Wie lernen wir, Emotionen zu kontrollieren? - Von Wutausbrüchen, Freudensprüngen und Bedürfnissaufschub
Wutanfälle bei Kindern sind berühmt-berüchtigt. Die Kleinen entdecken ihren Willen und wollen ihn durchsetzen. Mit der Zeit lernen sie, Emotionen zu regulieren. Aber was passiert eigentlich mit all den Gefühlen? Von Maike Brzoska
Credits
Autorin dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Irene Schuck
Es sprach: Susanne Schroeder
Technik: Ursula Kirstein
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Sabina Pauen, Psychologin und Professorin an der Universität Heidelberg
Herbert Scheithauer, Psychologe und Professor an der Freien Universität Berlin
Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 radioWissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnah nimmt Euch „Wie wir ticken“ mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek.
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
01 TON (Maike, Leo)
Zähneputzen. Gleich. Nein, jetzt Leo. Komm, wir müssen gleich los.
ERZÄHLERIN
So klingt es bei uns morgens. Erst frühstücken, Zähne putzen und dann anziehen.
02 TON (Maike, Leo)
Zieh mal bitte die Schlafsachen aus. Hörst du mich? Einmal Schlafsachen ausziehen.
ERZÄHLERIN
Aber mein Sohn ist schon wieder in seiner eigenen Welt. Er will mir unbedingt noch seinen Lieblingsbaum draußen zeigen.
03 TON (Maike, Leo)
Da, der wo das Häuschen daneben ist. Aha. So komm, zieh mal jetzt an. Hast du ihn gesehen? Ja. Stell dich mal hin und zieh die Sachen aus.
ERZÄHLERIN (leicht genervt)
Es folgt eine Runde auf dem Bett hüpfen ….
04 TON (Maike, Leo)
Komm her. Mama, kann ich spielen? Wir ziehen dich jetzt erst mal an. Beine durch. Wo sind denn jetzt die Socken? Socken? Ich hab dir hier eben die Socken gelegt. Einmal Socken suchen. Hab sie. Das ist ein Fußball.
ERZÄHLERIN
Die Socken durchs Zimmer kicken und noch ein Purzelbaum im Bett. Ist alles viel lustiger als Anziehen. Kann ich ja verstehen. Aber trotzdem: die Zeit drängt, wir müssen los zur Kita. Deshalb dranbleiben, es fehlen nur noch Schneeanzug und Schuhe:
05 TON (Maike, Leo)
Den Anzug ziehst du dir gleich alleine an. Ne Mama. Warum denn nicht? Weil ich nicht will!
Musik 2
"Im Innern Berlins" - Album: Berlin 1945 - Tagebuch einer Großstadt (Die Original Filmmusik) - Komponistin und Ausführende: Ulrike Haage - Länge: 0'50
ERZÄHLERIN
An dieser Stelle kann es dann auch mal etwas lauter werden, aber nur kurz. Inzwischen kriegen wir es eigentlich immer hin, dass alle einigermaßen pünktlich und vollständig angezogen loskommen.
Vor ein paar Jahren war das noch anders. Da war mein Sohn etwa zwei Jahre alt. Wenn es schlecht lief, kam es an dieser Stelle dann zu einem richtigen Wutanfall: Hochroter Kopf, Schuhe, die durch den Flur flogen, ein schreiendes Kind, das aufgebracht hin und her lief. Wie das klang, erspare ich Ihnen an dieser Stelle. Die meisten Eltern kennen das vermutlich ohnehin. So ein Wutanfall beginnt in der Regel damit, dass ein Kind etwas will, und zwar unbedingt!
06 O-TON (Pauen)
Sei es jetzt eine bestimmte Jacke anzuziehen oder eben den Teddy noch mitzunehmen oder Süßigkeiten aus dem Supermarkt mitzunehmen. Egal was es ist, es wird erstmal insistiert, dann gibt es ein Nein, ein Widerstand auf der anderen Seite, und dann wird das immer lauter und das Kind kann wirklich am Schluss völlig hilflos auf dem Boden liegen, strampeln, schreien, völlig ausgeliefert seinen negativen Emotionen sein.
ERZÄHLERIN
Sagt die Psychologin Sabina Pauen. Sie ist Professorin an der Universität Heidelberg. Typischerweise treten solche Wutausbrüche im Alter von zwei bis vier Jahren auf.
07 O-TON (Pauen)
Auch noch bis fünf, aber nach fünf selten.
