Das Gipfelkreuz - Eine Geschichte von Aufstieg und Fall
Auf rund 4000 Alpengipfeln steht heute ein Gipfelkreuz. Oft stecken in den paar Balken aus Holz oder Metall dramatische Geschichten. Obwohl viele dieser Gipfelzeichen für Frieden, Freundschaft und Versöhnung stehen, scheiden sich an ihnen die Geister. Um die Deutungshoheit ist ein harter Kulturkampf entbrannt. Von Rainer Firmbach
Credits
Autor dieser Folge: Rainer Firmbach
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Katja Amberger, Christian Baumann, Andreas Neumann
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Karin Becker
Diese hörenswerten Folgen von Radiowissen könnten Sie auch interessieren:
Philosophie der Berge - Von Höhen und Tiefen HIER
Die Geschichte der Bergretter - Helden und Heldinnen der Alpen HIER
Literaturtipps:
Walter Bonatti: Große Tage am Berg. Zürich, Rüschlikon, 1972.
Hans Joachim Löwer: Gipfelkreuze. Innsbruck, Athesia, 2019.
Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Radiowissen
JETZT ENTDECKEN
Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHER:
Wie eine Kathedrale thront das Gaishorn über dem Vilsalpsee. Die mächtige Felspyramide gehört - neben Hochvogel und Trettachspitze -
zu den auffälligsten Berggestalten der Allgäuer Alpen. Auch bietet das Gaishorn dem rüstigen Gipfelstürmer eine phantastische Rundschau, nach allen Himmelsrichtungen.
SPRECHERIN:
Von frühester Jugend an hat Edmund Abel das Gaishorn immer wieder bestiegen. Stundenlang, sagt der Mann aus Legau, kann er dort oben am Gipfel, in 2249 Metern Höhe, nur dasitzen und schauen.
SPRECHER:
Abels Hauptaugenmerk gilt dabei dem imposanten Gipfelkreuz, mit seinem schmiedeeisernen Strahlenkranz. Aus gutem Grund. Zähe Legauer Naturburschen haben dieses neue Kreuz 2011 hier heraufgetragen, Seite an Seite mit Bergwachtlern aus dem Tannheimer Tal, als Ersatz für das alte Legauer Holzkreuz, das ein Wintersturm beschädigt hatte.
Musik weg
SPRECHERIN:
Im Kreuz auf dem Gaishorn-Gipfel sieht Edmund Abel mehr als nur eine Selfie-Kulisse, für das zeittypische Gipfelfoto auf Social Media:
1. O-Ton:
„Aufm Gipfel vom Gaishorn is es e bissle wie hoim komma. Es is a bissle die verlängerte Flur von Legau. Weil ja da dieses Gipfelkreuz von der Kolpingsfamilie und jetzt auch von der Bergrettung Tannheim steht. Und es is e schönes Gefühl, wenn man weiß, dass da schon vor 80 Jahren aus unserem Ort Menschen sich genau für diesen Gipfel begeistert ham. Und es is einfach a tolles Gefühl, wenn man da oben steht, und auch diesen Gedanken mittragen kann.“
SPRECHER:
Die Liebe zu den Bergen, regionale Verbundenheit und Ehrfurcht vor dem tief in christlichen Glaubensvorstellungen verwurzelten Kreuzsymbol verbinden sich zu einem Narrativ, von dem sich auch heute noch eine große Zahl an Menschen angezogen fühlt - aufgeklärte Moderne hin oder her.
SPRECHERIN:
Warum das so ist, erklärt sich Hans-Joachim Löwer, Autor des Buches: „Gipfelkreuze“, so:
2.O-Ton:
„In der Tat, Kirche ist „out“, aber Gipfelkreuze sind „in“, seltsamerweise. Es werden ja immer wieder neue aufgestellt. Sie sind Symbole des Christentums. Die meisten Erbauer, und die meisten Alpinisten, die vor den Kreuzen stehen, empfinden so ein Kreuz aber eher als ein Zeichen, dass diese Stelle etwas Besonderes ist. Wer am Gipfel steht, hat sich über die Niederungen erhoben. Das Kreuz, vor dem du da stehst, führt dir vor Augen: das hier ist ein ungewöhnlicher, herausragender, feierlicher Platz.“
SPRECHER:
(( Löwer hat für seine vielstimmige Sammlung an Gipfelkreuzgeschichten akribisch recherchiert. Und gut 60.000 Höhenmeter zurückgelegt. Zu Fuß, mit Rucksack, Notizblock und Kamera.
