Seelenwanderung in den Religionen - Reinkarnation und Wiedergeburt
Leben wir mehr als einmal? Eine Frage, die Menschen immer schon beschäftigt. Antworten findet man vor allem im Hinduismus und Buddhismus, aber auch in anderen religiösen Vorstellungen. Was genau besagen die Konzepte von Seelenwanderung und Wiedergeburt und welche Konsequenzen können sie für das alltägliche Leben haben? (BR 2022)
Autor/in dieser Folge: Sylvia Schopf
Regie: Rainer Schaller
Es sprachen: Franziska Ball, Christian Jungwirth, Christian Schuler
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Jens-Uwe Hartmann, Professor em. am Institut für Indologie und Tibetologie an der Ludwig-Maximilian-Universität, München
Franz Winter, Religionswissenschaftler, Professor an der Karl-Franzens-Universität, Graz
Josef-Franz-Thiel, Professor em. der Ethnologie, ehemaliger Direktor des Weltkulturenmuseums, Frankfurt
Engin Iktir, Reinkarnationstherapeut und Heilpraktiker für Psychotherapie in Frankfurt/Main
radioWissen hat noch weitere hörenswerte Folgen zum Thema:
Der Buddhismus - Von Indien in die Welt
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Diwali - Das hinduistische LIchterfest
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Feuer in den Religionen - Erleuchtung, Reinigung, Wandel
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Literaturtipps:
Ronald Zürner, Reinkarnation – Einführung in die Wissenschaft der Seelenwanderung, Govinda Verlag, Zürich 2005
Harald Wiesendanger, Wiedergeburt – Herausforderung für das westliche Denken, Fischer Verlag, Frankfurt /Main
Jack Hawley (Hrsg.) Bhagavad Gita – Der Gesang Gottes, eine zeitgenössische Version für westliche Leser, Übersetzung, Peter Kobbe, Goldmann Verlag München
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ATMO: Herzschlag + Atmung (auch dem Folgenden unterlegen)
SPRECHERIN
Der Mensch atmet. Das Herz schlägt. Kommt beides zum Stillstand, gilt der Mensch als tot. Und dann?
ATMO (endet)
ZITATOR
Das war’s! Aus und vorbei. Mit dem Tod endet alles.
SPRECHERIN
So die Haltung von Atheisten, für die weder Gott noch Götter oder ein Leben nach dem Tod existiert. Doch gibt es wohl kaum eine Religion, die nicht davon ausgeht, dass es im Menschen eine Lebenskraft, ein Lebensprinzip gibt, das auch „Bewusstsein“, „Höheres Selbst“ oder „Seele“ genannt wird, das beim Tod den Körper verlässt und weiter existiert. Und wie sieht das aus?
SPRECHER
Sind Körper und Seele auch über den physischen Tod hinaus miteinander verbunden? Oder existieren sie unabhängig voneinander? Durchlebt jede Seele nur ein einziges Leben oder mehrere?
MUSIK (m03, Sinfonie Nr.4 G-Dur, Gustav Mahler, 1:05)
O-Ton 01 (0’15) Franz Winter
Prinzipiell gilt fürs Christentum: Es gibt eine sehr enge Anbindung der Seele an den Körper, was sich vor allem darin spiegelt, dass man die beiden – Körper und Seele - nicht auseinanderdividieren kann; und gemeint ist durchaus, dass am Ende der Zeiten sozusagen Körper und Seele zusammengefügt wird.
SPRECHERIN
Erklärt der Grazer Religionswissenschaftler und Universitätsprofessor Franz Winter. Nach christlich-jüdischem Verständnis durchläuft also eine Seele in einem Körper ein Leben. Am letzten Tag der Welt, dem sogenannten „Tag des Jüngsten Gerichts“, an dem die Toten wieder auferstehen, vereint sich die Seele dann wieder mit dem einstigen Körper. „Eine Seele - ein Körper – ein Leben“ - dies ist das Konzept von Christentum, Judentum und auch dem Islam. – Aber, könnte es nicht auch anders sein?