Musik 3
"Im Innern Berlins" - Album: Berlin 1945 - Tagebuch einer Großstadt (Die Original Filmmusik) - Komponistin und Ausführende: Ulrike Haage - Länge: 0'40
ERZÄHLERIN
Bei uns gab es die Wutanfälle meistens morgens, wenn Müdigkeit und Zeitdruck zusammenkamen. Bis mein Sohn sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, konnte es schon mal zehn bis fünfzehn Minuten dauern. Eine schwierige Situation für uns Eltern. Manchmal hatte ich ein Meeting und wusste, alle Kolleginnen und Kollegen warten gleich auf mich. Oder ich musste zum Zug – und der wartet eben leider nicht auf mich. In solchen Momenten hätte ich mich am liebsten selbst auf den Boden geworfen und losgeschrien. Bringt natürlich nichts.
08 O-TON (Pauen)
Was man dann machen muss, ist, zunächst Verständnis signalisieren. Das ist natürlich genau nicht das Gefühl, das man gerade hat. In dem Moment, wenn man schnell aus der Tür muss und das Kind streikt. Aber im Endeffekt sagen: Ja, ich verstehe, du willst das jetzt wirklich nicht. Aber es muss jetzt so laufen. Also auf der einen Seite Verständnis signalisieren, auf der anderen Seite ganz ruhig und ganz konsequent die eigene Position noch mal wiederholen für das Kind, manchmal auch mehrmals. Aber das Wichtigste ist, ruhig zu bleiben. Und das Schwerste.
ERZÄHLERIN
Mit der Zeit sind wir als Eltern gelassener geworden. Was mir wirklich sehr geholfen hat: zu wissen, warum es zu solchen Wutausbrüchen kommt.
09 O-TON (Pauen)
Das hat was damit zu tun, dass die Kinder gerade eine bestimmte Entwicklungsphase durchlaufen, in der sie auf der einen Seite schon ein Autonomiebedürfnis entwickelt haben, auch die Fähigkeit, viele Dinge selber zu machen und auch zu kommunizieren, was sie möchten.
ERZÄHLERIN
Die Kinder wissen, was sie wollen und können es den Eltern auch mitteilen. Aber andere Fähigkeiten fehlen ihnen noch.
10 O-TON (Pauen)
Zum Beispiel die Fähigkeit, die Perspektive von Anderen mit einzubeziehen.
Musik 4
"48 Hours" - Ausführende: James Horner / Daniel Pemberton - Komponist: Daniel Pemberton - Album: Mark Felt: The Man Who Brought Down the White House (Original Motion Picture Soundtrack) - Länge: 0'35
ERZÄHLERIN
Also beispielsweise meine Perspektive. Mir kam es tatsächlich so vor, dass mein Sohn ausgerechnet immer dann streikte, wenn ich einen wirklich wichtigen Termin hatte und pünktlich losmusste. Manchmal dachte ich sogar, dass er sich absichtlich querstellte, so von wegen: Mama soll keine Termine haben, sondern nur für mich da sein. Trotzkopf sagten manche Menschen früher – aber mit Trotz, also mit Widerstand gegen die Eltern, hat so ein Wutausbruch nichts zu tun.
11 O-TON (Scheithauer)
Als Elternteil, ich bin selber Vater, rutscht man sehr schnell auch in so eine Situation, dass man denkt: Oh, dieses Kind, was will das jetzt wieder? Und man bezieht das so auf sich selbst und denkt, das Kind will sozusagen rebellieren, es will seinen Kopf durchsetzen, es will einem etwas Böses. Das ist überhaupt nicht der Fall. Die Eltern müssen sich klar machen, dass das Kind eben noch nicht anders kann in so einer Situation.
ERZÄHLERIN
Sagt der Psychologe Herbert Scheithauer. Er ist Professor an der Freien Universität Berlin. Rückblickend denke ich, dass meine eigene Anspannung oft dazu beigetragen hat, wenn es morgens laut wurde. Deshalb: am besten gelassen bleiben. Und vielleicht schafft man es sogar, sich darüber zu freuen, dass das eigene Kind gerade einen bedeutenden Entwicklungsschritt macht. Das versucht auch Scheithauer zu vermitteln.
12 O-TON (Scheithauer)
Wenn Eltern mich fragen, sage ich oft: Herzlichen Glückwunsch, Ihr Kind entwickelt sich ganz vorzüglich. Denn zum einen sind Wutanfälle die Möglichkeit, mit denen kleine Kinder ihre Gefühle ausdrücken und bewältigen. Und zum anderen lernen sie gerade, dass ihr Verhalten andere beeinflusst.
