Seit 30 Jahren stagnieren die Fänge der Wildfischerei. Schon jetzt stammt jeder zweite weltweit konsumierte Fisch aus Aquakulturen. Angesichts einer wachsenden Weltbevölkerung gewinnt die Aquakultur als Lebensmittellieferant enorm an Bedeutung. Aber nachhaltig ist nicht alles. Von Jörn Breiholz und Michael Marek
Credits
Autoren dieser Folge: Jörn Breiholz und Michael Marek
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Katja Amberger, Peter Veit
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Reinhold Hanel, Direktor des Instituts für Fischereiökologie am "Johann Heinrich von Thünen-Institut" für Fischerei in Bremerhaven
Ulfert Focken, Fischerei-Ökologe, "Thünen-Institut"
Jón Kaldal, Journalist, Icelandic Wildlife Fund, NGO Island
Daniel Jakobsson, Geschäftsführer Arctic Fish, Lachszuchtunternehmen
Elvar Friðriksson, Geschäftsführer North Atlantic Salmon Fund, NGO Island
Sigurdur Thorvsalds, Biologe und Naturschützer, Island
Hör-Tipp:
Lost - Björk & Rosalia, 2023 auf YouTube
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Sprecherin:
Bremerhaven an der deutschen Nordseeküste: Im beschaulich-historischen Fischereihafen riecht es nach Fish and Chips. Fangschiffe gibt es hier schon lange nicht mehr. Stattdessen: Räuchereien, Restaurants und Souvenirläden. Einen Steinwurf entfernt steht ein neues, modernes Glas-und-Stahl-Gebäude.
O-Ton 1: Ulfert Focken
"Wir sind hier in der Aquakultur Forschungsanlage des Thünen-Instituts für Fischereiökologie in Bremerhaven."
ATMO: Thünen-Institut / Sicherheitsschleuse
Sprecherin:
Sagt Professor Ulfert Focken. Wir stehen mit dem Spezialisten für Aquakultur und Fischernährung hinter der Sicherheitsschleuse im Erdgeschoss.
Ein leicht muffiger Geruch liegt in der Luft – wegen der Feuchtigkeit, erklärt der Wissenschaftler. In gut einem Dutzend Wasserbassins schwimmen verschiedene Fischarten unterschiedlicher Größe:
O-Ton 2: Ulfert Focken
"Hier sind verschiedene Becken von zahlreichen Aquarien mit circa 50 Litern bis hin zu Becken mit zwei Meter 50 Durchmesser, wo wir Tiere des warmen Bereiches halten. Das sind hier bei uns in erster Linie Karpfen und daneben auch tropische Garnelen, die sogenannte Pazifische Weißwein-Garnele. Wir machen hier Forschung in erster Linie zur Haltung und Fütterung dieser Arten."
MUSIK 1 ( SINE - Lost And Never Found 0’37)
Sprecherin:
Seit gut 30 Jahren beschäftigt sich Focken mit Aquakulturen, also der Erzeugung von Organismen, die im Wasser leben. Im Gegensatz zur Fangfischerei werden in der Aquakultur Fische wie zum Beispiel Lachse, Karpfen oder Doraden, aber auch Krebstiere, Muscheln und Algen unter kontrollierten Bedingungen aufgezogen. Aquakultur ist sozusagen Landwirtschaft unter Wasser. Für Focken wie auch für seinen Kollegen Professor Reinhold Hanel sind Aquakulturen für die Welternährung unverzichtbar:
O-Ton 3: Reinhold Hanel
"Wir werden sehr oft gefragt: Aquakultur - ja oder nein? Diese Frage wird immer nur in Deutschland gestellt. Weltweit würde die niemand stellen, weil man müsste, um sozusagen dieselbe Frage auf die Landwirtschaft umzumünzen, zu sagen, Landwirtschaft ja oder nein. Und die Frage würde niemand ernsthaft stellen. Sondern man redet dann über Schweinezucht oder über Geflügel oder irgendwelche Ackerfrüchte. Aber man stellt nicht grundsätzlich die Ernährungsproduktion des Menschen infrage. Und die Aquakultur hat in vielen Kontinenten, gerade in Asien, einen Stellenwert, der dem der Agrikultur, der Landwirtschaft, entspricht."
