Das Interstitium - Unübersehbar groß im Körper
2018 sorgte ein Team von US-amerikanischen Wissenschaftlern für viel Aufsehen. Die Forschenden hatten ein neues System im Körper entdeckt, manche sprachen sogar von einem neuen Organ: Es geht um das Gewebe, das die Organe umhüllt, wissenschaftlich: Interstitium. Wie ist es damals zu dieser Veröffentlichung gekommen? Und: ist das, was die Forschenden entdeckten, tatsächlich neu? Muss die Anatomie des menschlichen Körpers vielleicht sogar umgeschrieben werden? Von Daniela Remus
Credits
Autorin dieser Folge: Daniela Remus
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Hemma Michel, Thomas Birnstiel, Florian Schwarz
Technik: Stefan Oberle
Redaktion: Yvonne Maier
Im Interview:
Prof. Erich Brenner, Anatom, Medizinische Universität Innsbruck
Prof. Neil Theise, Pathologe, Grossmann School of Medicine, New York
Prof. Michael Zeisberg, Nephrologe, Universitätsmedizin Göttingen
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN
Sensationelle Entdeckungen können sich über Jahre ankündigen, weil sie einfach in der Luft liegen. Andere beginnen mit einem Tag wie jedem anderen. Die Entdeckung, die der Pathologe Neil Theise (Aussprache: Thiehs – stimmloses th wie bei Thatcher, langes i, wie peace) gemacht hat, gehört zur zweiten Kategorie – zu den Überraschungen.
TAKE 1 (O-Ton Theise) L: 0, 10
The hospital I worked when we first…
OVERVOICE 1
In dem Krankenhaus, in dem ich damals gearbeitet habe, da war ich bei den Gastroenterologen…
SPRECHERIN
Erzählt Dr. Neil Theise. Er arbeitete damals am Mount Sinai Beth Israel Medical Centre in New York als ihm gemeinsam mit seinen Kollegen die sensationelle Entdeckung gelang.
TAKE 2 (O-Ton Theise) L: 0, 20
There I worked with…
OVERVOICE 2
Und habe mit David Carr Locke and Petros Benias zusammengearbeitet. Und die haben damals mit diesem speziellen Endoskop gearbeitet. Und damit haben sie z.B. Mägen, Darmabschnitte untersucht oder Gallenblasen. Und alles sah damit so aus, wie wir es aus den Büchern kannten.
Musik: Time flies (reduced) 0‘21
SPRECHERIN
Eines Tages aber war alles anders. Seine Kollegen kamen ziemlich aufgeregt in sein Büro. Sie legten ihm Fotos auf den Tisch, die sie mit einer kleinen Kamerasonde im Inneren eines Patienten gemacht hatten und fragten: Was ist das? Kennst du das, als Pathologe?
TAKE 3 (O-Ton Theise) L: 0, 25
They saw these wide spaces…
OVERVOICE 3
Da sah man so breite Zwischenräume, die durch dunkle Streifen voneineinander getrennt waren. Das haben sie mir gezeigt und gefragt, was ist das?
Musik: Z8030896104 Genetics 0‘37
SPRECHERIN
Die Bilder hatten David Carr Locke and Petros Benias mit einem konfokalen Endomikroskop gemacht. Das ist ein Endoskop an dessen Spitze eine kleine Kamerasonde angebracht ist, die das Körperinnere fotografieren kann. Es wird besonders häufig im Magen-Darm-Trakt eingesetzt. Aufnahmen gelingen dort dann sehr gut, wenn die Patienten vorher eine fluoreszierende Flüssigkeit in die Adern gespritzt bekommen. Die beiden Kollegen von Neil Theise nutzten dieses Endoskop routinemäßig für ihre gastroenterologischen Untersuchungen. Jetzt hatten sie offenbar ein Problem, weil sie nicht wussten, was sie fotografiert hatten, und auch Neil Theise war zunächst überrascht, was die Fotos zeigten. Denn dieses Gewebe sah sehr anders aus als das, was er bisher an Gewebestrukturen im Organismus kannte. Selbst nach sorgfältiger Betrachtung zeigte das Bild, auch für ihn, den erfahrenen Pathologen, eine Gewebestruktur, die er nicht kannte.