ERZÄHLERIN
Im Alter von anderthalb bis drei Jahren passiert bei Kindern unglaublich viel. Wir als Eltern waren damals oft erstaunt. Zum Beispiel als unser Sohn, der als Baby eigentlich immer getragen werden wollte, plötzlich anfing, auf eigenen Beinen die Welt zu erkunden.
13 O-TON (Scheithauer)
Sie beginnen unabhängiger zu werden. Das geht damit einher, dass das Kind sich plötzlich im Spiegel selber erkennt, dass es das es plötzlich Worte benutzt wie „mein“ und eben auch das berühmt-berüchtigte Wort „Nein“. Und sie lösen sich damit natürlich auch ein Stück weit von den Eltern. Sie folgen nicht mehr so ganz dem, was die Eltern sagen und wollen, weil sie ihren eigenen Willen durchsetzen wollen. Sie wollen bestimmen, was sie anziehen, was sie essen, was sie tun.
ERZÄHLERIN
Ein Stück Autonomie also – das starke Emotionen mit sich bringen kann. Heftige Wut, wenn die Eltern einen ausbremsen. Aber auch riesige Freude, bei unserem Sohn zum Beispiel, als er es das erste Mal geschafft hat, die Tür alleine aufzumachen. Solche Gefühle können Eltern ihren Kindern spiegeln.
14 O-TON Scheithauer
Also von Geburt an kann man eigentlich Emotionen dem Kind gegenüber spiegeln: Ach, jetzt bist du traurig. Oder ja, das macht dich froh. Dass man dem Kind erklärt, wie es sich überhaupt fühlt. Das klingt jetzt komisch, es ist aber so, dass Kinder überhaupt noch gar kein Verständnis haben in einem sehr jungen Alter, was Emotionen sind und was mit ihnen da eigentlich los ist.
ERZÄHLERIN
Denn erst wenn sie verstehen, was da gerade passiert, welches Gefühl sie haben, können sie lernen, damit umzugehen. Anders ausgedrückt: Sie können lernen, ihre Emotionen zu regulieren.
15 O-TON (Scheithauer)
Und es gibt zwei Emotionsregulations-Strategien, wo wir auch aus einer Vielzahl von Studien wissen, dass diese besonders Sinn machen, die aber erst bei etwas älteren Kindern funktionieren, weil es bestimmte kognitive Kapazitäten braucht, das heißt, das Kind muss kognitiv in der Lage sein, das zu tun.
Musik 5:
"Desolate Spirit" - Ausführende: Nick Johnson & Nino Morro - Album: Nordic Noir - Komponist: Nick Johnson - Länge: 1'23
ERZÄHLERIN
Strategie Nummer eins: Das Kind möchte etwas haben, zum Beispiel den Schokoriegel an der Supermarktkasse. Und dann sagt oder denkt das Kind:
16 O-TON (Scheithauer)
Ist ja nicht so schlimm, wenn ich das jetzt nicht kriege, dann kriege ich nachher eben ein Gummibärchen. Das heißt, das Kind nimmt so ein bisschen Druck aus dieser Situation, dass es jetzt nicht sofort etwas bekommt, weil es sagt: Ich finde das jetzt gar nicht so wichtig.
ERZÄHLERIN
Es relativiert also ein Stück weit seinen eigenen Wunsch. Irgendwann wird es schon wieder was Süßes geben. Es muss nicht sofort sein. Das kann die Wut mildern. Die zweite Strategie, die Kinder ab einem gewissen Alter lernen können, ist: Lösungen finden. Zum Beispiel wenn der Turm, der sehr lange und mit sehr viel Hingabe gebaut wurde, plötzlich umfällt.
17 O-TON (Scheithauer)
Wenn also etwas umgefallen ist, dann nicht schreien und einen Wutanfall kriegen, sondern sagen: Ach, ist nicht schlimm, kann man ja wiederaufbauen und dann das Ganze auch wiederaufbauen. Und dann steht der Turm wieder und dann gibt es auch keinen Grund mehr für Frust.
ERZÄHLERIN
Relativieren und Lösungen finden – beides sind erfolgreiche kognitive Strategien, um eine Situation neu zu bewerten und mit Frust umzugehen. Es gibt sehr viele solcher Strategien, wobei einige von Psychologinnen und Psychologen heute nicht mehr empfohlen werden. Zum Beispiel „Dampf ablassen“, wie man umgangssprachlich sagt. Dahinter steht die sogenannte Karthasis-Hypothese.