MUSIK 2 ( SINE - Lost And Never Found 0’36)
Sprecherin:
Reinhold Hanel leitet das Thünen-Instituts für Fischereiökologie; es ist eines von drei Instituten, die im Auftrag des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft die Fischerei erforschen. Er ist Experte für den europäischen Aal, für Biodiversität, Populationsgenetik und Aquakultur:
O-Ton 4: Reinhold Hanel
"Und ohne Aquakultur hätten wir keine Chance, den Menschen zu ernähren. Und eine steigende Weltbevölkerung, also die Zunahme an Nahrungsmitteln, sieht die Welternährungsorganisation fast ausschließlich über eine Zunahme der Aquakultur. Wir müssen also Wasser, Meeresflächen, aber auch Binnengewässer teilweise noch stärker als bisher für die Nahrungsmittelproduktion nutzen, wenn wir eine steigende Weltbevölkerung in ausreichendem Maße mit Nahrung beliefern wollen."
ATMO Thünen Institut / Aquakulturanlage
Sprecherin:
Aber ist die Produktion jeder Fischart sinnvoll und nachhaltig, um alle Menschen satt zu bekommen? Was ist etwa mit dem in Deutschland und vielen anderen Ländern beliebtesten Speisefisch, dem Lachs?
O-Ton 5: Reinhold Hanel
"Der Lachs hat nun mal ein relativ hohes Grundbedürfnis an Nahrungsqualität als Fleischfresser. Aber dasselbe gilt natürlich auch für den Thunfisch - vor allem der aus dem Farming kommt, also der sozusagen gemästet wird. Und dasselbe gilt natürlich auch für die Dorade und für den Wolfsbarsch. Das sind alles Fische, die nicht für die Welternährung gezüchtet werden, sondern um einen Nischenmarkt zu bedienen."
ATMO Thünen Institut / Aquakulturanlage
Sprecherin:
Das Futter ist das mit Abstand wichtigste Instrument, mit dem die Fischfarmen Wachstum und Gesundheit der Tiere steuern können. Auch deswegen erforscht das Thünen-Institut hier in Bremerhaven vor allem das Futter und seine Auswirkungen auf Zuchtfische:
O-Ton 6: Ulfert Focken
"Das Erkenntnisinteresse aktuell liegt nicht in der Züchtung. Das sind zwar die Ursprünge dieser Arbeitsgruppe von Anfang der 1960er-Jahre, wo man versucht hat, den grätenarmen Karpfen zu züchten. Bei uns geht es um die Untersuchung zur Fütterung und zur Umweltwirkung. Denn ein Futter, was schlecht verwertet ist, produziert natürlich mehr Ausscheidungen als ein hochwertiges Futter."
MUSIK 3 ( SINE – Always 0’48)
Sprecherin:
Haben die Fischfarmen die Jungfische erst einmal von der Brutstation zum Mästen in die Käfige im Meer, Fluss oder in den Teich transportiert, können sie die Wassertemperatur nicht mehr regulieren, die Fische nicht mehr impfen – und: auch einzelne Tiere nicht mehr isolieren. In der Mäst-Phase bestimmen vor allem Wassertemperatur und -qualität das Wachstum der Tiere – aber eben auch und vor allem das Futter. Das hat heute eine ganz andere Zusammensetzung als noch vor einigen Jahren, erklärt Ulfert Focken:
O-Ton 7: Ulfert Focken
"In den 1980er-Jahren, als die industrielle Lachszucht in Norwegen begann, bestand das Lachsfutter noch zu circa 50 Prozent aus Fischmehl und 10 bis 15 Prozent Fischöl. Und zu dieser Zeit wurden, um ein Kilogramm Lachs zu produzieren, vier bis fünf Kilogramm Sardinen, Sardellen und ähnliche Fische gebraucht, die dann zu Fischmehl und Fischöl verarbeitet wurden. Inzwischen ist die Lachsproduktion weltweit aber größer als der Fang von Fischen zur Fischmehl-Erzeugung. Und im Laufe der Zeit ist der Fischmehl-Anteil im Futter auf unter zehn Prozent gesunken."