MUSIK: Progressive movements (reduced) 0‘49
SPRECHERIN
Allerdings lag dieses Gewebe genau dort, wo sich üblicherweise das Interstitium befindet. Das aber konnte es nicht sein, dachte Neil Theise. Denn das netzartige Gewebe zwischen den Organen, das in der Medizin Interstitium genannt wird oder manchmal auch Stroma, hatte nichts mit dem zu tun, was er auf den Bildern seiner Kollegen sah. In allen bekannten Darstellungen war das Interstitium ein dichtes Stützgewebe, in dem Kollagenfasern in mehreren Lagen eng übereinander angeordnet waren. Was also konnte das sein, was auf dem Foto abgebildet war? Mit großen Zwischenräumen, eher luftig angeordnet?
ATMO (Computertippen/Seiten umblättern) darüber
SPRECHERIN
Neil Theise durchforstete alles, was er an Nachschlagewerken kannte, befragte Datenbanken und Kollegen in der Hoffnung, eine Erklärung für dieses merkwürdige Gewebe zu finden.
TAKE 4 (O-Ton Theise) L: 0, 20
So I went through a lot of histology books…
OVERVOICE 4
Und dann habe ich einfach alle Histologie Bücher durchgearbeitet, aber ich habe nichts gefunden, was zu dem passte, was wir gefunden haben. Und dann habe ich auch noch in alte Histologie Bücher reingesehen, weil ich dachte, okay, vielleicht ist das Wissen einfach nur vergessen worden?
SPRECHERIN
Trotzdem fand er zunächst keine Erklärung. Neil Theise und seine Kollegen berieten sich und vermuteten, es könne sich vielleicht doch um eine Erweiterung des Interstitiums handeln, die bisher einfach übersehen worden war? Auch weil bisher im Körperinneren noch keine so hochauflösenden Kameras zum Einsatz gekommen waren?
Musik: Searching secrets (b) 0‘18
Waren sie einer ganz neuen Struktur des menschlichen Körpers auf der Spur? Waren es Bilder vom Interstitium oder etwas völlig Neues, Anderes? Die drei Forscher waren elektrisiert.
TAKE 5 (O-Ton Theise) L: 0, 30
There has been something called the interstitium for years…
OVERVOICE 5
Also es war schon lange klar, dass es das Interstitium gibt. Deshalb haben wir auch in unserem ersten Paper, das wir veröffentlicht haben, geschrieben, wir haben eine „neues” Interstitium gefunden, nicht, dass es das vorher nicht gegeben hätte. Aber wir hatten herausgefunden, dass es eben viel verbreiteter ist, als bis dahin angenommen und auch anders strukturiert ist, als es bis dahin verstanden gewesen ist.
Musik: Delicate information (reduziert) 0‘38
SPRECHERIN
Diese Entdeckung hat nach der Veröffentlichung im Jahr 2018 für ziemlich viel Wirbel gesorgt. In der Öffentlichkeit und auch in der wissenschaftlichen Community. Denn in der Tat waren die Einblicke, die die drei Mediziner durch die Bilder von der Struktur des Interstitiums bekamen, ungewöhnlich und neu. Aber bevor wir über diese Entdeckungsgeschichte weiter berichten, erstmal einen Schritt zurück: Was ist das eigentlich, das Interstitium?
TAKE 6 (O-Ton Brenner) L. 0, 30
Das, was dazwischen steht. Interstare heißt das auf Latein, und was damit gemeint ist, ist das, was zwischen den Zellen in einem Gewebe vorhanden ist. Dieses Interstitium besteht zum einen aus Fasern, da kennt man am besten die collagenen Fasern oder die elastischen Fasern und dann gibt es, wie man das früher bezeichnet hat, die sogenannte amorphe Grundsubstanz oder Kittsubstanz, die das ganze zusammenhält, verkleistert.
SPRECHERIN
Erklärt der Professor für Anatomie Erich Brenner von der Universität Innsbruck. Dass es ein solches Zwischenraum-Bindegewebe überhaupt gibt, ist nicht neu, es war bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bekannt. 1862 wurde es erstmalig in einem medizinischen Lehrbuch beschrieben und zwar von dem deutschen Pathologen Friedrich Daniel von Recklinghausen. Auch für den New Yorker Pathologen Neil Theise war das Interstitium deshalb nichts Unbekanntes.