3.O-Ton:
„Es hat bei mir ja ein halbes Jahrhundert gedauert, bis ich auf die Idee gekommen bin, über Gipfelkreuze zu schreiben. Vorher, bis dahin, habe ich, wie tausende andere Alpinisten auch, am Gipfelkreuz gesessen, meinen Rucksack ausgepackt, ne Flasche Wasser hergenommen und die Aussicht genossen. Und irgendwann, an einem Tag, das war ein ganz unscheinbarer Gipfel, in der Nähe von Garmisch-Partenkirchen, gleitet mein Blick über das Gipfelkreuz. Und die Frage schießt mir durch den Kopf: wieso steht das Kreuz eigentlich da? (( Wer hat das denn gebaut? Wer hat das denn erdacht? Wie ham die das denn hier hochgebracht? Und warum? )) Und meine Vermutung war: dass in diesen Kreuzen dramatische Geschichten stecken.“ ))
SPRECHERIN:
Auf rund viertausend Alpengipfeln steht heute ein Gipfelkreuz. Oder auch eine Madonna, wie in Italien und in Frankreich häufiger der Fall.
Musik darüber
SPRECHER:
Viele von diesen Gipfelzeichen stehen für faszinierende, oft jahrhundertealte Geschichten.
SPRECHERIN:
Diese Geschichten erzählen von Päpsten, Bischöfen und Priestern, die gegen den „Ungeist der Welt“ zu Felde zogen, indem sie Bergspitzen mit Kreuzen „besetzen“ ließen. Oder von eigenwilligen Künstlern, die Berggipfel zu einer Spielwiese für ihre extravaganten Ideen machten.
SPRECHER:
Sie handeln von gottesfürchtigen Bergbauern, und ihrem - von alten, heidnischen Vorstellungen mitgeprägten - Volksglauben. Wetterkreuze sollten den „heiligen Berg“ - vormals Sitz der Götter, Geister und Dämonen - besänftigen, sollten Hagel, Blitz und Sturm bannen.
SPRECHERIN:
Nicht zuletzt auch erinnern Gipfelkreuzgeschichten an wagemutige Bergpioniere. Alte Fotos zeigen diese tollkühnen Erstbegeher, mit ihrer vorsintflutlich aussehenden Bergsteigerkluft: Filzhut und Lodenjacke, dazu Holzschaftpickel und genagelte Schuhe. Ihre Triumphe und Tragödien schrieben Alpingeschichte.
Musik weg
SPRECHER:
In der Entwicklungsgeschichte des Gipfelkreuzes markiert das Jahr
1800 eine Art „Quantensprung“. Wird jetzt doch zum ersten Mal auf einem Alpenberg von beträchtlicher Höhe: auf dem 3798 Meter hohen Großglockner, dem höchsten Berg von Österreich, ein mächtiges Gipfelkreuz aufgestellt.
SPRECHERIN:
Treibende Kraft bei diesem kühnen Projekt ist ein Mann im Bischofsgewand: Franz II. Xaver Altgraf von Salm-Reifferscheidt, Oberhirte der Diözese Gurk.
SPRECHER:
Eine Zeitenwende bahnt sich damals an in Europa. Nur sechs Jahre noch, und das Heilige Römische Reich Deutscher Nation wird zusammenbrechen. Auch blühen die Wissenschaften auf: es ist das Zeitalter der „Vermessung der Welt“. Und ein säkularer Geist, geprägt von Aufklärung, Rationalismus und Französischer Revolution, hat damit begonnen, die religiösen Autoritäten zu erschüttern.
SPRECHERIN:
Dieser versinkenden Welt will der couragierte Geistliche eine Art Denkmal setzen. Er finanziert daher die größte Expedition, die es bislang in den Alpen gegeben hat.
Musik darüber
SPRECHER:
Außer ihm nehmen ein Arzt, ein Landvermesser, ein Mineraloge und ein Botaniker an diesem abenteuerlichen Unternehmen Teil. Dazu kommt eine Karawane aus 26 Trägern, nebst Reit- und Packpferden. Auch schleppt man ein ganzes Arsenal von wissenschaftlichen Instrumenten mit.