MUSIK 4 ( SINE – Always 0’32)
Sprecherin:
Raubfische wie Thunfisch, Dorade, Wolfsbarsch oder Lachs ernähren sich in ihrem natürlichen Habitat von anderen Fischen und Krebsen. Wenn der Lachs aber in der Aquakultur nicht einmal mehr zehn Prozent Fischanteil im Futter bekommt, woraus bestehen die anderen 90 Prozent seiner Nahrung in der Mästung? Ulfert Focken:
O-Ton 8: Ulfert Focken
"Es sind einerseits in gewissen Mengen Tiermehle, aber der überwiegende Teil sind Pflanzenproteine. Und da in erster Linie eben Soja basierende Proteine. Das ist natürlich keine natürliche Nahrung für den Lachs. Und wenn wir den Lachsen wie auch vielen anderen Fischen einfach rohes Sojamehl geben, dann führt es zu chronischer Darmentzündung."
ATMO Hafen / Möwen
Sprecherin:
Das bedeutet: Das pflanzliche Futter muss industriell aufbereitet werden, um die Proteine zu isolieren – und um das Sojafutter vom anderen Ende der Welt, aus Südamerika, in die Fischzuchtanlagen in Norwegen, Island oder dem Mittelmeer zu transportieren. Zur Ernährung einer wachsenden Weltbevölkerung sind Raubfische daher wenig nachhaltig. Gleichwohl haben die wissenschaftlichen Untersuchungen des Thünen-Instituts die Vorzüge von Fischzucht ganz grundsätzlich nachgewiesen – vor allem, was die Nachhaltigkeit betrifft, sagt Fischerei-Ökologe Hanel. Denn für Aquakulturen …
O-Ton 9: Reinhold Hanel
"… braucht man deutlich weniger Ressourcen als für terrestrische Organismen, also für Rind, Schwein, Huhn. Eine bessere Energiebilanz haben teilweise Insekten als Fisch. Aber Fisch eignet sich sehr gut, um mit relativ wenig Energie-Input relativ viel an Nahrung zu produzieren."
ATMO: Musikakzent
Sprecherin:
Ortswechsel. Die Westfjorde im Nordwesten von Island: eine Halbinsel mit zerklüfteten Küsten, knapp 400 Kilometer entfernt von der Hauptstadt Reykjavik.
ATMO Meer + Verkehr
Sprecherin:
Jón Kaldal steht am Arnarfjörður Fjord. Der Isländer arbeitet für den Icelandic Wildlife Fund. Die Nicht-Regierungs-Organisation engagiert sich für den Umweltschutz, vor allem für Meer und Fische. Kaldal schaut besorgt auf die Fischfarm: 12 kreisrunde Netze, jedes 200 Meter im Durchmesser, die 400 Meter vom Ufer entfernt im Wasser liegen:
O-Ton 10: Jón Kaldal
"In this small location … whole Iceland wild population."
VO 1.1:
Allein an diesem kleinen Standort gibt es etwa 1,2 Millionen Zuchtlachse. Das ist 20-mal mehr als die gesamte isländische Wildpopulation.
ATMO Fjord + Blubbern
Sprecherin:
Wie auf einer Perlenkette aneinandergereiht, schaukeln die nach oben offenen, kreisrunden Plastikgehege auf den Wellen. Von oben sieht das alles unspektakulär aus, doch das täuscht.
