Asexuelle haben kein Bedürfnis nach körperlicher Liebe. Sie verzichten freiwillig auf das, was Andere für die schönste Nebensache der Welt halten. Erst seit Kurzem widmen sich Wissenschaftler dem Thema. Autorin: Maike Brzoska (BR 2016)
Credits
Autorin dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Andreas Neumann, Katja Schild, Christian Schuler
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Kati Radloff, Asexuelle und Gründerin des deutschsprachigen Forums Aven;
Vivian Jückstock, Sexualtherapeutin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf;
Talke Flörcken, Kulturwissenschaftlerin
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 radioWissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnah nimmt Euch „Wie wir ticken“ mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek.
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Musik Crazy in Love Z8007984 110
O-TON 1 (Radloff)
Ich bin ein romantischer Typ, ich bin sogar ziemlich oft verliebt, natürlich seit 6,5 Jahren treu. Es ist sehr vergleichbar mit einer ganz klassischen Liebesbeziehung: Schmetterlinge im Bauch, Nähe wollen.
SPRECHER
Kati Radloff ist seit vielen Jahren mit ihrem Freund zusammen. Eine romantische und harmonische Beziehung – mit einer Besonderheit.
Musik aus
Musik Did that hurt Z8007984 116
O-TON 2 (Radloff)
Das einzige ist eben bloß, dass ich niemals Lust auf Sex habe, also keine sexuelle Anziehung ihm gegenüber empfinde. Egal, wie wir uns berühren oder wie nahe wir uns sind oder ob es grad gut oder schlecht läuft, ich habe einfach nie das Gefühl, ach, jetzt wäre Sex einfach toll mit ihm.
SPRECHER
Das gilt nicht nur für ihren Partner. Auch von anderen Männern oder Frauen hat sich Radloff nie körperlich angezogen gefühlt. Sie beschreibt sich selbst als: asexuell.
O-TON 3 (Radloff)
Das können viele vielleicht vergleichen mit dem gleichen Geschlecht, da haben ja auch manche gar keine sexuelle Anziehung, die duschen mit denen zusammen beim Sport oder die schlafen zusammen in einem Bett und da hat man trotzdem keine sexuelle Anziehung. So ist das bei mir mit beiden Geschlechtern.
SPRECHER
Männer, Frauen, Dinge – was Menschen Lust bereitet, ist individuell sehr verschieden. Vielleicht – mag der eine oder die andere jetzt denken – hat sie einfach noch nicht das Passende gefunden? Diesen Gedanken hatte auch Radloff lange.
O-TON 4 (Radloff)
Also, habe ich vielleicht noch nicht die richtige Sexpraktik gefunden? Probier ich vielleicht mal ein bisschen. Hab ich vielleicht nicht den Richtigen oder die Richtige oder das richtige Ding gefunden, probier ich mal ein bisschen.
SPRECHER:
Aber: Nichts.
Musik aus
Fortsetzung O-TON 4: Man kommt ja erst, oder ich bin ziemlich zuletzt darauf gekommen, dass es tatsächlich so etwas wie Asexualität geben muss und dass ich das sein könnte.
SPRECHER
Heute, mit Ende 30, fällt es Radloff leicht, über ihre Asexualität zu sprechen. Sie scherzt sogar darüber. Sex? Kein Interesse, nie gehabt. Da ist dem ein oder der anderen schon mal die Kinnlade herunter gefallen. Dass ihr das Thema leicht fällt, war allerdings nicht immer so. In jüngeren Jahren war sie erst einmal ziemlich irritiert, dass bei ihr etwas anders war als bei ihren Freunden.
O-TON 6 (Radloff)
Also wenn man Kind ist, ist das ja normal, dass man keine Lust auf Sex hat. Wenn man dann in die Pubertät kommt, kann man auch noch Spätzünder sein, der Richtige kann noch nicht gekommen sein oder man versucht vielleicht ein bisschen rum, bevor man so die richtige Sexpraxis findet und so. Tatsächlich habe ich mir dann so richtig Sorgen gemacht, als ich 21 war und all meine Freunde und Freundinnen in Beziehungen waren und für sie Sex eben selbstverständlich war und ich mir dachte, wieso kann ich mir Beziehungen nicht so vorstellen, wie die sie leben? Also, was ist genau an einer Beziehung so falsch, dass ich mich dagegen sträube?