SPRECHERIN:
Während die Honoratioren im letzten Hochlager, auf 3454 Metern Höhe, zurückbleiben, kämpfen sich im Juli 1800 fünf einheimische Führer, unter Zuhilfenahme von langen Holzstöcken, Schritt für Schritt, den steilen Gipfelaufbau hinauf. Sie hacken Stufen in die abschüssigen Rinnen aus Schnee und Eis. Spannen Sicherungsseile über halsbrecherische Felspassagen. Tatsächlich gelingt ihnen am Ende die Erstbesteigung des Gipfels. Dort verankern sie das fast vier Meter hohe Kreuz.
SPRECHER:
Die Einwohner in dem nahegelegenen Dorf Heiligenblut feiern das spektakuläre Ereignis mit Böllerschüssen. 79 Jahre lang wird dieses Kreuz auf dem Großglockner stehen: als „Wächter einer ewigen Ordnung“, wie die Kirche es sieht. Und zugleich als ein Symbol des menschlichen Forschungs- und Eroberungswillens.
Musik weg
(( 4.O-Ton:
„Neben dem Kreuz wurde ein überdachter Holzkasten aufgestellt, in dem ein Thermometer und ein Barometer eingeschlossen wurden. Den Schlüssel erhielt der Pfarrer des Dorfes Heiligenblut, mit der Maßgabe, ihn nur an Leute herauszugeben, die am Großglockner Messungen machen wollten.“
SPRECHERIN:
Tatsächlich lieferten die Messungen vom Großglocknergipfel vor allem Meteorologen viele wertvolle Erkenntnisse. ))
SPRECHER:
Erst 1880, anlässlich der Silberhochzeit des österreichischen Kaiserpaares, Franz Joseph und Elisabeth, wird das alte Kreuz durch ein neues, das so genannte „Kaiserkreuz“, ersetzt.
SPRECHERIN:
Mit dem Großglocknerkreuz ist das Zeitalter der Gipfelkreuze eingeläutet: abertausende solcher Gipfelzeichen werden jetzt, im Laufe der Zeit, im gesamten Alpenraum aufgestellt.
SPRECHER:
Die unterschiedlichsten Hoffnungen, Ängste und Schicksale ranken sich fortan um die paar Balken aus Metall oder Holz. Und nicht nur das. Mehr und mehr werden Gipfelkreuze auch zum Spielball weltanschaulicher Auseinandersetzungen.
SPRECHERIN:
Geradezu mustergültig zeigt sich das am Beispiel des Zuckerhütl,
dem höchsten Berg der Stubaier Alpen, in Österreich.
SPRECHER:
Dankbare Kriegsheimkehrer hatten auf diesem Berg, im Jahre 1947, ein Kreuz errichtet. In Erinnerung an die Schrecken des 2.Weltkriegs, sollte es eine Art Neuanfang symbolisieren. Wobei es aber, so Hans-Joachim Löwer, nicht blieb.
5.O-Ton:
Da gibt es im Stubaital einen engagierten, umtriebigen Kaplan namens Karl Loven. Der will ein Zeichen setzen, dass die alten, christlichen Tugenden wieder Einzug halten in das Tal, und in die ganze Welt. Er macht das Gipfelkreuz zum Thema eines Films, der ein Jahr später in Innsbruck uraufgeführt wird. Er schreibt ein Buch, in dem das Zuckerhütlkreuz an den heldenhaften Widerstand erinnert, den junge Katholiken gegen den Ungeist der Nazis geleistet haben. Es ist die Zeit, in der die Kirche ihren letzten, großen Kulturkampf um die Köpfe und Herzen der Menschen führt. In Deutschland gehen tausende von Christen gegen den Film die „Sünderin“ auf die Straße, in dem Hildegard Knef sich vor der Kamera nackt auszieht. Viele Gipfelkreuze, die aus dieser Zeit stammen, sind als Demonstration gegen die sich ausbreitende Säkularisierung gedacht.“
SPRECHER:
Auch das Zuckerhütlkreuz wurde in diesem Sinne weltanschaulich vereinnahmt. Karl Loven predigte nämlich seiner Anhängerschaft, über – Zitat – „frivole Filme nicht auf der Straße zu schimpfen“. Vielmehr helfe gegen den um sich greifenden Sittenverfall „nur das Gebet am Gipfelkreuz“.
SPRECHERIN:
Mitunter nimmt der „Kulturkampf“ ums Gipfelkreuz auch aberwitzige Züge an. Wie etwa, im Jahre 1943, in den Freiburger Voralpen, in der Schweiz.
SPRECHER:
Dort sehen wortgewaltige Gottesmänner, vom Kapuzinerorden, im Berggipfel des 1858 Meter hohen Les Millets gar eine, Zitat, „letzte Bastion der Moral“. Durch den Bau eines Gipfelkreuzes will man, dementsprechend, ein Zeichen setzen.