TAKE 7 (O-Ton Theise) L: 0,15
What I learned at medical school…
OVERVOICE 7
Was ich an der Uni gelernt habe und was wir seit Jahrzehnten, wenn nicht sogar seit über hundert Jahren wissen, ist, dass bisher zwei Arten von Interstitium beschrieben worden sind.
Musik: Eco statistics red 0‘26
SPRECHERIN
Das eine füllt die Zwischenräume zwischen einzelnen Zellen aus. Und zwar zwischen den Zelltypen, die weit auseinander liegen. Dazu gehören Hautzellen, Muskelzellen oder auch Fettzellen. Die liegen so weit auseinander, dass dazwischen Platz ist, für interzelluläres Gewebe, das man Interstitium nennt.
TAKE 8 (O-Ton Theise) L. 0, 10
The second interstitium is larger…
OVERVOICE 8
Das zweite Interstitium ist größer als das erste und ist sehr intensiv untersucht worden in den letzten Jahren. Und das ist wirklich sehr wichtig.
SPRECHERIN
Denn dieses Interstitium ist eine Art Stützgewebe, das die verschiedenen Organe und Gefäße umhüllt und damit eine entscheidende Rolle spielt, bei der Versorgung der Zellen und Organe.
TAKE 9 (O-Ton Theise) L: 0, 30
Blood comes through and the nutrians brought in…
OVERVOICE 9
Das Blut fließt durch die kleinen Kanäle, Nährstoffe fließen dadurch, die Wände der Kapillargefäße sind so dünn, dass die da durchfließen können. Das ist wie ein Netzwerk: Nährstoffe kommen rein, durchs Gewebe, durch die Kapillare, aber auch Abbaustoffe aus dem Gewebe werden dadurch transportiert und abgebaut.
Musik: Undercover investigations red. 0‘19
SPRECHERIN
Soweit so bekannt für Medizinerinnen und Mediziner. Neil Theise interessierte sich während seines Berufslebens nicht weiter für das Interstitium. Zumal er sich als Pathologe vor allem auf die Leber spezialisiert hat. Wenn bei einer Biopsie, Magenspiegelung oder Operation, Gewebe aus einem Organ entnommen wird, um zu erfahren, ob eine und welche Krankheit vorliegt, dann ist es die Aufgabe der Pathologen, dieses Gewebe in einem mikroskopischen Schnellverfahren zu untersuchen, um Krankheitsursachen zu identifizieren. Und das war und ist es, was Neil Theise als Arzt interessiert. Aber nachdem seine Kollegen diese merkwürdige Struktur entdeckt hatten, wollten die drei unbedingt herausfinden, ob sie eine unbekannte Seite des Interstitiums gefunden hatten.
ATMO (Geräusche aus OP) hinterlegen bis Overvoice
SPRECHERIN
Um diese Hypothese zu überprüfen, setzten die drei Ärzte das Endoskop bei einer Operation ein, ein Schritt, der eigentlich nicht üblich ist: Bei einem Patienten, dem die Bauchspeicheldrüse entfernt werden musste, machten sie mit dem Endoskop Bilder von der Bauchspeicheldrüse und dem sie umgebenden Gewebe, das eigentlich zum Interstitium gehören müsste…
TAKE 10 (O-Ton Theise) L. 0, 50
Then we took out the endoscope and …
OVERVOICE 10
Dann hatten wir also die Aufnahmen gemacht und das Endoskop entfernt. Das OP-Team hat operiert, hat die Bauchspeicheldrüse und das sie umgebenden Gewebe herausgenommen. Und das haben wir dann bekommen. Damit sind wir dann runter in das Labor der Pathologie gegangen und haben das Gewebe wieder mit dem Endoskop untersucht. Und tatsächlich war es identisch mit dem Bild, was wir vorher bekommen hatten. Es hatte also noch immer dieselbe Struktur, wie im Körper…
MUSIK: Curious question (reduced) 0‘28
OVERVOICE 10
…dann habe ich einen Teil davon genommen, um ihn so zu untersuchen. Ich habe das Gewebe kryokonserviert also schockgefrostet. Denn nur dann können wir damit diese dünnen histologischen Schnitte machen, die wir brauchen, um das Gewebe unter dem Mikroskop untersuchen zu können. Und ich sah dieselbe Struktur. Aber jetzt war sie umgekehrt: Die breiten Zwischenräume waren jetzt dunkel und die vorher dunklen Trennlinien waren jetzt hell. Wir hatten also dieselbe Struktur, aber mit entgegengesetzten Farben.