SPRECHER
Sie musste erst einmal herausfinden, was das genau ist, das bei ihr anders ist.
O-TON 7 (Radloff)
Und dann bin ich zu dem Punkt gekommen: Ich hab keine Lust auf Sex und ich weiß nicht, wie ich Sex haben soll, wenn ich überhaupt keine Lust darauf habe, wenn ich mich dadurch zwingen muss sozusagen.
SPRECHER
Einfach war diese Zeit nicht für sie. Denn auch wenn Sex als schönste „Nebensache“ der Welt gilt – oft drängt sich diese Nebensache als Hauptsache in den Vordergrund.
O-TON 8 (Radloff)
Und dann hatte ich so ein schweres Jahr, so ein Jahr lang, wo ich so ein inneres Coming-Out erlebt hab und dachte: Ja, was mache ich denn dann mit meinem Leben überhaupt, wenn Sex nicht so meins ist? Dann fällt ja erst mal eine Beziehung weg, dann fällt ja Ehe weg, dann fallen ja Kinder weg, dann fällt ja ne ganze Menge weg.
SPRECHER
Der Begriff Asexualität als Beschreibung für fehlende körperliche Anziehung durch andere Menschen existiert erst seit ein paar Jahren. Entsprechend wenig ist darüber bekannt. Die wenigen Studien, die es gibt, stammen größtenteils aus den letzten 10, 15 Jahren, sagt Talke Flörcken. Sie ist Kulturwissenschaftlerin und beschäftigt sich intensiv – im Rahmen einer Doktorarbeit an der Berliner Humboldt-Universität – mit dem Thema Asexualität.
O-TON 9 (Flörcken)
Ein Text, der viel zitiert wird, ist von Bogaert, Anthony Bogaert heißt der, und der ist aus dem Jahre 2004, und im Anschluss haben sich halt immer mehr Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit Asexualität beschäftigt.
Musik The Art of War (privat)
SPRECHER
Laut der Studie des kanadischen Sozialpsychologen Anthony Bogaert bezeichnet sich ein Prozent der Menschen in Großbritannien als asexuell. Seine Studie hat allerdings Schwächen. Denn er hat Daten verwendet, die in den 90ern erhoben worden waren im Rahmen eines Forschungsprojektes, in dem es um Aids-Prävention ging. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass andere Wissenschaftler zu ganz anderen Häufigkeiten kommen. Die Spanne reicht von 0,6 bis 5,5 Prozent. Auch darüber hinaus gibt es kaum wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse. Nur darin, dass vermutlich mehr Frauen als Männer asexuell sind, stimmen viele Studien überein.
Dass es so divergierende Daten zur Häufigkeit gibt, liegt daran, dass die Wissenschaftler Asexualität unterschiedlich definiert haben – typisch für ein Forschungsfeld, das gerade erst entsteht. Für die einen ist jemand asexuell, der einfach keinen Sex hat. Für andere ist Asexualität eine sexuelle Orientierung, wie Hetero-, Homo- und Bisexualität. Am weitesten verbreitet ist mittlerweile die Definition, wonach Asexuelle sich nicht durch andere Menschen angezogen fühlen, sagt Vivian Jückstock, Sexualtherapeutin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.
Musik aus
O-TON 10 (Jückstock)
Eine gängige Beschreibung ist eigentlich, dass der Wunsch nach sexuellem Kontakt mit anderen wenig bis gar nicht vorhanden ist. Es können durchaus sexuelle Handlungen stattfinden, auch im Rahmen von Partnerschaften, aber ein eigenständiges Verlangen ist wenig bis gar nicht vorhanden.
Auch Menschen, die sich als asexuell bezeichnen, haben sexuelle Kontakte, wenn ein Kinderwunsch besteht oder um Partnerschaften aufrecht zu erhalten.
SPRECHER
Einig sind sich die meisten Forscher auch darin, dass Asexualität kein neues Phänomen ist, sondern dass es das immer schon gab, auch wenn der Begriff sich erst vor ein paar Jahren entwickelt hat. Schon der bekannte Sexualforscher Alfred Kinsey beschreibt Mitte des 20. Jahrhunderts das Phänomen – nur hat er es anders genannt.