SPRECHERIN:
Sozialismus, Geld- und Machtgier, Sportsgeist, Tourismus oder Modeverrücktheiten - alles das ist in den Augen der Ordensbrüder „heidnischer Kram“.
SPRECHER:
Das Landleben hingegen wird von den Mönchen verklärt. Für die „feinen Städter“ kennt man daher im „Volkskalender“, ihrem offiziellen Presseorgan, nur Hohn und Spott:
Musik darüber (Jodler)
ZITATOR:
„Immer mehr solcher Sommervögel flattern jetzt in unsere Bergdörfer hinauf. Mit Jazz und Swing, all Abend Ball (…).
Aber es ist nicht gut, wenn dem einfachen Bergvolk solche Stinkkäfer und Grillen der Unzufriedenheit im Kopf herumsummen.“
SPRECHER:
An anderer Stelle mokiert man sich auf Schwyzerdütsch.
ZITATOR:
„Lueget auch, wie die Stadtweibervölker daherkommen: Es Müli zündrot verrandet. Die Fingernägel feurig wie Teufelskrallen.“
SPRECHERIN:
33 Jahre wird dieses „moralische Bollwerk wider den Zeitgeist“ auf dem Les Millets stehen, ehe es ein Blitzschlag zerstört.
Musik weg
SPRECHER:
Auf andere Art macht der nur 1205 Meter hohe Heigelkopf „Karriere“. Gehört doch dieser eher unscheinbare Berg, im Bayerischen Voralpenland auf dem Gebiet der Gemeinde Wackersberg gelegen, zum düsteren Erbe der Nazi-Zeit.
Musik darüber („Die Fahne hoch!“)
SPRECHERIN:
1933 - Adolf Hitler ist gerade erst an die Macht gekommen - taufen dort regimetreue Wackersberger Bürger - in vorauseilendem Gehorsam - den Heigelkopf um, in „Hitlerberg“. Und ersetzen das Gipfelkreuz durch ein Hakenkreuz. Mit Fackeln bestückt, leuchtet es bei Nacht ins Land hinaus, als ein „glühendes Bekenntnis zum Führertum“.
SPRECHER:
Der „Führer“ selbst steigt freilich nie auf diesen Berg. Bis heute aber werfen die Gespenster der Vergangenheit auf die Dorfgemeinde lange Schatten.
Musik weg
6.O-Ton:
„Im Frühjahr 1945, als Hitlers Reich in Trümmer sinkt, fürchten die Wackersberger, dass dieses Hakenkreuz ihnen Ärger bringen wird. So schleicht sich, kurz vor Ankunft der amerikanischen Truppen, nachts ein Trupp von Männern mit einem Schweißgerät hoch zum Hitlerberg. Die knicken das Nazi-Symbol, lassen es auf dem Gipfel liegen. Damit man beim Schweißen den verdächtigen Funkenflug nicht sieht, sind die Männer in Wettermäntel eingehüllt. Der Hitlerberg heißt seither natürlich wieder Heigelkopf. Das Internet aber vergisst ja bekanntlich nichts. Wer bei Google Maps oder Google Earth den Namen Hitlerberg eingibt, landet schnurstracks und zielsicher beim Heigelkopf. Jahrelang hat sich die Gemeinde Wackersberg darüber aufgeregt. Wütende Briefe an Google geschrieben, aber vergebens.“
MUSIKAKZENT
SPRECHERIN:
Gipfelkreuze werden von Stürmen gebeutelt, vom Blitz zertrümmert, unter Schneemassen begraben. Oder fallen neuerdings auch dem Klimawandel zum Opfer.
SPRECHER:
So geschehen am Ortler, in Südtirol, im Jahre 2012. Selbst auf dem Fastviertausender war der Permafrostboden aufgetaut, das Gipfelkreuz daher aus seinem Betonsockel gebrochen und mit wildem Getöse den Berg hinab gedonnert.
