITATOR VISCONTI (Akustik Patina)
„Es ist meine Überzeugung, dass, wenn man sich mit etwas befasst, man es immer mit Leidenschaft tun muss. Aus diesem Grund sind wir ja auf der Welt, wir müssen brennen bis der Tod, der ja nur der letzte Akt des Lebens ist, sein Werk vollendet, indem er uns in Asche verwandelt.“
MUSIK Der Leopard 1
ERZÄHLER
Für die Produktion des Films „Der Leopard“ 1962 bedeutet das: Soll eine Szene auf einem Ball spielen, dann muss ein Ball stattfinden.
ERZÄHLERIN
Als Komparsen lädt Visconti die Creme de la Creme der palermischen Aristokratie ein. Er beschäftigt zwanzig Elektriker, einhundertfünfzig Handwerker, die Dekorationen bauen, dazu Schneiderinnen, Tanzlehrer, Maskenbildnerinnen…
ZITATORIN (Akustik Patina)
„Ich erinnere mich, dass ich im 13:30 Uhr mit meiner Arbeit begann und am anderen Morgen um 6.00 Uhr aufhörte.“
ERZÄHLER
Der sizilianische Sommer ist heiß.
ERZÄHLERIN
Die eigens im Palazzo installierte Klimaanlage ist teuer, reicht aber nicht aus –
ERZÄHLER
Visconti nutzt also die kühle Nacht und die Morgendämmerung. Genau 48 Nächte hintereinander.
ERZÄHLERIN
Für EINE EINZIGE Ballszene…
ERZÄHLER
Für DIE Ballszene der Filmgeschichte! Der Blumenschmuck kommt jeden Tag frisch, eingeflogen aus San Remo. Das Geschirr aus Gold und Silber für die Tafel ist von den ältesten Familien Palermos geliehen.
ERZÄHLERIN
Die Kerzen an den Lüstern sind echt und müssen stündlich erneuert werden…
ZITATORIN
„Ehe er zu drehen begann, inspizierte Visconti alle Darsteller von Kopf bis Fuß. Das waren nicht weniger als hundert Leute.“
ATMO Dreh
ERZÄHLER
Darunter ist die junge Claudia Cardinale in der weiblichen Hauptrolle. Dunkle, tiefblickende Augen in einem symmetrischen, herzförmigen Gesicht.
Sie wird über diesen sizilianischen Dreh-Sommer sagen:
MUSIK Der Leopard 2
ZITATORIN Cardinale
„Fast wie ein Besessener studierte Visconti jedes Detail, er war bei den Kostümproben, beim Schminken dabei. Nach diesem Film hatte meine Friseurin einen Nervenzusammenbruch, weil meine Frisur so kompliziert war, dass sie jedes Mal, wenn sie mich frisieren musste, mehr als zwei Stunden dazu brauchte.“
MUSIK ENDE
ERZÄHLERIN
Zur Besessenheit kommt wenig Teamgeist. Für „Der Leopard“ drillt Visconti Claudia Cardinale, Alain Delon und Burt Lancaster. Der Cineast ist bekannt für seine aufbrausende Art – anklagend, schnell beleidigt –
ERZÄHLER
Aber er ist auch enorm begeisterungsfähig! Mal gleicht Visconti einem verheerenden Tsunami, dann einem euphorischen Vulkanausbruch. Künstlerisch leuchtet er die tiefsten Abgründe in all ihrer naturalistischen Hässlichkeit aus und sucht doch nur das Überdauernde, das Schöne – Zuneigung.
ZITATORIN Cardinale (Akustik Patina)
„Im Studio, auf der Bühne war er der absolute Herr und Meister, der letzte Fürst des Films.“
ERZÄHLER
Erinnert sich Claudia Cardinale an die Dreharbeiten. Bis heute ist „Der Leopard“ einer der bedeutendsten Filme des italienischen Cineasten, bestätigt die Professorin an der Münchner Hochschule für Fernsehen und Film HFF, Michaela Krützen.
MUSIK Der Leopard
1 ZU Krützen 5.40
Von Visconti lernen ist wichtig. Und das ist für Filmstudierende vor allem, dass man sich einzelne Einstellungen, einzelne Szenen noch mal ganz langsam ankuckt wie in Zeitlupe, beispielsweise den Tanz in „Der Leopard“, wie wunderschön diese Tanzsequenz ist, nicht einmal zeigen, sondern mehrfach zeigen und genießen.