18 O-TON (Scheithauer)
Die geht davon aus, dass sich zum Beispiel bei Frustrationen, die ich erlebe, meine Wut rauslassen muss. Es gibt also ganz berühmte Experimente, auch aus der Sozialpsychologie, wo wir Kindern die Möglichkeit geben, sozusagen dann mit Keulen auf eine Puppe einzuschlagen. Oder wir finden das auch häufig in Erziehungsratgebern. Das Kind soll dann ein Kissen nehmen und mit der Faust reinschlagen. In dieser Situation selber ist das tatsächlich so, dass man sich dann so ein bisschen wie befreit fühlt. Das Problem ist aber, dass die Kinder dann lernen, dass das ein tolles Gefühl ist, wenn man die Wut so rauslässt, wenn man zuschlägt, wenn man haut. Und das bleibt als Lerneffekt. Und deshalb ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass auch zukünftig in einer solchen Situation genau ein solches Verhalten gezeigt wird, was wir ja eigentlich nicht wollen.
ERZÄHLERIN
Als ich das höre, erschrecke ich erst mal. Denn tatsächlich haben wir das mit dem Kissen zum Reinboxen auch mal versucht, man liest es einfach oft. Es half auch ein bisschen. Aber auf längere Sicht ist es eben keine gute Idee.
19 O-TON (Scheithauer)
Wir wissen aus Studien, dass die Wahrscheinlichkeit steigt, dass Menschen, die ihre Wut in solchen Situationen rauslassen, zukünftig häufiger in wutauslösenden Situationen auch ein aggressives Verhalten zeigen. Es macht also mehr Sinn, mit der Wut umzugehen, die Wut zu beherrschen, zu kanalisieren in sozial angemessene Verhaltensweisen.
ERZÄHLERIN
Wobei es an dieser Stelle wichtig ist zu betonen: Es geht nicht darum, gar keine Wut oder keinen Frust mehr zu haben. Sondern vielmehr darum, Emotionen so zu regulieren, dass sie einen nicht mehr völlig überwältigen.
20 O-TON (Scheithauer)
Alle Emotionen, das muss man immer wieder sagen, haben ihre Berechtigung. Es geht also nicht darum, Emotionen wegzuregulieren, Dass wir nicht mehr traurig sind, ängstlich oder wütend. Das wäre fatal, weil alle Emotionen haben ihre Funktion, ihre Bedeutung in unseren sozialen Interaktionen.
ERZÄHLERIN
Sie sind wichtig, weil sie anderen Menschen signalisieren, wie es einem geht.
21 O-TON (Scheithauer)
Das heißt, man kann einem Menschen ansehen, wenn er Angst hat oder wenn er wütend ist oder wenn er glücklich ist. Und sie regulieren dann die Interaktion mit anderen Menschen. Das heißt, wenn ich sehr traurig bin, dann sehen das andere und sprechen mich an, oder ich suche mir selber Hilfe. Dafür dienen Emotionen.
ERZÄHLERIN
Deshalb ist es zwar wichtig, dass wir Emotionen regulieren, auch ein Stück weit dämpfen und kontrollieren, aber gleichzeitig auch ausdrücken und zeigen können. Langfristig betrachtet, kann es sonst zu Depressionen kommen im schlimmsten Fall.
22 O-TON (Pauen)
Wenn ich jetzt Gefühle habe und die werden nicht wahrgenommen von Anderen oder ich kann das Verhalten, das daraus resultieren würde, nicht zeigen, dann lähmt mich das oder macht mich hilflos. Und da ist so der Übergang zu depressiven Verstimmungen oder auch Depressionen irgendwann. Das ist ja gelernte Hilflosigkeit. Also ich kann nichts machen, ich werde nicht wahrgenommen und ich kann nichts bewirken. Das sind Gefühle, die mich sehr traurig und hilflos machen.
Musik 6
"Im Innern Berlins" - Album: Berlin 1945 - Tagebuch einer Großstadt (Die Original Filmmusik) - Komponistin und Ausführende: Ulrike Haage - Länge: 0'45
ERZÄHLERIN
Auch während eines Wutanfalls ist es deshalb wichtig, beim Kind zu bleiben und ihm zu signalisieren, es ist schon in Ordnung, dass du jetzt wütend bist.