SPRECHERIN
Daraufhin überlegten die Wissenschaftler, ob die Ursache für das veränderte Aussehen des Gewebes, vielleicht schlicht darin begründet liegt, wie das Gewebe üblicherweise behandelt wird, um es untersuchen zu können.
Musik: Inbiased opinion (reduced) 1‘10
ATMO (Arbeitsgeräusche im Labor)
SPRECHERIN
Um das zu überprüfen, legte Neil Theise die Gewebeprobe in Formalin ein, so wie es in der Pathologie üblich ist. Formalin ist eine wässrige Lösung von Formaldehyd. Die nutzen Pathologen, um Gewebe so zu fixieren, dass es dauerhaft erhalten bleibt. Das Formalin entzieht dem Gewebe die Flüssigkeit und verhindert damit Verwesungsprozesse. In einem zweiten Schritt wird das Gewebe dann in Paraffin eingelegt. Durch diese Konservierung verliert es seine ursprüngliche Farbe und auch seine Beweglichkeit. Es wird starr. Und genau das ist auch das Ziel, denn dadurch kann es in hauchdünne Scheiben geschnitten, und unter dem Mikroskop untersucht werden. Einen Gewebeschnitt herstellen, so heißt das in der Medizin. Als Neil Theise nach dieser Prozedur den Gewebeschnitt der Bauchspeicheldrüse und des Umgebungsgewebes unter das Mikroskop legte, sah es völlig anders aus als vorher:
TAKE 11 (O-Ton Theise) L: 0, 30
And we could see…
OVERVOICE 11
Und da haben wir gesehen und verstanden, wenn man das Gewebe schockfrostet, dann behält es diese Struktur. Aber wenn wir es so behandeln, wie wir es immer tun, um es histologisch bearbeiten zu können, dann werden diese Strukturen zerstört. Und dann haben wir auch verstanden, dass das, was wir sonst immer als kleine Risse gesehen haben bei unseren histologischen Untersuchungen, das sind die Überbleibsel dieser Zwischenräume.
SPRECHERIN
Denn auf den Gewebeschnitten, die der Pathologe jetzt hatte, sah das Interstitium so aus, wie er es aus Büchern und von anderen Gewebeschnitten kannte: flach und dicht. Ohne flüssigkeitsgefüllte Zwischenräume oder Kanäle.
MUSIK: New evidence 0’14
TAKE 12 (O-Ton Theise) L: 0, 35
I got a mastectomie…
OVERVOICE 12
Dann musste ich das Gewebe einer Frau untersuchen, der wegen eines Tumors die Brust entfernt wurde. Und an dem Gewebe war auch Haut. Und da, zwischen den verschiedenen Hautschichten, da sah ich schon wieder diese kleinen Risse. Und dann bin ich zu David und Petros gegangen, hab ihnen das erzählt und gefragt, wie sieht es denn eigentlich aus, wenn ihr mit euerem Endoskop die Haut untersucht? Was sieht man da? Und die beiden haben gesagt: Wir untersuchen damit keine Haut! Das ist ja ein Endoskop, das ist für das Körperinnere…
MUSIK: New evidence 0’38
TAKE 13 (O-Ton Theise)
And I said well… so we hooked me up with some fluorscene…
OVERVOICE 13
Und dann habe ich gesagt, okay, lasst uns das untersuchen. Spritzt mir diese fluoriszierende Flüssigkeit und macht mit euerem Endoskop Fotos von meiner Haut. Und das haben wir dann gemacht. Und wir haben tatsächlich exakt dieselbe Struktur gesehen wie bei dem Gewebe, das um die Bauchspeicheldrüse herum liegt. (Hier bitte akkustisch den „Heureka-Moment“ sichtbar machen) Und dann haben wir verstanden, alles Gewebe im Körper, in den Zwischenräumen, um die Organe drumherum, alles muss miteinander verbunden sein, zusammengehören, irgendwie eins sein, weil alles gleich aussieht.