7.O-Ton:
„Nach dem 2. Weltkrieg haben amerikanische Besatzungssoldaten das Kreuz der Zugspitze zum Ziel von Schießübungen gemacht. Auf der Mondspitze, im Österreichischen Rätikon, lag eines Tages ein Gebiss in dem Kupferkasten am Kreuz, der eigentlich nur für das Gipfelbuch bestimmt war. Und im Gipfeltuch stand etwas von einer “bissigen Tour“. Und auf dem Monte Bregagno, am Comer See, in Italien, habe ich mit eigenen Augen gesehen, dass junge Leute ihre schweißnassen T-Shirts über das Gipfelkreuz hängten, damit die Outdoor-Wäsche in der Sonne trocknen konnte. Mir tat das schon ein bisschen weh. So einen Mangel an Respekt und Sensibilität zu sehen.“
SPRECHER:
Allein, braucht es überhaupt Gipfelkreuze? Diese provokative Frage wird neuerdings immer öfter gestellt. Und in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert.
8.O-Ton:
„Gipfelkreuze haben ja nicht nur Freunde, sondern auch Feinde. Und die gehören zu einer Gruppe von Menschen, die der Ansicht sind, dass religiöse Symbole im öffentlichen Raum eigentlich nichts zu suchen haben. Vor allem in der Schweiz hat es spektakuläre Protestaktionen gegen Gipfelkreuze gegeben. Auf dem Berg Freiheit, in den Appenzeller Alpen, stand eines Tages plötzlich ein drei Meter hoher Halbmond, aus weißem Acrylglas. Ein Hubschrauber hatte das islamische Symbol auf den Gipfel geflogen. Sein Schöpfer war der Künstler Christian Meier, ein überzeugter Atheist, dem die vielen Gipfelkreuze auf die Nerven gegangen waren. „Ich mag Dinge, die beim Betrachter anecken“, sagte er, „ich wollte endlich einmal ein Gegengewicht schaffen.“ Er musste sein Objekt natürlich schnell wieder abräumen. Aber der Wirbel, den er entfachen wollte, den hat er gehabt.“
SPRECHERIN:
Selbst Nacht- und Nebel-Aktionen, von sichtlich härterer Gangart, bleiben nicht aus: 9.O-Ton:
„Etwas rabiater ging der Schweizer Bergführer Patrick Bussard vor. Er brachte in den Bergen des Kantons Fribourg gleich drei Gipfelkreuze zu Fall. Einmal löste er die Schrauben, mit denen das Monument befestigt war. Zweimal war er mit einer Säge zugange. Er wurde dafür von einem Gericht zu einer Geldstrafe verurteilt, stand aber auch nach dem Prozess zu seiner Tat. „Christliche Kreuze sind Symbole des Todes, der Gewalt und der Macht!“ sagte er. „Sie haben in den Bergen nichts zu suchen.“ Seine Kreuzfällerei löste landesweite Empörung aus. Der Schweizer Alpenclub schloss ihn aus seinen Reihen aus. Ein harter Schlag für einen Bergführer.“
SPRECHER:
Als es 2016 vermehrt zu aggressiven Attacken eingefleischter Gipfelkreuz-Gegner kommt, meldet sich Reinhold Messner, Bergsteiger-Ikone aus Südtirol, zu Wort. Er fordert einerseits:
ZITATOR:
„Man sollte die Berge nicht zu religiösen Zwecken „möblieren“. Denn sie gehören der ganzen Menschheit.“
SPRECHER:
Andererseits sollten alle bestehenden Gipfelkreuze, so Messner,
erhalten bleiben. Immerhin seien sie „ein Stück Kulturgeschichte“. Und ihr gewaltsames Entfernen daher ein „Akt von Vandalismus“.
(( SPRECHER:
Vom Kreuz als Verweis auf eine höhere Sphäre hält der berühmte Achttausenderbezwinger hingegen nicht viel. Messners Credo lautet daher:
ZITATOR:
„Die Berge selbst haben etwas Erhabenes - da braucht es kein Zeichen für etwas Übernatürliches.“ ))
Musik darüber
SPRECHERIN:
Fehlt noch ein Blick auf Kreuze, die mit den Schicksalen einzelner Menschen verbunden sind.
SPRECHER:
Das ist das Gedenkkreuz Croce Carrel. Es erinnert an die selbstlose Heldentat von Jean Antoine Carrel, dem Matterhornpionier, aus Cervinia im Aostatal. Obwohl er in einen verheerenden Wettersturz geraten war, brachte Carrel die ihm anvertraute Seilschaft wieder heil zurück ins Tal. Erst dort starb der alte Bergführer dann an Erschöpfung.
SPRECHERIN:
Da ist das Gipfelkreuz auf dem Stecknadelhorn, einem Viertausender im Wallis. Als ein „Glückszeichen“ will es sein Stifter, der Schweizer Bergführer Jan Schnidrig, verstanden wissen. Hat er doch nur um ein Haar ein Lawinenunglück, am Achttausender Gasherbrum II, im Karakorum, überlebt.