23 O-TON (Pauen)
Das Gefühl ist erstmal da und es wird sich auch nur dann verändern, wenn sich meine Bewertung der Situation verändert…
ERZÄHLERIN
… was die Kleinen aber eben noch nicht können …
23 O-TON
Oder wenn eine andere Person darauf reagiert hat und mein Signal angekommen ist. Erst dann kann es wieder flüssig werden, sagen wir Psychologen manchmal, dass ich irgendwie wieder in andere Richtungen auch denken und fühlen kann.
Musik 7
"Desolate Spirit" - Ausführende: Nick Johnson & Nino Morro - Album: Nordic Noir - Komponist: Nick Johnson - Länge: 0'41
ERZÄHLERIN
Je älter Kinder werden, desto besser gelingt es ihnen, Gefühle zu regulieren. Auch weil sie immer besser sprechen können.
24 O-TON (Pauen)
Und damit auch in Verhandlungen einzutreten mit den Eltern und auf eine sozial akzeptierte Weise Interessenkonflikte zu regeln.
ERZÄHLERIN
Oh ja, das Verhandeln! Unser Sohn macht inzwischen Vorschläge, wie wir das mit den Süßigkeiten handhaben sollen. Also seiner Meinung nach. Nach jedem Essen etwas aus der Süßigkeiten-Dose. Oder für jedes Mal Zimmer aufräumen einen Schokoriegel. Meistens finden wir einen Kompromiss. Hilfreich ist dabei, dass er unsere Sichtweise inzwischen nachvollziehen kann.
25 O-TON (Pauen)
Was sich ändert, ist eben, dass man die Fähigkeit entwickelt, die Position des Anderen besser zu verstehen und damit auch vielleicht die eigenen Emotionen oder Wünsche zu relativieren. Und ganz wichtig ist: Das hängt mit der Reifung des präfrontalen Cortex zusammen, die Fähigkeit, auch eigene Gefühle ein Stück weit zu steuern, Situationen unterschiedlich zu bewerten, neu zu bewerten. Das sind alles Kompetenzen, die mit dem Alter immer mehr dazukommen und dann uns helfen, in sozial akzeptierter Weise unsere Interessen zu kommunizieren.
ERZÄHLERIN
In sozial akzeptierter Weise – das gilt übrigens auch für positive Emotionen. Man könnte vielleicht denken, dass wir Freude nicht regulieren müssen, weil man davon nicht genug haben kann. Ein Trugschluss.
26 O-TON (Scheithauer)
Stellen Sie sich vor, Sie wären stundenlang euphorisch oder überschwänglich positiv gestimmt. Das klingt jetzt erst mal so, als wäre das etwas sehr Erstrebenswertes. Aber ich glaube, wenn man so richtig glücklich ist und euphorisch hochspringt, wenn man das mal 15, 20 Minuten erleben würde, wäre man fix und fertig.
ERZÄHLERIN
Hinzu kommt: Erwachsene zeigen Freude anders als Kinder. Ich erinnere mich noch daran, wie mein Sohn und seine beste Freundin sich das erste Mal nach den Ferien in der Kita wiedergesehen haben. Die beiden fielen sich in die Arme und sind dann händchenhaltend und im Hopserlauf in ihren Kitaraum gehüpft. Wir Eltern waren entzückt. Tatsächlich freue ich mich wirklich auch, wenn ich Kolleginnen oder alte Freunde nach längerer Zeit wiedertreffe. Aber Händchenhaltend durch die Stadt? Im Hopserlauf durch die Redaktion? Eher nicht. Das zeigt: Wie wir unsere Gefühle ausdrücken, was akzeptiert ist und was nicht, ist auch eine Frage der gesellschaftlichen Normen.
27 O-TON (Pauen)
Das hängt sehr von kulturellen und normativen Erwartungen ab. Und bei Erwachsenen drückt sich eben unbändige Freude anders aus als bei einem Kleinkind.
ERZÄHLERIN
Wie Gefühle ausgedrückt werden, lernen Kinder vor allem durch Beobachtung.
28 O-TON (Pauen)
Alle Kinder lernen durch Beobachtung am Modell. Und für die Kleinkinder sind die etwas älteren Kinder eben das Modell. Und wenn in einer Kultur sich eine bestimmte Form des Ausdrucks verbreitet hat, dann läuft dieses Lernen implizit. Das wird auch gar nicht irgendwie eingedrillt oder so, sondern das entsteht einfach, weil die Umgebung so ist.