SPRECHERIN
Und nicht nur das Aussehen spricht für diese Hypothese. Die flüssigkeitsgefüllten Kanäle, die von elastischen Kollagenfasern gestützt werden, ziehen sich, so die Erkenntnis von Neil Theise und seinem Team, durch das gesamte Interstitium, also durch den ganzen Körper.
TAKE 14 (O-Ton Theise) L. 0, 30
And what we know…
OVERVOICE 14
Was wir jetzt wissen, und was auch kaum jemand in Frage stellt, ist, dass das Interstitium ein durchgängiges Gewebe ist, das es eine Art körperweites Netzwerk ist, dass Moleküle durchgehen, elektrische Signale durchgehen, Zellen durchgehen, gesunde Zellen aber auch Krebszellen aber auch Krankheitserreger wie Bakterien z.B. und es ist eben bisher nicht gut beschrieben worden, in seiner ganzen Komplexität.
SPRECHERIN
Und zwar unabhängig davon, wo genau es im Körper verortet ist. Auch das, so die Forschenden, spricht für ein zusammengehörendes System.
TAKE 15 (O-Ton Theise) L: 0, 25
And this has tremendous implications…
OVERVOICE 15
Das hat enorme Bedeutung für alles, z.B. für das Verständnis von Krankheiten. Die Flüssigkeiten, die sich im Interstitium befinden, machen rund 25% der gesamten Körperflüssigkeit aus und ungefähr die Hälfte aller Flüssigkeiten, die außerhalb der Zellen sind. Also das ist ein riesiger Raum, von dem wir den Aufbau und die Struktur bisher nie wirklich verstanden haben.
Musik: Undercover investigations red. 0‘19
SPRECHERIN
Über diese interstitielle Flüssigkeit, die in der Medizin auch Interzellularflüssigkeit genannt wird, können sich nach Einschätzung von Neil Theise Entzündungen im Körper ausbreiten. Und auch Krebszellen könnten das Interstitium als Transportweg nutzen.
TAKE 16 (O-Ton Theise) L: 0, 25
We have known that tumorcells…
OVERVOICE 16
Wir wissen, dass Tumorzellen durch den Blutkreislauf wandern, dass sie durch Nerven, durch Knochenmarkzellen durchgehen und auch einfach von Gewebe zu Gewebe. Aber um dorthin zu kommen, müssen sie erstmal durch das Interstitium durch, sie durchqueren es also offenbar.
SPRECHERIN
Im März 2018 veröffentlichten die drei Forscher ihre Erkenntnis im Fachblatt Scientific Reports mit dem Titel: Structure and Distribution of an unrecognized Interstitium in Human Tissue, auf deutsch etwa: Struktur und Verteilung des bisher/verkannten Interstitiums in menschlichem Gewebe.
MUSIK: Hot news (red) 0‘31
Die Aufregung war ziemlich groß. Viele Medien, auch das Deutsche Ärzteblatt, berichteten geradezu überschwänglich von dieser Entdeckung:
SPRECHER (Versch.)
Neue anatomische Struktur im Körper entdeckt
Interstitium: Unser neues Organ?
Wir haben vielleicht ein Organ mehr als wir dachten
Neu entdecktes Organ?
MUSIK (Ende)
SPRECHERIN
Das Interstitium ein neues, ein zusätzliches Organ? Neil Theise formuliert seine Entdeckung etwas bescheidener:
TAKE 17 (O-Ton Theise) L: 0, 35
The idea that this was an organ…
OVERVOICE 17
Die Idee, dass es sich dabei um ein eigenständiges Organ handeln könnte, kam eigentlich vor allem durch die Pressemeldung der Uni in die Welt. Aber ich finde, das ist durchaus eine plausible Hypothese, dass das Interstitium als Organ angesehen werden kann. Im Moment bin ich Teil einer Arbeitsgruppe, und wir suchen nach einer angemessenen modernen Bezeichnung für das, was das Interstitium kann. Und ich denke, es ist treffend zu sagen, es ist ein System, ein Netzwerk, so wie z.B. auch das kardiovaskuläre System ein System ist.