MUSIK hoch
ZITATOR
„Ist es denn ausgemacht, dass meine Seele nur einmal Mensch ist?“ 1)
SPRECHER
Fragt der Dichter, Dramatiker und Philosoph Gotthold Ephraim Lessing und der französische Aufklärungsphilosoph Voltaire formuliert kurz und knapp:
ZITATOR
„Zweimal geboren zu werden ist nicht erstaunlicher als einmal.“ 2)
MUSIK (Z8015897130, Lethargia more red, 1:00)
SPRECHERIN
Schon die Grabbeigaben vieler Kulturen, die den Toten ins Jenseits begleiten sollen, lassen vermuten, dass die Menschen bereits in früheren Zeiten an so etwas wie „Wiedergeburt“ glaubten. Eine Vorstellung, die möglicherweise aus der Beobachtung der Natur entstand, in der es ein beständiges Werden und Vergehen gibt: Sonne und Mond, die Jahreszeiten, die Pflanzen – alles kommt und geht. Wieder und immer wieder. Warum sollte das nicht auch für den Menschen gelten, der ja Teil dieses Kosmos’ ist?
MUSIK hoch
SPRECHERIN
Viele sogenannte „Ur- oder Naturvölker“ gehen davon aus, dass man mehr als einmal lebt, erzählt Josef-Franz Thiel, Ethnologe, Religionswissenschaftler und ehemaliger Direktor des Weltkulturenmuseums in Frankfurt:
O-TON 02 (0’33) JOSEF F. THIEL
Die meisten Ethnien haben die Vorstellung von zwei Seelen. Davon gehen sie aus. Da ist zunächst die Lebensseele oder Körperseele wie man sie auch nennt. Wenn der Mensch stirbt, ist auch diese Seele mitgestorben. Die zweite Seele ist die Freiseele. Wenn der Mensch nachts träumt, geht sein Leben weiter, aber sie geht auf Wanderschaft. Und wenn er stirbt, stirbt sie nicht. Sie überlebt und wird dann in das Ahnenreich gehen.
SPRECHERIN
Von dort kann sie auch wiedergeboren werden und zwar als Nachkomme innerhalb ihrer einstigen Familie, dem Clan oder der Sippe. Deshalb versuchte man früher gleich nach der Geburt eines Kindes mittels magischer Praktiken herauszufinden, welcher Ahn in dem Neugeborenen wiederauflebt und entsprechend folgte die Namensgebung.
SPRECHER
Auch in der europäischen Tradition kennt man diesen Brauch. Kinder werden nach Großvater, Großmutter oder einem anderen Familienangehörigen benannt. Ein Hinweis oder eine Hoffnung, dass in den Enkeln etwas von den Vorfahren fortlebt.
MUSIK (M0011691Z00, Sitar masters, 0:15)
ZITATOR
Wie ein Mensch alte Kleider ablegt und neue anzieht, so gibt die Seele alte und unbrauchbar gewordene Körper auf und nimmt neue physische Körper an. 3)
SPRECHER
Heißt es in der Bhagavad Gita, einer der zentralen Schriften des Hinduismus. Was es mit der Seele in dieser Religion auf sich hat, erklärt der Indologe Jens-Uwe Hartmann, emeritierter Professor der Ludwig-Maximilian-Universität in München:
O-TON 03 (0’27)
Im Hinduismus geht man davon aus, dass es eine dauerhafte Einheit gibt, die tatsächlich von einer Existenz in die nächste weiterwandert. Das indische Wort dafür ist Atman. Und das wird bei uns mit Seele übersetzt. Etwas, was uns ausmacht. Etwas Dauerhaftes, nicht Greifbares, das dem Menschen innewohnt und ihn begleitet.