ERZÄHLERIN
Wogende Paare in paillettenbesetzten Kleidern und glänzenden Anzügen, beschienen vom Flackerschein unzähliger Lüster –
ERZÄHLER
Tatsächlich ähnelt die Szene einem Totentanz. Hier treffen alte und neue Gesellschaft aufeinander. Das Ende einer Ära ist offensichtlich. Auch wenn Don Fabrizio Corbera, Fürst von Salina –
ERZÄHLERIN
Burt Lancaster –
ERZÄHLER
Auch wenn der Fürst die Augen davor verschließen möchte... Auf Sizilien gewinnen ab 1860 bürgerlich-liberale Kräfte an Macht. Letztlich erlaubt Don Fabrizio seinem umstürzlerischen Neffen Tancredi –
ERZÄHLERIN
Alain Delon –
ERZÄHLER
Don Fabrizio erlaubt es dem Neffen, die Tochter des opportunistischen Bürgermeisters zu heiraten... Gespielt von Claudia Cardinale.
MUSIK ENDE
ERZÄHLERIN
Jedoch verweigert der Fürst seine Mitarbeit am neuen Königreich Italien. Er will sein altes Leben weiterführen, ohne von den manierenlosen Emporkömmlingen zu sehr belästigt zu werden. Deren Geld hingegen ist ihm willkommen. Wie viele Adelige zur damaligen Zeit ist Don Fabrizio knapp bei Kasse.
ERZÄHLER
Der Niedergang der Aristokratie - Schönheit, Dekadenz, Tod - diese Film-Themen sind Luchino Visconti aus dem realen Leben vertraut.
MUSIK
ERZÄHLER
Am 2. November 1906 kommt er in Mailand zur Welt, als viertes Kind des Herzogs Guiseppe Visconti di Modrone und Carla Erba. Die Mutter stammt aus einer reichen Großindustriellenfamilie. Luchino und seine fünf Geschwister werden streng erzogen. Zur musikalischen Ausbildung gehören Opernbesuche in der Scala selbstverständlich dazu.
ERZÄHLERIN
Überhaupt ist bei Visconti vieles selbstverständlich. Theater, Feste, Gesellschaften – Stadthäuser, Ferienvillen, Reisen, Personal verfügbar an allen Orten und zu allen Zeiten. Selbst während des Ersten Weltkriegs bemüht man sich diesbezüglich um – glanzvolle – Kontinuität.
MUSIK
ERZÄHLER
Auch als der Herzog als Freiwilliger an die Front geht. Carla Erba kümmert sich alleine um die Kinder. Statt der Besuche in der Scala gibt es zunehmend Programm auf der Familienbühne. Luchino inszeniert für seine Geschwister und Freunde bekannte Opern, Shakespeare-Dramen oder eigene Stücke. Der Junge interessiert sich für Literatur, verschlingt Proust, Stendhal, Balzac –
ERZÄHLERIN
Die Wirklichkeit, die ihn umgibt, wird immer unpoetischer. Nach dem Ersten Weltkrieg greift in Italien der Faschismus um sich. Luchino ist jetzt 16, er hat gesehen, wie Mailand Kulisse eines Bürgerkrieges wird mit täglichen Plünderungen und Gewalttaten. Viele hofieren Mussolini, allen voran der König und weite Teile der Hocharistokratie. Genauso Teile der verzweigten Familie Visconti.
ERZÄHLER
Luchino ist klarer Mussolini-Gegner wie sein Vater, an dessen liberaler Haltung er sich orientiert.
ERZÄHLERIN
Allerdings sehen sich Vater und Sohn nicht mehr so häufig. Visconti Senior ist ein Weiberheld, seine Frau verlässt ihn und nimmt die drei jüngsten Kinder mit. Darunter Luchino.