O-TON 11 (Flörcken)
Er hat ja so Erhebungen gemacht, die heißen, das sexuelle Verhalten des Mannes beziehungsweise der Frau aus den 40er, 50er Jahren. Und da hat er Menschen gefunden, die er der Kategorie X zuordnet.
SPRECHER
Die Menschen, die er zu dieser Kategorie X zählt, beschreibt Kinsey folgendermaßen:
ZITATOR
Wenn sie erotisch weder auf hetero- noch auf homosexuelle Reize reagieren und weder mit dem gleichen noch dem entgegen gesetzten Geschlecht irgendwelche körperlichen Kontakte haben, die als sexuell bezeichnet werden können.
O-TON 12 (Flörcken)
Einige Wissenschaftler sehen halt in dieser Kategorie X so einen Vorläufer von Asexualität.
SPRECHER
Kinsey hat sich allerdings nicht weiter mit der Kategorie X beschäftigt. Ihm ging es damals auch eher darum, seinen Zeitgenossen darüber aufzuklären, welche sexuellen Varianten es gibt und dass seiner Meinung nach viele Menschen eigentlich bisexuell sind. Für die damalige Gesellschaft ein Schock. Menschen, die keine Lust auf Sex haben – das war zu dieser Zeit kein großes Thema.
Musik Clean you Up (privat)
Das änderte sich erst in den späten 90ern. In dieser Zeit existierte zwar der Begriff Asexualität aber nicht in Bezug auf den Menschen. Asexuell, das sind in der Biologie Lebewesen, die sich ungeschlechtlich fortpflanzen, zum Beispiel Amöben, englisch: amoeba.
O-TON 13 (Flörcken)
Und 1997 gab es einen Artikel mit dem Titel „My life as an amoeba“, das spielt also auf das biologische Verständnis von Asexualität an.
SPRECHER
Die Autorin Zoe O`Reilly beschreibt in dem kurzen Text auf recht unterhaltsame und teilweise ironische Weise, wie zufrieden sie als „Amöbe“ lebt.
ZITATORIN
Ich gehöre nicht zu den Leuten, die eine große Sache daraus machen, dass sie keinen Sex haben. (...) Es ist vielmehr so, dass mich das Thema überhaupt nicht interessiert. Und ich finde, dass die Abwesenheit von Sexualität mein Leben um einiges leichter macht. (...) Ein Geburtstag weniger, den ich mir merken muss, weniger Lebensmittel, die ich einkaufen muss und niemand, der mich davon abhält, dass ich auf meiner eigenen Liste ganz oben stehe.
SPRECHER
Stellenweise liest sich der Text von O`Reilly sogar wie eine Art Manifest.
ZITATORIN
Hier bin ich und ich bin stolz asexuell zu sein. Meine Leute sind definitiv eine Minderheit und wünschen sich anerkannt zu werden wie alle anderen. Wir wollen farbige Schleifen, einen nationalen Feiertag, Gutscheine für Fast Food! Und wir wollen, dass die Welt da draußen weiß, dass es uns gibt.
Musik aus
SPRECHER
Der Artikel hatte offenbar einen Nerv getroffen. Viele Menschen erkannten sich wieder. In den Kommentaren unter dem Online-Artikel entwickelte sich in den folgenden Wochen und Monaten eine rege Diskussion zu dem Thema.
O-TON 14 (Flörcken)
Und das wird so als erste Möglichkeit angesehen, für Menschen mit ähnlichen Erfahrungen sich auszutauschen.
Musik Robots (privat)
SPRECHER
Einige Jahre nach Erscheinen des Textes gründeten sich die ersten Foren und Communities. Das bekannteste ist heute Aven, das es seit 2001 gibt.
Die Buchstaben stehen für Asexual Visibility and Education Network, was auf deutsch so viel bedeutet wie: Sichtbarkeit von und Aufklärung über Asexualität. Auch Kati Radloff ist vor einigen Jahren auf das Online-Forum gestoßen.