ATMO Collage Musikakzent + Geräusche Fjord
Sprecherin:
Unter der Meeresoberfläche ist es eine unterseeische Industrie-Mastfarm. In jedem einzelnen der zwölf Netze schwimmen 100.000 Lachse. Jón Kaldal zeigt auf einen Ponton inmitten der Anlage.
Darauf befindet sich ein containerartiges Gebäude: ein Futterautomat, der über Plastikrohre industriell produziertes Fischfutter in die riesigen Netze schießt:
O-Ton 11: Jón Kaldal
"They put the juveniles … this fast-growing rate."
VO 1.2:
Sie setzen die Jungtiere ins Netz, wenn sie zwischen 120 und 200 Gramm wiegen. Danach bleiben sie 18 Monate in der Zuchtanlage. Wenn die Lachse zwischen sechs und acht Kilo wiegen, werden sie geschlachtet. Davor werden sie unentwegt gefüttert. Die Zuchtlachse wachsen derart schnell, dass einige von ihnen missgebildet sind. Denn das Skelett kann mit dem schnellen Wachstum nicht mithalten.
ATMO Vögel + Schritte
Sprecherin:
Umweltschützer Kaldal greift in seine Jackentasche und holt sein Smartphone heraus. Er zeigt uns Fotos von Lachsen in einer Fischtreppe, aufgenommen von einer Fotofalle. Auf dem ersten Bild kehrt ein ausgewachsener wilder Lachs aus dem Atlantik zur Paarung zurück – in genau den Fluss, in dem er selbst vor Jahren geboren wurde. Auf dem zweiten Foto schwimmt ein Zuchtlachs. Er ist noch nie über das Plastiknetz im Fjord hinausgekommen – bis er fliehen konnte und die Fotofalle auslöste:
O-Ton 12: Jón Kaldal
"The main thing is… as a healthy one."
VO 1.3:
Was man sofort erkennt: Der Wildlachs ist lang, sieht ein bisschen wie ein Torpedo aus. Am selben Tag wurde der entkommene Zuchtlachs aufgenommen. Und Sie können ganz deutlich sehen, wie er sich unterscheidet: Er ist viel gedrungener. Die Schwanzflosse des Zuchtlachses ist missgebildet und klein; dieses Tier sieht einfach nicht gesund aus.
MUSIK 5 ( Slagr – First Frost 0’50)
Sprecherin:
Der wilde Lachs ist lang und muskulös: ein Raubfisch mit kräftiger, breiter Schwanzflosse, die er auf den vielen tausend Kilometern Reise durch Islands Flüsse und den Atlantik herausgebildet hat. Die braucht er auch, um die isländischen Flüsse hinauf ins Brutgebiet schwimmen zu können. Ganz anders der von Menschenhand gezüchtete Lachs auf dem zweiten Foto: Seine Schwanzflosse ist viel kleiner und nicht sehr ausgeprägt. Er hat sein gesamtes Leben in Gefangenschaft verbracht: erst in der Aufzuchtstation an Land, später in dem Plastiknetz der Zuchtlachsfirma. Gejagt hat dieser Raubfisch nie. Für Jón Kaldal sind Zucht- und Wildlachs zwei komplett verschiedene Fische, die auf keinen Fall Nachfahren zeugen sollten:
ATMO Bach
O-Ton 13: Jón Kaldal
"You have an offspring … of the salmon industry."
VO 1.4:
Du hast dann Nachkommen, die nicht an ein Leben in der Wildnis angepasst sind. Ähnlich wie die Nachkommen eines Pudels und eines Wolfs: Die wären auch nicht in der Lage, in der freien Wildbahn zu leben. Und das würde auch mit den Lachsen passieren: Es handelt sich ja um ein domestiziertes Tier mit domestizierten Genen, das sich trotzdem fortpflanzen und mit dem Wildtier vermischen kann. Das ist die schreckliche Seite der Lachsindustrie.