ZITATOR Visconti
„Mein Vater war ein sehr charmanter Mann und sehr sanftmütig; aber er war ziemlich oberflächlich, hatte viele Frauengeschichten und machte meiner Mutter das Leben schwer. Sie war eine sehr leidenschaftliche Frau und der Bruch war endgültig. In der heutigen Zeit, in der Paare, die sich getrennt haben, weiterhin Beziehungen miteinander haben und sich sogar besuchen, kann man sich dies kaum noch vorstellen.“
ERZÄHLERIN
Luchino Visconti kann sich bereits damals ziemlich alles vorstellen.
ERZÄHLER
Er hält weiter Kontakt zu beiden Elternteilen. Er ist jung und offen für das Leben und die Liebe.
MUSIK
ERZÄHLERIN
Also probiert er sich aus. Finanziell muss er keine Grenzen fürchten. Mit seinen dunklen Augen, den schwarzen Haaren und den ebenmäßigen, aristokratischen Gesichtszügen, der stilsicheren Kleidung und seiner formvollendeten selbstsicheren Art…
ERZÄHLER
Sein Kopf sprüht vor Ideen. Er beginnt eine Militärkarriere, reist um die Welt, verlegt sich erfolgreich auf die Zucht von Vollblütern. Er jagt von Pferderennen zu Reitturnier. Nebenbei versucht er sich als Literat und Filmemacher. Ende 1934 wird er in Kitzbühel der österreichischen Prinzessin Irma von Windisch-Graetz vorgestellt.
ERZÄHLERIN
Luchino will sofort heiraten, die Eltern Visconti – sonst in allem verstritten - wollen das - gemeinschaftlich überzeugt – nicht. Irmas Eltern sind auch dagegen. Herzzerreißende Briefe gehen hin und her, Pläne werden geschmiedet und verworfen –
ZITATOR Visconti
„Ich sehe Dein liebes, trauriges Gesichtchen wieder, als ich vom Bahnhof in Kitzbühl abreiste. Ich denke an Dich. Ich glaube an Dich und Du musst an mich glauben. Ciao, Dein Luchi.“
ERZÄHLER
Der Widerstand der Familien ist zu stark.
ERZÄHLERIN
Oder die Liebenden sind zu schwach, um einfach bei Nacht und Nebel miteinander durchzubrennen.
ERZÄHLER
Visconti ist zu sehr Kind seiner Klasse. Man wirft nicht Status und Vermögen hin und flieht in der Dämmerung.
ERZÄHLERIN
Man verliebt sich aus Sicht seiner Klasse auch nicht in Männer. Dennoch passiert es. Zwei Jahre nach Irma trifft Visconti beruflich auf den erfolgreichen deutschen Modefotografen Horst P. Horst.
ZITATOR Visconti
„Ich umarme Dich herzlich, mein lieber Horst. Halte mich nicht für verrückt. Ich sehne mich sehr nach Dir. Ciao ciao Luchino.“
ERZÄHLER
Offen homosexuell lebt Visconti nicht. Horst fasziniert ihn, reizt ihn, stößt ihn ab.
ERZÄHLERIN
Eine toxische Verbindung, wie später mit vielen anderen Männern. Generell sind Verbindungen mit Visconti kompliziert. Überbordende Gefühle der Verehrung, Freundschaft, Eifersucht. Alles ist Drama. Immer. Am besten versteht er sich mit Menschen, die genauso sind wie er. Zum Beispiel mit der Designerin Coco Chanel.
ERZÄHLER
So intensiv Beziehungen mit Visconti sind, so produktiv sind sie auch. Alles ist Netzwerk. Coco Chanel vermittelt ihn als Regieassistent an den renommierten Filmkünstler Jean Renoir, sein großes Idol.
Visconti ist fortan oft in Paris, reist viel, nach dem Tod seiner Mutter zieht er von Mailand um nach Rom. Nur um dann wieder nach Paris zu fahren: Renoir braucht ihn für die Dreharbeiten zu „Tosca“. In Frankreich wie daheim in Italien dringt er weiter vor in die höchsten Filmkreise. Er schließt sich einer Gruppe antifaschistischer Intellektueller um die römische Kinozeitschrift „Cinema“ an.
ERZÄHLERIN
Man diskutiert Filmstoffe, entwickelt kommunistische Ideen – für die Leinwand und für eine gesellschaftliche Neuordnung. 1941 stirbt sein Vater. Luchino erbt das Haus der Visconti in der Via Salaria in Rom und ein Vermögen. Großzügig unterstützt er Freunde im Widerstand gegen den Faschismus. Die Via Salaria wird zum Unterschlupf für Verfolgte.