SPRECHERIN
Auch die wissenschaftliche Community ist in ihrem Urteil deutlich zurückhaltender als die Medien. Das liege an der traditionellen Definition von Organen, erklärt Erich Brenner, Professor für Anatomie an der Universität in Innsbruck:
TAKE 18 (O-Ton Brenner) L: 0, 30
Ein Organ ist ein sehr genau umschriebenes, eingehülltes von der Umgebung abgegrenztes Objekt im Körper. Z.B. ein Knochen, ein Muskel, da gibt es Hüllen, die die einhüllen, …oder aber die Leber, die hat ganz feste Bindegewebskapsel, das Herz ist genau abgegrenzt durch den Herzbeutel…das würde das Konzept eines Organs genau auf den Kopf stellen, ja, das ist da – aber kein Organ.
Musik: A beginning 0‘21
SPRECHERIN
Manche Forschende sind weniger strikt in ihrem Urteil. Sie könnten sich durchaus vorstellen, die Organ-Definition in absehbarer Zeit so zu erweitern, dass auch systemische Prozesse im Körper mit dieser Definition besser beschrieben werden können.
TAKE 19 (O-Ton Zeisberg) L: 0, 30
Wenn man diese Definition weiterfasst, und man damit zufrieden ist, dass ein Organ ein in sich definierter Teil des Körpers ist, der eine definierte Aufgabe hat, dann wird es ja ein bisschen weiter. Und dann können wir natürlich auch das Gefäßsystem oder auch das Interstitium als ein Teil sehen, den wir sonst den einzelnen Organen zugeordnet hätten.
SPRECHERIN
Erklärt Prof. Michael Zeisberg, der die Klinik für Nephrologie und Rheumatologie an der Uniklinik in Göttingen leitet. Michael Zeisberg hat die Veröffentlichungen von Neil Theise rund um das Interstitium mit großem Interesse verfolgt und tut das auch heute noch.
TAKE 21 (O-Ton Zeisberg) L: 0, 10
Ich war damals, muss ich ihnen ehrlich sagen, 2018 aufgeregter als ich es jetzt bin…
SPRECHERIN
Dass das Interstitium für die Versorgung der Organe und damit im Umkehrschluss auch für die Ausbreitung von Krankheiten eine weitaus bedeutsamere Rolle spielen könnte, als bisher angenommen, leuchtete dem Nephrologen unmittelbar ein.
TAKE 22 (O-Ton Zeisberg) L: 0, 20
Es hat sich ja praktisch das Potential ergeben okay, jetzt gibt es einen neuen Weg, Botenstoffe zu senden, es gibt aber auch einen neuen Weg, wie Krebszellen sich im Körper verteilen können, oder Infektionen sich verteilen können.
SPRECHERIN
Aber die nachfolgenden Studien von Neil Theise konnten bisher nicht zeigen, dass das Interstitium tatsächlich das Zeug dazu hat, die Diagnostik und Therapie von Krankheiten zu revolutionieren:
TAKE 23 (O-Ton Zeisberg) L: 0,20
Da hat er einige Jahre gewartet, bis er nachgeliefert hatte und hat dann gesehen, dass in 50 Tagen Farbpartikel sich 10cm weiter bewegt haben. Also was immer da passiert, ist offensichtlich nicht so effizient wie ein Lymphgefäß oder ein Blutgefäß.
SPRECHERIN
Für Michael Zeisberg und andere Forschende klingt es plausibel, dass das Interstitium das Potential dazu hat, Botenstoffe, Krebszellen und Infektionen auf neuen und bisher unbekannten Wegen durch den gesamten Körper zu schicken. Und damit eine entscheidende Rolle bei der Entstehung von Krankheiten zu spielen. Aber wie genau das geschehen könnte, wie effizient dieser Prozess wäre und wie man ihn sich für Diagnostik oder Therapie zunutze machen könnte, das ist bisher trotz der Arbeiten von Neil Theise und seinen Kollegen noch nicht klar.
Musik: Working brain red 0‘39
Und es sieht auch nicht so aus, als würden diese Wissenschaftler mit Hochdruck daran arbeiten, ihre Hypothese von der zentralen Bedeutung des Interstitiums zu belegen. Wie so oft in der Medizin haben Zufall und technologische Weiterentwicklung zwar neues Wissen und Verständnis hervorgebracht, noch aber bedeutet das nicht, dass die Entstehung von chronischen Krankheiten wie Fibrose oder die Ausbreitung von Krebszellen dadurch verhindert werden könnte.
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