ATMO Bach
Sprecherin:
Was die Isländerinnen und Isländer vor allem beunruhigt: Dass die aus den Unterwassergehegen entkommenen Zuchtlachse sich in den Flüssen Islands mit dem wilden Lachs paaren – mit der Folge, dass die Zuchtlachse sich in die Population der freilebenden Island-Lachse einkreuzen. Die genetischen Eigenschaften der Zuchtfische sind zwar für die Massenproduktion geeignet, reichen aber nicht für das Überleben in der Natur. Denn es sind unterschiedliche Lachsarten: Der Zuchtfisch stammt aus Norwegen, die Lachsfarmen befruchten und vermehren ihn seit vielen Jahren künstlich - in Brutstationen an Land. Etwa 3.500 geschlechtsreife norwegische Zuchtlachse sollen entkommen sein.
ATMO Auto + Kirchenglocken
Sprecherin:
Ísafjörður, ganz im Norden der Westfjorde: Hier ist das Büro von Arctic Fish. Das Unternehmen gehört mehrheitlich dem norwegischen Mowi-Konzern – es ist der Betrieb, aus dem die Zuchtlachse entkommen sind. Vor 50 Jahren gelang es dem größten Zuchtlachskonzern der Welt, Lachsbrut künstlich zu befruchten und sie in Meeresnetzen aufzuziehen. Seitdem ziehen die Norweger mit ihrem lukrativen Geschäftsmodell durch die Lachsreviere der Welt. Doch wie konnten die Zuchtlachse überhaupt aus den Gehegen entweichen – und wie schädigt das den Wildbestand? Geschäftsführer Daniel Jakobsson antwortet ausweichend:
O-Ton 14: Daníel Jakobsson
"I am not a biologist … sea pens."
VO 2.1:
Ich bin kein Biologe, aber das isländische Meeresforschungsinstitut sagt uns: 3.500 entkommene Zuchtlachse würden dem Wildlachs auf Island nicht schaden. Das heißt aber nicht, dass es in Ordnung ist, wenn unsere Lachse entweichen. Unser Ziel ist es, die Tiere sicher in den Gehegen zu halten. Das tun wir nun schon seit zehn Jahren mit guten Ergebnissen. Natürlich sind wir nicht stolz darauf, dass Lachse entkommen konnten. Es gab Unzulänglichkeiten – und ein Risiko, das mit den Unterwassernetzen aus Plastik verbunden ist.
ATMO Collage Musikakzent "Iceland" + Atmo
Sprecherin:
Arctic Fish habe alles im Griff, das zumindest suggeriert Daníel Jakobsson. Naturschutzorganisationen sehen das anders – und weisen auch auf die Lachslaus hin. Dieser kleine, acht bis 12 Millimeter lange Parasit breitet sich in Norwegens Zuchtlachsgehegen aus, lebt von Schleim, Haut, Muskeln und Blut der Lachse.
ATMO Auto innen
Sprecherin:
Zwei Autostunden von Ísafjörður entfernt: Wir treffen Elvar Friðriksson am Ufer des Langadalsá. Ein paar Meter neben dem Fluss steht eine Anglerhütte mitten in der Wildnis. Vor der Tür zeigt uns Friðriksson ein Dutzend toter Lachse:
O-Ton 15: Elvar Friðriksson
"This is lice … rivers."
VO 3.1:
Das sind Lachsläuse; seht Ihr, wie sie sich bis in den Schädel gefressen haben? Und schaut euch die Flosse an, die ist ganz zerrissen. Das ist ein untrügliches Zeichen für einen Zuchtlachs. Und wenn ihr euch die Flosse genauer anschaut: Bei einem Wildlachs wäre diese erheblich größer und spitzer. Schließlich ist sie für das Schwimmen gegen starke Strömung und in Flüssen gemacht.