ERZÄHLER
Von dieser Wirklichkeit will Visconti erzählen, politische und soziale Abgründe aufzeigen, authentische Filme drehen wie Lehrmeister Jean Renoir, der den poetischen Realismus begründet hat.
ERZÄHLERIN
Problem bloß: Renoir kommt aus einem freien Land, seine Stoffe sind kritisch, seine Herangehensweise ist unverstellt. So zu arbeiten ist in Italien längst nicht mehr möglich. Die staatliche Zensur greift bereits in die Drehbücher ein und verhindert Werke schon im Planungszustand.
ERZÄHLER
Visconti stößt nur auf Ablehnung. Ob eigene Plots oder Adaptionen von Shakespeare, Miller, Proust - konsequent verweigert die Filmbehörde eine Genehmigung.
ERZÄHLERIN
Visconti ist dem Regime suspekt, er gilt als adeliger Kommunist.
ERZÄHLER
Hartnäckig tritt er dennoch für jedes neue Projekt mit Feuereifer ein. Etwa für „Ossessione... Bessenheit“…
Heute ist dieser Film fixer Bestandteil der Einführung in die Filmgeschichte für ihre Studierenden, erzählt die Professorin an der HFF München, Michael Krützen.
ZU Krützen 0.14
Sie treffen zum ersten Mal auf Visconti, wenn wir über den Neorealismus sprechen, das ist so eine Strömung im italienischen Kino am Ende des Zweiten Weltkriegs, wo man sich plötzlich dafür interessiert hat, so ganz realistische Filme zu machen. Und da ist der Visconti mit seinem Film „Besessenheit, Ossessionen“ 1941 so ein wirkliches Erweckungserlebnis für viele Studierende und da sehen die sowas zum ersten Mal.
MUSIK
ERZÄHLER
Auch für Visconti ist ein derartiger Stoff neu. Renoir hatte ihm den jüngst erschienenen Roman von James Cain empfohlen: „The postman always rings twice“. In diesem Krimi verliebt sich die Ehefrau des Eigentümers eines entlegenen Gasthofs in einen Landstreicher. Sie bringt den Geliebten dazu, ihren Gatten zu töten. Man fingiert einen Autounfall. Visconti versetzt die Handlung nach Italien.
ZU Krützen 0.55
Ossessione, Besessenheit, das fängt erstmal an wie so eine super spannende Krimi-Erotik-Geschichte, der Hauptdarsteller mit entblößter Brust, die Hauptdarstellerin wackelt so mit dem Fuß und lockt ihn gewisser Maßen. Am Anfang ist es halt diese Kerngeschichte, eine Frau verführt einen Mann ihren Ehemann umzubringen, doch der Film ändert sich dann und wenn man als Studierende, Studierender nicht vorbereitet ist, dass so nach ungefähr einer Stunde das Ding ungeheuer langsam wird und die so zu zweit ich sag mal durch eine Landschaft stromern, ist man erstmal schockiert. Das heißt, man muss schon etwas Erfahrung haben, um mit VIsconti umgehen zu können, zumindest mit diesem frühen Visconti der Ossessione, dann aber sorgt das durchaus für Begeisterung.
ERZÄHLER
Wider Erwarten hat die Filmzensur kaum Einwände gegen „Ossessione“.
ERZÄHLERIN
Der Faschismus verliert überall an Boden, die Regeln werden dehnbar. Für die Hauptrollen, den Landstreicher Gino und die untreue Ehefrau Giovanna, gewinnt Visconti Massimo Grotto und die weit jüngere, zauberhaft schöne Clara Calamai. Visconti will sie ungeschminkt und unfrisiert, realistisch bis an die Grenze zur Hässlichkeit. Erschöpft soll sie hinterm Tresen des Gasthauses stehen. Er demütigt und beschimpft sie, wie er überhaupt sein Ensemble bis auf wenige Ausnahmen hart anpackt. Niemand soll den Text vorher auswendig lernen, erarbeitet wird Wort für Wort zusammen mit ihm.