Musik aus
O-TON 15 (Radloff)
Und ich dachte natürlich; krass, andere Asexuelle, es gibt sie wirklich und das war auch inspirierend irgendwie, worüber sie gesprochen haben. Also was Asexualität ist, war nur eine von vielen Fragen, größtenteils ging es darum, wie gestalte ich meine Beziehung oder wie gehe sozusagen gegenüber anderen um, oute ich mich oder nicht, (was für eine Einstellung habe ich gegenüber meinem Körper, was für eine Einstellung habe ich zu Nähe, Intimität und so weiter.) Das fand ich unglaublich bereichernd und dachte, das muss es auch auf deutscher Seite geben. In Deutschland gibt es bestimmt auch Asexuelle, also habe ein deutsches Unterforum dazu aufgemacht, und das hat wirklich relativ viel Resonanz gefunden, muss ich sagen. Also innerhalb von kürzester Zeit hatten wir schon mehrere tausend Benutzer, die gesagt haben; ja, ich bin auch asexuell, wow, ich bin jetzt 50 oder 60, 70, und dachte wirklich mein ganzes Leben lang, ich wäre irgendwie verkehrt.
Musik Robots (privat)
SPRECHER
Aven gibt es heute in vielen Ländern und Sprachen. Das Internetforum hat sehr stark dazu beigetragen, Asexualität bekannter zu machen. Viele Wissenschaftler und Journalisten beziehen sich auf das Online-Forum und auch die heutige Definition geht größtenteils auf Selbstbeschreibungen von Aven-Mitgliedern zurück.
Warum Asexualität so plötzlich in Wissenschaft und Öffentlichkeit aufpoppte und diskutiert wird, ist unklar. Jückstock vermutet, dass es heute generell mehr Toleranz gegenüber solchen Themen gibt.
Musik aus
O-TON 16 (Jückstock)
Es ist einfach mehr Offenheit da, über Sexualität zu reden, auch über unterschiedliche Ausgestaltungen von Sexualität, vielleicht hat es das erleichtert.
SPRECHER
Viele Asexuelle beschreiben das Online-Forum Aven als erste Anlaufstelle, wo sie nicht nur Informationen bekommen haben, sondern auch erleichtert feststellen konnten: Es gibt andere Menschen, die ähnlich empfinden wie ich.
O-TON 17 (Jückstock)
Das ist der große Vorteil davon, endlich zu wissen, was ist eigentlich los mir mir und auch mitzubekommen, es gibt andere, denen geht es genauso und das ist nichts Schlimmes, sondern es ist einfach eine bestimmte Art, wie die Sexualität ausgeprägt ist. Und dass es viel Druck nimmt, den Fehler – den Fehler in Anführungsstrichen – bei sich zu suchen oder eben herausfinden zu wollen, was stimmt mit mir nicht.
SPRECHER
Ein großes Thema in den Foren sind Beziehungen.
O-TON 18 (Radloff)
Es gibt viele Asexuelle, die haben keine Liebesbeziehung im klassischen Sinne, die sind halt aromantisch, das heißt, die haben halt enge Freundschaften, die ähnlich wie Lebenspartnerschaften sind, oder einen ganz engen Freundeskreis und haben mit denen auch zusammen Kinder, was weiß ich. Aber die haben halt nicht dieses Liebesbeziehungskonzept sozusagen.
SPRECHER
Radloff ist eher der romantische Typ. Für sie war es deshalb besonders interessant zu erfahren, wie andere Asexuelle ihre Partnerschaft – und ein eventuelles Liebesleben – gestalten.
Musik Did that hurt? Z8007984 116
O-TON 19 (Radloff)
Wie ist denn das bei dir mit Treue, mit Liebessachen und so weiter. Wie können Beziehungen gestaltet werden, welche Nähe und welche Form von Intimität möchte ich gerne ausleben? Möchte ich Kinder haben oder nicht, wie sieht es mit meiner Weiblichkeit aus?
SPRECHER
Beim Thema Sex haben sich Radloff und ihr Freund inzwischen gut arrangiert – zu ihrer beider Zufriedenheit.
O-TON 20 (Radloff)
Wir haben da wirklich Wege gefunden, die da gut funktionieren, um sexuelle Nähe zu leben, ohne dass einer von uns beiden zu weit über sich selbst hinaus gehen muss.
SPRECHER
Wie Paare, bei denen einer asexuell ist, ihr Liebesleben gestalten – und wie sie mit Treue oder Eifersucht umgehen – ist sehr unterschiedlich. Auch in den Online-Foren zeigt sich auch, dass es „die“ Asexuellen natürlich nicht gar gibt.