ATMO Leute
Sprecherin:
Elvar Friðriksson ist Geschäftsführer des North Atlantic Salmon Fund, einer Nicht-Regierungs-Organisation. Der Naturschützer erklärt uns, was es mit den Tierkadavern auf sich hat: Es handelt sich um die entflohenen Zuchtlachse aus den Netzen von Arctic Fish. Das Unternehmen hat extra norwegische Taucher einfliegen lassen, die diese Zuchtlachse aufspüren und töten sollen. So will man verhindern, dass sich Zucht- und Wildlachs paaren. Sigurdur Thorvsalds steht neben Elvar Friðriksson vor der Anglerhütte. Er betreut Angeltouristen, die viel Geld bezahlen, um wilde Lachse zu fangen. Sigurdur Thorvsalds hat Angst, dass erst der wilde Lachs und dann die Touristen ausbleiben könnten:
O-Ton 16: Sigurdur Thorvsalds
"We took a picture … we have to stop it now."
VO 4.1:
Wir haben ein Foto gemacht. Darauf kann man erkennen, dass ein Wild- und ein Zuchtlachs sich paaren. Das ist schrecklich. Versteht Ihr? So könnte uns der Wildlachs verloren gehen, durch das Meer wandern und vielleicht nie mehr hierherkommen. Das müssen wir jetzt stoppen!
Sprecherin:
Nicht nur Sigurdur Thorvsalds, auch Wissenschaftler und Naturschützer sind überzeugt: Wenn sich der norwegische Zuchtlachs immer weiter mit dem isländischen Wildlachs kreuzt, dann verliert der heimische Lachs Teile seiner Eigenschaften als kräftige, wilde Fischart. Und der Wildlachs würde es dann womöglich irgendwann nicht mehr durch den Atlantik zurück in die isländischen Flüsse schaffen.
ATMO Musikakzent "Permafrost"
Sprecherin
Auch wenn die Lachszucht mit ihren Absatzmärkten in Europa und den USA ein äußerst profitables Geschäft ist: Zur Welternährung trägt sie vergleichsweise wenig bei. Seit Mitte der 1980er-Jahre hat sich der weltweite Fischkonsum mehr als verdoppelt. Das liegt ausschließlich an der Aquakultur: Vor 40 Jahren hatte Aquakultur einen Anteil von nicht einmal zehn Prozent am weltweiten Fischkonsum. 2020 stammte bereits jeder zweite weltweit konsumierte Fisch aus Aquakultur. Vor allem in Asien boomt sie: 2020 produzierte Asien neunzehn Mal mehr Fisch aus Aquakultur als Europa. China züchtete mit etwa 37 Millionen Tonnen mit Abstand den meisten Fisch aus Aquakultur. Und während in Europa die Fischzucht im Meer deutlich größer ist als die inländische Fischproduktion, ist es in Asien genau andersrum: Hier dominiert die inländische Fischzucht, vor allem von Graskarpfen, auch Weißer Amur, Grasfisch oder Chinakrapfen genannt: ein Pflanzenfresser, der in China schon seit dem zehnten Jahrhundert gezüchtet wird.
ATMO Fischerei-Hafen Bremerhaven / Thünen Institut
Sprecherin:
Zurück in Bremerhaven im Thünen-Institut für Fischereiökologie: Wir wollen wissen, was die Forschung darüber weiß, wie sich Lachse in der Aquakultur fühlen. Für die Fischindustrie ist es hoch profitabel, wenn 100.000 Exemplare einer Art monatelang dicht zusammengedrängt in einem kleinen Netz leben und dann geschlachtet werden. Doch wie geht es den Fischen selbst? Institutsleiter Reinhold Hanel:
O-Ton 17: Reinhold Hanel
"Das Thema Tierwohl wird immer bedeutender und ist auch ein Hauptgegenstand unserer Forschung. Das Fühlen ist ein schwieriger Begriff in der biologischen Forschung. Es ging sehr lange darum, ob Fische Schmerz empfinden können, beispielsweise. Auch ein sehr, sehr schwieriger Begriff in der Biologie, weil Schmerz über lange Zeit nur dem Menschen zugestanden wurde. Aber mittlerweile hat sich doch bei vielen Wissenschaftlern zumindest der Gedanke durchgesetzt, dass Tiere sehr wohl zu Schmerzempfinden fähig sind. Und dann ging es darum, ob das auch Fischen zugestanden wird. Und mittlerweile geht die Diskussion doch oder die weitläufige Meinung doch eher dahin, dass auch Fischen ein Schmerzempfinden nachgesagt wird."