ZITATOR Visconti
„Mich interessieren allein Extremsituationen und die Augenblicke, in denen eine außerordentliche Spannung die Wahrheit aus den Menschen hervorlockt. Ich liebe es, die Figuren einer Geschichte sowie ihren Inhalt hart und aggressiv anzugehen“.
ERZÄHLERIN
Visconti verlangt über die Maßen viel.
ERZÄHLER
Und bekommt Großartiges. Clara Calamai erinnert sich:
ZITATORIN
„Wir haben diese Szene – ich weiß nicht wie oft wiederholt – Schließlich verlor Luchino die Geduld. Auf dem Tisch stand ein großes Tablett mit Gläsern. Er nahm eines nach dem anderen und schmetterte es zu Boden, direkt mir vor die Füße, so dass mir die Glassplitter ins Gesicht sprangen.
Ich selbst war wie versteinert, es kam mir nicht mal in den Sinn zu protestieren, war ich doch unsterblich in Luchino verliebt.“
ERZÄHLER
Wie Calamai wird es vielen ergehen. Sie lassen sich auf den italienischen Cineasten ein, weil er sie ganz fordert.
ZITATORIN
„So war Luchino, er veränderte die Menschen.“
ERZÄHLER
Das gilt für Schauspieler wie Kameraleute, Dekorateurinnen, Beleuchter, Schneiderinnen, Maskenbildner - Visconti ist in jedem Filmgewerk versiert und erzwingt Perfektion in sämtlichen Einzelheiten.
MUSIK
ERZÄHLER
Seine authentische Nähe ist neu im europäischen Kino, schonungslos und ohne Poesie. Als Vater des sogenannten „Neorealismus“ schreibt er Geschichte.
ERZÄHLERIN
Die einen empfinden „Ossessione“ als Beleidigung am ganzen Volk, andere feiern die Wahrhaftigkeit. Der Film gilt bald als Symbol der antifaschistischen Rebellion.
ERZÄHLER
Visconti genießt den Beifall, aber auch, dass sich die Kritiker an ihm reiben. Noch realeren Realismus möchte er erschaffen. In entlegenen Dörfern lässt er arme Fischer zu einem vorgegebenen Plot improvisieren. Daraus entsteht eines seiner Meisterwerke, „Die Erde bebt“.
ZU Krützen 3.03
„La Terre trema“, „Die Erde bebt“, das ist nun wirklich Neorealismus von blankster Sorte, ein Film, der vor Ort gedreht ist, mit Laiendarstellern im Dialekt, und da wachen dann auch unsere Dokumentarfilmstudenten auf, die haben den noch nie gesehen, also ein Film, der unter den Leuten selber gedreht ist.
ERZÄHLER
Erzählt die Professorin für Filmgeschichte, Michaela Krützen. Fortan stellt Visconti die Kamera mitten hinein ins echte Leben.1943 rettet er entflohene englische und amerikanische Gefangene vor den deutschen Besatzern, in seiner Villa in Mailand versteckt er Widerständler und Kommunisten. Schließlich wird er von der politischen Polizei gefasst und gefoltert. Als seine damaligen Peiniger nach dem Krieg vor Gericht gestellt werden, filmt Visconti mit. Jeden Augenblick von der Anklagebank bis zur Hinrichtung.
ERZÄHLERIN
Nach einiger Zeit wird Visconti die Realität zu eng und zu eindimensional.
ERZÄHLER
Vielleicht stattet er schlichtweg zu gerne aus, möchte die Details wieder stärker dominieren, mit exzellenten Schauspielern Nuancen herausziselieren, Pointen selber definieren, nicht bloß Alltag abfilmen und arrangieren. Mitte der 1940er Jahre konzentriert er sich verstärkt auf seine zweite große Passion: Die Bühne.
MUSIK
ZITATOR Visconti
„Das Theater ist eine Tribüne, von der aus man auch Dinge sagen kann, die dazu angetan sind zu brüskieren“.