MUSIK (C1523050011, Harappa, 0:45)
ZITATOR
Für die Seele gibt es weder Geburt noch Tod. Sie ist immerwährend, ewig dieselbe, unwandelbar und wird nicht getötet, wenn der Körper getötet wird. Nach dem Tod verlässt sie den Körper; um in einem anderen wiedergeboren zu werden. 4).
SPRECHERIN
Heißt es in Bhagavad Gita.)) Im Hinduismus kann man also von einer Seelenwanderung sprechen. Denn eine Seele kommt immer wieder in neuen, anderen Körpern in die Welt. Im Buddhismus hingegen gibt es keine dauerhafte, unvergängliche Seele, erzählt der Indologe und Buddhismus-Spezialist Jens-Uwe Hartmann:
O-TON 04 (0’34) JENS-UWE HARTMANN
Das liegt daran, dass der Buddhismus von der Grundwahrheit ausgeht, dass alles vergänglich ist. Und von dieser Voraussetzung aus, kann es keine dauerhafte Seele geben, die von einer Existenz in die nächste wandern würde. Im Buddhismus nimmt man an, dass so ein Bewusstseinsimpuls von einer Existenz in die nächste weitergeht. Im Todesfall verlässt das Bewusstsein den Körper und dass die Summe der guten und schlechten Verhaltensweisen, gekoppelt an das Bewusstsein, weiterwandert.
SPRECHERIN
Und was unterscheidet nun die Vorstellung einer ewigen, unveränderlichen Seele vom buddhistischen Konzept des Bewusstseins?
O TON 05 (0’17) JENS-UWE HARTMANN
Das Bewusstsein ist ein Prozess, der sich ständig ändert. Das ist keine Sekunde lang gleich. Unser Bewusstsein ändert sich in einem Moment durch die ständig neuen Eindrücke, die wir erleben. Es ist wie ein Bankkonto, auf dem Soll und Haben verbucht wird und das man in die nächste Existenz mitnimmt.
SPRECHERIN
Und diese Eindrücke und Erfahrungen ebenso wie alle Handlungen, Gedanken und Gefühle, die jeder im Verlauf seines Lebens erfährt, haben Auswirkungen auf das aktuelle oder das nächste Leben. Und alles, was dem Menschen im jetzigen Leben widerfährt, hat seine Ursachen in vergangenem Tun - in dieser oder einer früheren Existenz. Das ist die Lehre vom Karma, einem zentralen Prinzip von Buddhismus und Hinduismus.
SPRECHER
Karma ist das kosmische Gesetz von Ursache und Wirkung. Was immer man tut, denkt und empfindet, hat Konsequenzen in der Zukunft nach dem Motto, das sich auch bei Paulus in der Bibel findet:
ZITATOR
„Was der Mensch sät, wird er ernten.“ 5)
SPRECHER
Oder populär ausgedrückt: „Wie es in den Wald hineinruft, so schallt es heraus.“
SPRECHERIN
Die Karmalehre ist elementar für das Konzept der Wiedergeburt. Denn das Karma – also alles Tun - bestimmt, in welchem Körper, welcher Familie, welchem Land, unter welchen Umständen die Seele bzw. das Bewusstsein wiedergeboren wird. Was das konkret bedeuten kann, erläutert der Indologe Jens-Uwe Hartmann:
O-TON 06 (0’30) JENS-UWE HARTMANN
Jemand, dem es in diesem Leben schlecht geht, der hat zu einem früheren Zeitpunkt versäumt, bessere ethisch-moralische Grundlagen zu leben, die sein jetziges Leben verbessert hätten. Und das wird als Ansporn genommen. Wenn du willst, dass es dir in der Zukunft bessergeht, musst du jetzt dafür Sorge tragen, dich so zu verhalten, dass du die Grundlagen dafür schaffst. Das ist im Grunde die Quintessenz der ethischen Vorstellungen in allen indischen Religionen. Die Verantwortung des Einzelnen ist zentral.
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