MUSIK 6 ( Slagr – Quiet Rain 0’50)
Sprecherin:
Allerdings, schränkt Wissenschaftler Hanel ein, gebe es in der Science-Community Stimmen, die der Meinung sind: Bei Reaktionen, die Fische auf Verletzungen zeigen, handele es sich nicht um Schmerz im menschlichen Sinne, sondern eher um eine Reaktion des Körpers. Und von daher gehe die Diskussion: Schmerz Ja oder Nein eher in die philosophische Richtung. Weil Schmerz oder Stress setze eigentlich Bewusstsein voraus. Und Bewusstsein gestehen manche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler den Tieren nicht zu, so Hanel. Andere sehen das anders und forschen inzwischen sogar zur Individualität unter Fischen und der Frage, ob es in einem Fischschwarm unterschiedliche Charaktere gäbe.
O-Ton 18: Reinhold Hanel
"Aber das andere ist die Konsumentenwahrnehmung. Das hat nicht immer nur etwas mit Rationalität zu tun, sondern auch viel mit Psychologie. Das heißt, es werden dann Dinge, die man von anderen Nutztieren kennt, zum Beispiel aus der Hühnerhaltung, also Haltungsdichte, werden sehr häufig auf Fische projiziert. Da kommen auch sehr häufig falsche Wahrnehmungen dazu - in dem Glauben, dass je weniger dicht zum Beispiel Fische gehalten werden, umso besser geht es ihnen, was nicht immer der Fall ist, sondern das hängt sehr, sehr stark von der Art ab und der speziellen Biologie einer Art. Es geht nicht um das Wohlfühlverhalten von einzelnen Fischen. Wobei das auch vielen Menschen ein Anliegen ist. Sondern es geht auch darum: Die Einhaltung des Tierwohls führt zu einer Verbesserung der Tiergesundheit, unter Umständen zu einer Reduktion von Arzneimitteln und ähnlichem und damit auch direkt in die Produktqualität und damit auch für wirklich etwas Messbares und Verständliches auch für den Konsumenten."
ATMO Collage Atmo Aquakulturanlage + Musikzent
Sprecherin:
Und wenn man das alles bedenkt: Welcher Fisch ist tatsächlich nachhaltig – wenn man als Konsument die Auswirkungen auf Natur und Fische berücksichtigen will?
O-Ton 19: Reinhold Hanel
"Wer ihn unter ökologischen Gesichtspunkten konsumiert, der landet dann beim Karpfen, der auch nicht modrig sein muss. Oder eben auch bei importierten Fischarten wie der Tilapia. Die kann ich genauso gut auf den Grill tun wie eine Dorade. Aber der ökologische Fußabdruck von einer Tilapia, die im Süßwasser, in Teichen produziert worden ist, ist deutlich geringer als von einer Dorade aus der Netz-Käfighaltung im Mittelmeer."
Sprecherin:
Auch Karpfen und Tilapia können in der Massenhaltung Krankheiten bekommen und müssen dann medikamentös oder mit Impfstoffen behandelt werden. Aber generell, sagt Wissenschaftler Reinhold Hanel, essen Verbraucher mit diesen beiden Süßwasserfischen aus der Teichhaltung gesund und schonen obendrein die Umwelt.
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