Musik aus
O-TON 21 (Jückstock)
Es gibt jetzt wieder neue Unterkategorien, also ob man nun ein romantischer Asexueller ist, romantische Beziehungen eingeht ohne Sexualität oder ein Solo-Asexueller, also es gibt schon wieder ganz viele Unterkategorien, die zeigen, wie vielfältig es ist. Es gibt Menschen, die sich als asexuell bezeichnen, aber viel Freude an Masturbation haben. Es gibt Menschen, die sich als asexuell bezeichnen und überhaupt kein Interesse an Masturbation haben.
SPRECHER
Mit Gleichgesinnten zu sprechen, ist für viele auch deshalb wichtig, weil das Umfeld oft irritiert reagiert. Keine Lust auf Sex, da muss etwas schief gelaufen sein, denken offenbar viele Menschen. Diese Erfahrung hat auch Kati Radloff gemacht.
O-TON 22 (Radloff)
Mir wurde unterstellt, ich wurde missbraucht, ich wurde missbraucht und hätte es nur vergessen, mir wurde gesagt, ich hätte eine schwierige Kindheit gehabt, meine Eltern wären zu offen gewesen oder sie wären zu rigide gewesen, mir wurde gesagt, ich soll zum Arzt gehen, meine Hormone überprüfen lassen, das ist krank.
SPRECHER
Viele Asexuelle berichten, dass sie erst einmal auf Ablehnung stoßen, wenn sie Freunden und Bekannten erzählen, dass sie Sex nicht interessiert. Ähnlich wie Homosexuelle sprechen sie deshalb von einem Coming-Out, wenn sie sich zu ihrer Asexualität bekennen.
O-TON 23 (Jückstock)
In den seltensten Fällen löst es ja wohlwollende Neugier aus, sonst hätte man nichts zu befürchten, wenn man das sagt, wenn man dann auf viel wohlwollende Neugier stößt und Nachfragen. Sondern häufig gibt es ebenso latente Anfeindungen. Bist du frigide? Kommt dann im schlimmsten Fall noch die Nachfrage. Es gibt sehr viele negative Bezeichnungen für Menschen, die wenig sexuellen Kontakt haben, gerade was Frauen angeht. Und das mag zum einen sein, dass Menschen so reagieren, wenn sie auf etwas Anderes stoßen, was im ersten Moment fremd ist. Aber irgendwie scheint es ja auch sozusagen etwas auszulösen, dass sich jemand angegriffen fühlt.
SPRECHER
Die Frage ist: Warum eigentlich? Denn es könnte anderen ja eigentlich herzlich egal sein, wenn jemand asexuell ist – mal abgesehen vielleicht vom eigenen Partner. Jückstock vermutet, dass der ein oder andere, der ablehnend auf ein Coming-Out reagiert, gekränkt sein könnte, vielleicht auch nur unbewusst.
O-TON 24 (Jückstock)
Natürlich hat Sex auch was mit Fortpflanzung zu tun und wenn da jemand, der aus evolutionsbiologischer Sicht gute Erbanlagen verspricht, sagt: Meine Erbanlagen stehen nicht zur Verfügung. Das ist ne Frustration. Das eigene Begehren kommt nicht an bei einem Menschen, der sich als asexuell bezeichnet.
SPRECHER
Zwar würden eher wenige von sich behaupten, in evolutionsbiologischer Mission unterwegs zu sein und nach guten Erbanlagen Ausschau zu halten. Aber man sollte, sagt Jückstock, sich mal vor Augen führen, was Menschen so alles veranstalten, um attraktiv für potenzielle Sexpartner zu sein.
O-TON 25 (Jückstock)
Freitagabend in die Disco gehen und gucken, ob man mit jemandem knutschen kann, kann ne hohe Motivation sein, am Freitagabend loszugehen und irgendwie sich in enge Klamotten zu zwängen und draußen zu frieren, weil man sagt: Ach, vielleicht treffe ich jemand Nettes. Das ist sozusagen der Motivator. Wenn der sozusagen nicht da ist, dann würde jemand sagen: Warum soll ich mich bei Kälte, in unbequeme Klamotten, in eine Horde von betrunkenen Menschen begeben?