ERZÄHLERIN
Ob mit seiner eigenen Truppe, der „Compagnia Italiana di Prosa“, oder als Gastregisseur: Visconti liefert eine Skandalinszenierung nach der anderen. Zu brutal, zu freizügig, sein Menschenbild zu negativ. Für „Die schrecklichen Eltern“, „Adam“ oder „Die Tabakstraße“ hagelt es Aufführungsverbote, ob in Venedig, Rom oder Mailand. Gleichzeitig gibt es frenetischen Beifall. Die Zuschauer schimpfen und jubeln, buhen und rufen unablässig „Dacapo“. Oft entbrennt eine wütende Schlägerei im Parkett.
ERZÄHLER
Luchino, der „rote Adelige“ polarisiert. Diese Rolle des gehassten und verehrten Provokateurs gefällt ihm. Die Jugend feiert ihn. Das ist genau das Publikum, das er sich wünscht. Keine versnobten Intellektuellen oder kunstverliebte, weil vom Leben gelangweilten Reiche und Schöne, sondern echte Menschen.
ERZÄHLERIN
Naja, die Schönen und Reichen mag er schon auch: Künstler, Autorinnen, Komponisten, Sängerinnen und Schauspieler. Letztere bewundert er besonders, sie sind sein Mittel zum Ausdruck.
Als Gradmesser gelten ihm die Großen vergangener Tage: Die Duse, Sarah Bernhardt. Aktuell gilt: Je mehr Diva, desto begeisterter ist Visconti. Desto mehr reizt ihn die Zusammenarbeit und vielleicht - bei den Männern – sogar noch ein bisschen mehr.
ERZÄHLER
Mit seinen Begleitern zeigt er sich in der Öffentlichkeit, doch wird er sich nie als homosexuell outen.
ERZÄHLERIN
Etlichen wissen ohnehin darum. Visconti brennt leidenschaftlich für viele Herren, feste Beziehungen geht er nicht ein.
ERZÄHLER
Dafür liebt er zu gerne zu dramatisch und zu gerne solche, die ihm darin ähnlich sind. Sein großer Freundes- und Bekanntenkreis ist seine Ersatzfamilie. Die wichtigste Vertrauensperson bleibt lebenslang seine Schwester Umberta.
ERZÄHLERIN
Sie ist die einzige, die ihm sagen darf, dass literweise Kaffee und 80 bis 120 Zigaretten am Tag nicht gesundheitsfördernd sind.
MUSIK
ERZÄHLER
Das weiß Visconti selber. Es geht nicht ohne. Er ist ein Workaholic, der für seine Arbeit brennt. Tag und Nacht. Solches Engagement fordert er selbstverständlich genauso von seinen Mitarbeitenden. In den 1950/60er Jahren sind das zahlreiche Weltstars. Auch talentierte Nachwuchsdarsteller werden unter seiner Führung zu Leinwandgrößen.
Romy Schneider und Alain Delon baut er in seinen Filmen auf, Maria Callas formt er in opulenten Operninszenierungen zur Grande Dame der Scala. Dorthin lädt ihn endlich Arturo Toscanini ein. Visconti inszeniert für ihn Verdi, den „Don Carlos“ oder „Macbeth“. Für Theater in Italien, Deutschland, Frankreich und Großbritannien richtet er Strindberg, Miller oder Tschechow ein. Für Shakespeares „Wie es Euch gefällt“ heuert er Salvador Dalí als Bühnengestalter an. Maria Schell, Claudia Cardinale, Burt Lancaster...
ERZÄHLERIN
Jeder sagt bei Visconti zu. Lässt sich am Set anschreien, herabwürdigen, quälen.
ERZÄHLER
Wächst unter diesem immensen Druck über sich hinaus.
ERZÄHLERIN
Und bleibt im Geschäft. Inzwischen ist Visconti der Königsmacher im europäischen Film. Er befördert Karrieren und beendet Laufbahnen. Helfendes Netzwerken und zerstörendes Intrigieren.
ERZÄHLER
Macht und Verfall – im Leben wie auf der Leinwand, das sind jetzt seine Themen. In „Der Leopard“ kreisen alte und neue Gesellschaft im Totentanz umeinander. „Rocco und seine Brüder“ erzählt das Scheitern einer prekären Familie aus dem Süden, die in der Großstadt ihr Glück sucht und gnadenlos untergeht. „Bellissima“ rechnet mit der Scheinwelt des italienischen Hollywood, der Cinecittà ab.