ERZÄHLERIN
Die ist zum Beispiel in Asien anders als in Europa.
29 O-TON (Pauen)
Eine Kollegin von mir ist Japanologin. Die hat mir erzählt, dass sie mit ihren Kindern in Japan auf dem Spielplatz immer sehr unangenehm auffällt, weil ihre Kinder eben sehr laut durch die Gegend rufen und eben sehr viel Emotionsausdruck zeigen. Und schon die kleinen Kinder in Japan eigentlich viel gesitteter und ruhiger sich äußern. Also die Erwartungen, was den Ausdruck angeht und die Wildheit des Verhaltens angeht, sind in Japan ganz anders als hier.
ERZÄHLERIN
Ich finde es ja toll, wenn die Kinder auf dem Spielplatz sich so richtig austoben. Wenn sie wild spielen, rennen und auch mal so richtig rummatschen. Aber ich bin eben auch jemand, der im Westen sozialisiert wurde, also einer individualistischen Kultur.
30 O-TON (Scheithauer)
Hier fördern Eltern zum Beispiel die Selbstbestimmtheit des Kindes, die Autonomie, die Unabhängigkeit ihrer Kinder. Und der Selbstausdruck und eine offene Kommunikation von ich-fokussierten Emotionen wird hier besonders betont. Also Ärger, Stolz, Ekel, auch negative Emotionen werden hier viel stärker gefördert und akzeptiert als eben in den kollektivistischen Kulturen.
ERZÄHLERIN
Die kollektivistischen Kulturen findet man in vielen Ländern Asiens.
31 O-TON (Scheithauer)
Wir sprechen auch von Emotional Display Rules, das heißt, es gibt bestimmte Regeln, die wir einfach kulturell vermittelt kennen, wie man sich in bestimmten Kontexten zu verhalten hat – wenn man glücklich ist, wenn man fröhlich ist, wenn man wütend ist, wenn man ängstlich ist usw. Das heißt, je nach kulturellem Hintergrund kann dann auch die gezeigte Gesichts-Mimik etwas anders ausfallen.
ERZÄHLERIN
Das kann dazu führen, dass wir in einer fremden Umgebung, in einer anderen Kultur erst mal unangenehm auffallen. Aber gleichzeitig macht es auch deutlich, wie vielfältig wir Menschen sind.
32 O-TON (Pauen)
Auf der positiven Seite zeigt das ja eigentlich, mit wie vielen unterschiedlichen Formen des Austausches wir zurechtkommen. Also im Prinzip sind die Kleinen wirklich offen für alles. Es kommt darauf an, was wir ihnen bieten.
Musik 8
"Im Innern Berlins" - Album: Berlin 1945 - Tagebuch einer Großstadt (Die Original Filmmusik) - Komponistin und Ausführende: Ulrike Haage - Länge: 0'24
ERZÄHLERIN
Uns ist es wichtig, unserem Sohn zu zeigen, dass alle seine Gefühle okay sind. Auch Wut. Und mit der Zeit ist es uns gelungen, auch bei heftigen Wutanfällen gelassen zu bleiben. Meistens jedenfalls. Aber es muss auch gar nicht immer perfekt laufen.
33 O-TON (Scheithauer)
Weil es gibt ja auch Möglichkeiten der Wiedergutmachung, dass man dem Kind das hinterher erklärt und sagt: Du, Mama ist gerade ganz doll im Stress und es tut mir leid, ich wollte dich jetzt nicht anschreien. Auch das ist etwas, was Kinder dann lernen von den Erwachsenen, dass man auch mal einen Fehler macht und dass man sich aber entschuldigt und mit dieser Situation umgeht.
Musik 9
"Desolate Spirit" - Ausführende: Nick Johnson & Nino Morro - Album: Nordic Noir - Komponist: Nick Johnson - Länge: 0'37
ERZÄHLERIN
Sich entschuldigen, sich wieder vertragen und versöhnen – auch das will gelernt sein. Am besten von den eigenen Eltern.
34 O-TON (Scheithauer)
Man kann damit seinem Kind auch gleichzeitig wieder etwas Gutes tun, indem es lernt: Auch Erwachsene sind schwach, auch Erwachsene machen Fehler, und die wissen aber auch, wie man sich dann entschuldigt und wie man das wieder geradebiegt.
ERZÄHLERIN
Und das ist bei all den starken Gefühlen, die im Familienalltag so aufkommen, doch letztlich sehr beruhigend.
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