SPRECHER:
Da sind die vielen, schlichten Holzkreuze, auf einsamen Inselbergen in Südtirol. Alle im Stil der alten Wetterkreuze: mit drei Querbalken also, konstruiert. Und versehen mit den Initialen: U und K.
Musik weg
SPRECHER:
Diese Initialen stehen für einen bescheidenen, eher wortkargen Einzelgänger, wie Hans-Joachim Löwer herausgefunden hat.
10.O-Ton:
„Ulrich Kössler aus Meran hat als Hobby, all seine Gipfelkreuze selber zu schnitzen. Als ich ihn kennen lernte, hatte er es schon bis zu
28 Stück gebracht. Die sind gerade mal so groß, dass er sie in seinen Rucksack stecken kann. Und er sucht sich bewusst Gipfel aus, die außerhalb des alpinistischen Mainstreams liegen. Und läuft dann im Abstand von ein paar Jahren seinen eigenen Kreuzen noch mal nach. Er schaut im Gipfelbuch nach, wer ist denn zu diesem Kreuz gekommen, wie heißt der Mensch, kenn ich ihn vielleicht, oder war vielleicht überhaupt niemand da.“
Musik darüber
SPRECHERIN:
Bedeutsamer denn je aber sind gerade heute, in einer von Kriegen und Krisen erschütterten Welt, völkerverbindende Gipfelkreuzinitiativen.
SPRECHER:
Wie etwa die auf der Großen Kinigat, in den Karnischen Alpen, in Osttirol. Hier steht, in 2689 Metern Höhe, ein mächtiges Kreuz: als ein Mahnmal für Frieden, Freundschaft und Versöhnung.
SPRECHERIN:
Im Alpenkrieg, von 1915 bis 1918, zwischen Österreich-Ungarn und Italien, war - neben den Dolomiten - die Große Kinigat Schauplatz von besonders blutigen Gefechten. Eingedenk dieser alten Kriegswunden wird hier jedes Jahr, an einem Sonntag im August, eine gemeinsame Bergmesse zelebriert.
SPRECHER:
Eine große Menschenmenge strömt zusammen an diesem Tag: die einen kommen aus Österreich, die anderen aus Italien. Symbolisch reicht man sich unter dem Gipfelkreuz die Hände - zum Friedensgruß.
SPRECHERIN:
Das Kreuz trägt die 12 Sterne der Europa-Flagge. Nicht ohne Grund: die Zahl 12 steht für Vollkommenheit und Einheit.
SPRECHER:
Zusätzlich steht auf einer Gedenktafel zu lesen: „Nie wieder Krieg!“ Die berühmten Worte von Papst Paul dem VI., gesprochen vor der UN-Vollversammlung 1965 in New York.
Musik weg
SPRECHERIN:
Bleibt als Fazit: bei allem Hickhack um die Deutungshoheit in Sachen Gipfelkreuz - die mystische Strahlkraft dieses Symbols, sie scheint ungebrochen.
SPRECHER:
Eindrucksvoll zeigt das ein Blick in das Buch: „Große Tage am Berg“. Geschrieben hat es der berühmte, italienische Extrembergsteiger, Walter Bonatti.
SPRECHERIN:
Rückblickend schildert Bonatti darin seinen aufsehenerregenden Alleingang durch die gefürchtete Matterhorn-Nordwand. Er durchstieg diese eisgepanzerte Wand im Februar 1965, mitten im Winter also.
Musik darüber
SPRECHER:
Nach einem zähen Ringen erreicht Bonatti schließlich den 4478 Meter hohen Gipfel. Er schreibt:
ZITATOR:
„Gegen drei Uhr nachmittags erblicke ich unerwartet das Gipfelkreuz. Die Sonne bestrahlt es von Süden her; es leuchtet, als ob es in Weißglut stände. Ich muss an den Glorienschein eines Heiligen denken. Selbst die Pressefotografen, in ihren Flugzeugen, scheinen die Feierlichkeit dieses Augenblicks zu fühlen. Sie entfernen sich eine Weile und lassen mich die letzten Meter in völliger Stille erklimmen. Mit Tränen in den Augen umfasse ich das eiserne Skelett des Kreuzes und drücke es an meine Brust, allein mit mir und der Unendlichkeit.“
Create your
podcast in
minutes
It is Free