MUSIK
ERZÄHLERIN
Zum Kammerspiel schließlich verdichtet Visconti den Komplex Schönheit, Dekadenz und Tod 1973 in „Ludwig II“. Die intensiv recherchierte historische Figur zeigt er an Originalschauplätzen, Neuschwanstein, Herrenchiemsee, Linderhof. Der Aufwand für Bauten, Technik und Komparserie ist gigantisch.
ZITATOR Visconti
„In Wahrheit sind die gegen mich gerichteten Vorwürfe angeblicher Verschwendungssucht, Vergeudung und willfährigen Hedonismus stets von Leuten ausgegangen, die es noch immer für Luxus halten, im Speisewagen eines Zuges zu essen.“
ERZÄHLERIN
Original Tafelsilber, die Kerzen an den Lüstern mal wieder echt und beim Dreh dauernd auszutauschen...
ERZÄHLER
Visconti ist gesundheitlich angeschlagen, er merkt, dass ihm die Zeit davonläuft. Er erzwingt den perfekten Film.
ERZÄHLERIN
Herausforderung dabei: Visconti ist schwer in seinen Hauptdarsteller verliebt. Helmut Berger. Österreichischer Charme. Blond, groß, attraktiv -
ZITATOR Visconti
„Berger ist wie ein junges Fohlen. Nachwuchs. Er ist voller Phantasie und hat sehr gute Qualitäten. Aber er muss erst heranwachsen, auch ist er sehr launisch.“
ERZÄHLERIN
Wie Visconti.
MUSIK
ERZÄHLER
Wie der ist Berger aber auch bereit, den ganzen Weg Ludwigs II. zu gehen. Strahlend und aufgeregt am Tag der Krönung, fortan unsicher und schwankend und träumend. Cousine Sisi alias Romy Schneider verehrend, Männer liebend. Die Nacht für den Tag eintauschen, Richard Wagner folgen, weitere Schlösser entwerfen. Aufgedunsen. Apolitisch. Weggesperrt.
ERZÄHLERIN
Starnberger See.
ERZÄHLER
Der Bayerische Rundfunk berichtet über die Dreharbeiten 1972. Visconti schenke den Bayern ihren Film zu ihrem König…
ZU Visconti schon mit VO
Das ist der Kampf eines Mannes, der ein Ideal, feste Lebensvorstellungen hat und seine Konfrontation mit einer Realität, die ihn dazu bringt, noch radikaler zu werden, einen reinen Künstlerstaat zu schaffen. Meiner Meinung nach ist das eine sehr moderne Auffassung, doch dieser Traum zerbrach an den Gegebenheiten eines Europas, das sich im Umbruch befand.
ERZÄHLERIN
Allerdings wieder verreißt ihn die Kritik – mit drei Stunden zu lang, zu homosexuell, zu wenig nah am Mythos.
ERZÄHLER
Wieder feiern ihn die Fans.
ERZÄHLERIN
Wieder intervenieren Produzenten, Filmaufseher und Verleiher.
ERZÄHLER
Kürzen. Umschneiden.
ERZÄHLERIN
Visconti gibt nicht auf. Während der Aufnahmen zu „Ludwig II.“ erleidet er einen Schlaganfall und ist halbseitig gelähmt. Der Zustand nervt ihn. Er muss zurück in den Regiesessel, den Ludwig fertig machen, hat danach tausend weitere Ideen im Kopf.
ERZÄHLER
Am 17. März 1976 stirbt Visconti – sozusagen mitten in der Arbeit und Planung. Seine Schwester Umberta ist bei dem 69-Jährigen.
ZITATORIN
„Zum Schluss sah er mich an. Dann sagte er zu mir in unsere Mailänder Mundart: Es genügt, ich bin müde.“
MUSIK
ERZÄHLER
Nach einem atemlosen, schillernden Leben -
ERZÄHLERIN
Von dem unzählige einzigartige Filmmomente bleiben.
ZU Krützen 6.35
Wer was Opulentes haben will, der soll sich den „Leoparden“ anschauen mit einem großen Kaltgetränk, die Füße hochlegen, es ist ein längerer Film, aber ich verspreche es ist Starkino zum Genießen.
ENDE
Create your
podcast in
minutes
It is Free