Musik Hubble (privat)
SPRECHER
Fragen wirft Asexualität auch in der Wissenschaft auf. Zwar gehen die meisten Forscher heute davon aus, dass keine oder wenig körperliche Anziehung durch andere Menschen genauso eine Ausprägung von Sexualität ist wie dessen Gegenteil, wenn jemand sehr schnell und häufig erregt ist. Dennoch stellen manche Forscher die Frage, inwieweit Asexualität einen Krankheitswert hat. Denn wenn jemand keine Lust auf Sex hat, kann das durchaus auf Erkrankung zurückgehen, zum Beispiel auf eine Depression. Deshalb ist es für Therapeuten wie Jückstock sehr wichtig, genau hinzuhören, wenn jemand von fehlender Libido berichtet.
Musik aus
O-TON 26 (Jückstock)
Wir haben Patienten oder Patientinnen, die sagen: Ich bemerke, dass ich keine sexuelle Lust mehr hab und das macht mir Probleme. Die bezeichnen sich nicht als asexuell, sondern da ist ein klarer Wunsch nach Veränderung Wunsch nach Hilfe. Deswegen suchen die therapeutische Hilfe auch auf.
SPRECHER
Wobei es auch einige Wissenschaftler gibt, die fragen, ob Asexualität nicht generell als sexuelle Störung gewertet werden sollte. Jückstock hat dazu eine klare Meinung:
O-TON 27 (Jückstock)
Das Entscheidende ist, dass ein Leidensdruck bei der betroffenen Person vorliegt, Leidensdruck und ein Veränderungswunsch, und das ist ganz häufig bei jemandem, der sich als asexuell bezeichnet, überhaupt nicht gegeben. Damit ist ein wesentlicher Bestandteil, um etwas als Krankheit klassifizieren zu können, gar nicht gegeben. Ich finde es auch durchaus sinnvoll, dass Asexualität nicht als Krankheit gewertet wird, sondern dass es einfach eine Ausprägung von Sexualität ist wie viele andere Ausprägungen auch.
SPRECHER
Ungeklärt ist auch die Frage, ob Asexualität dauerhaft oder temporär ist. Denn die Sexualität verändert sich im Laufe des Lebens, bei allen Menschen.
O-TON 28 (Jückstock)
Das bleibt ja nicht starr. Also in der Jugend ist die Sexualität anders als im Alter. Ich würde sehr dafür plädieren, offen zu sein für die Veränderung, die in uns möglich sind.
SPRECHER
Dass sich manche damit schwer tun, Asexualität als sexuelle Orientierung anzuerkennen, liegt vermutlich auch daran, dass sie nicht so richtig in unser Bild von Sexualität passt. Die gängige Vorstellung ist, dass Sex natürlich, eine Art Instinkt ist und man als junger, gesunder Mensch eben ein Liebesleben hat, egal, wie das im Einzelnen aussehen mag.
O-TON 29 (Flörcken)
Und darauf hatten Theorien von Sigmund Freud oder auch Masters und Johnson, das sind andere Sexualforscher, die haben das mitbeeinflusst.
Musik Water and Glass (privat)
SPRECHER
Laut dem Psychoanalytiker Freud ist der Mensch ein Wesen, das – bewusst oder unbewusst – durch seine Triebe gesteuert wird. Menschen, die keine Lust haben, passen nicht in dieses Modell. Und auch wenn nicht jeder die Theorien Sexualforschern wie Freud im Detail kennt – auf unser derzeitiges Verständnis von Sexualität hatten sie maßgeblichen Einfluss. Vielleicht stellen deshalb manche die Frage, ob bei Asexuellen etwas nicht stimmt oder ob in ihrer Kindheit etwas schief gegangen ist. Sie werden auf diese Weise pathologisiert, weil Asexualität bei Freud und Co einfach nicht vorgesehen war.
O-TON 30 (Flörcken)
Dieses Konzept von Sexualität als Norm führte dann lange Zeit oder führt immer noch dazu, dass Asexualität gar nicht richtig denkbar ist.
Musik aus
Musik Crazy in Love Z8007984 110
SPRECHER
Es wird deshalb sehr spannend, wie Asexualität als neue sexuelle Orientierung in wissenschaftliche Konzepte integriert wird, und wie das wiederum unsere Vorstellung von Sexualität verändern wird.
Musik aus
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