Liebesbriefe - Zärtliche Zeilen und Zeitzeugnisse
Liebesbriefe sind spannende Zeitzeugnisse. Sie spiegeln Hoffnung und Sehnsucht und sind eine mutige Selbstoffenbarung mit dem Risiko. Mache gewähren auch Einblick in das Auf und ab von Beziehungen. Vor allem sind Liebesbriefe tiefromantische Bekenntnisse im Versuch, das ganz große Gefühl auszudrücken und für immer auf Papier zu bannen. Autorin Valerie von Kittlitz
Credits
Autorin dieser Folge: Valerie von Kittlitz
Regie: Anja Scheifinger
Es sprachen: Katja Amberger, Jenny Güzel, Johannes Hitzelberger, Florian Schwarz, Hemma Michel
Technik: Regine Elbers
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Eva Wyss, Germanistin
Johannes Kleinbeck, Literaturwissenschaftler
Marie von Heyl, Künstlerin, Philosophin
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Literatur:
Sigmund Freud, Martha Bernays: Brautbriefe. Sie waren nie zur Veröffentlich vorgesehen und bieten nun überaus faszinierende Einblicke in die große Liebe des Vaters der Psychoanalyse. Der letzte Band ist noch nicht erschienen.
Johannes Kleinbeck, „Geschichte der Zärtlichkeit. Die Erfindung des einvernehmlichen Sex und ihr zwiespältiges Erbe bei Rousseau, Kant, Hegel und Freud”. Spannende Darstellung des schleppenden Wandels einer tristen Pflichterfüllung durch die Aufklärung.
Eva L. Wyss, Susanne Häberlin, Rachel Schmid: Übung macht die Meisterin: Ratschläge für einen nichtsexistischen Sprachgebrauch. Ein wertvoller Ratgeber.
Linktipp: Eclectic Engineering ¬– toller Philosophie Podcast von Gesprächspartnerin Marie von Heyl HIERWir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Sprecherin
In Mexiko-Stadt gibt es einen Platz, an dem Schreiber sitzen. Unter Kolonnaden, vor Hitze und Regen geschützt, betreiben sie ein uraltes Geschäft. Es kommen Menschen zu ihnen, die Hilfe suchen. Oft sind es Liebende. Die Schreiber hören zu und übersetzen ihre Gefühle in Liebesbriefe.
[Zitate: Wie aus der Ferne]
Zitatorin 1 Bachmann
Lieber, Du, (…) Zwei- oder dreimal hab ich einen Brief an Dich geschrieben und dann doch nicht weggeschickt.
Zitator 2 Celan
Ingeborg, liebe, nur ein paar Zeilen, in aller Eile, um Dir zu sagen, wie sehr ich mich freue, das Du kommst. (…) Ich bin voller Ungeduld, Liebe. Dein Paul.
Sprecherin
Ingeborg Bachmann und Paul Celan im Jahr 1949. Es sind die ersten Briefe der stürmischen Liebe zwischen Dichterin und Dichter. Celan überschüttet Bachmann mit Mohnblumen, die in ihrem Zimmer leuchten, bevor sie verwelken. Er schreibt Gedichte für sie – und glühende Briefe.
Musikakzent
Zeilen über das schönste Gefühl der Welt. Auf den zweiten Blick ist ein Liebesbrief allerdings gar keine so unkomplizierte Sache. Wie findet man überhaupt Worte für ein Gefühl? Den Mut, sich zu bekennen? Einmal abgeschickt beginnt das Bangen. Denn wer einen Liebesbrief bekommt, kann erfreut sein, aber auch peinlich berührt. Hoffnungen, Enttäuschungen, Verletzungen stehen auf dem Spiel.
Vielleicht faszinieren die Liebesbriefe großer Literatinnen und Künstler deshalb. Mit viel Fantasie und Begabung werden hier Gefühle ausgedrückt. Reihenweise füllen Editionen von Liebesbriefen berühmter Menschen die Buchhandlungen, oft sind es Bestseller. Sie gewähren Einblick in das private Leben von Personen, die wir sonst nur aus der Öffentlichkeit kennen. Wer hätte denn gedacht, dass der “Eiserne Kanzler” Otto von Bismarck seiner Verlobten geschrieben hat, sie solle ihn benutzen, misshandeln, und seine Briefe unterschrieb mit
Zitator 3
“Dein Knecht“ ?
Sprecherin
Oder dass Franz Kafka von Felice Bauer verlangt hat, ihre Post einmal pro Woche pünktlich zum Sonntag zu schicken, weil ihn tägliche Liebesbriefe zu sehr mitnähmen?
[Ende Einleitung, nochmal Schreibmaschinengeklapper, bricht ab]
O-Ton 1_Eva L. Wyss, Germanistin [9 Sek.]
Über die Liebesriefe der Menschen aus der Mitte der Gesellschaft gab es eigentlich keine Forschungsliteratur.
Sprecherin
Die Germanistikprofessorin Eva Lia Wyss wollte sich nicht mit der großen Literatur beschäftigen. Als Sprachwissenschaftlerin interessierte sie sich für die Liebesbriefe der Allgemeinheit. Nur: sie fand keine Quellen.
O-Ton 2_Eva L. Wyss, Germanistin [6 Sek.]
Das fand ich bemerkenswert und hab dann gedacht, ich probiere das mal aus.
Sprecherin
In den 90er Jahren begann sie, quer durch die Schweiz Gratisanzeigen zu schalten, in denen sie dazu aufrief, ihr Liebesbriefe zu schicken. Besonders hoffnungsvoll war sie anfangs nicht.
O-Ton 3_Eva L. Wyss, Germanistin [9 Sek.]
Meine Kolleginnen und Kollegen an der Uni Zürich damals haben mir auch gesagt, “Du kriegst sicher keine Briefe, was denkst Du Dir wohl dabei”.
Sprecherin
Aber es kam anders. Knapp 2500 Liebesbriefe stapelten sich innerhalb von wenigen Monate auf ihrem Schreibtisch.
O-Ton 4_Eva L. Wyss, Germanistin [31 Sek.]
Briefe die nicht abgeschickt wurden, also beispielsweise nach einer Beendigung einer Liebesbeziehung, solche Bilanzbriefe. Briefe von Menschen, die mir die mit einer Erläuterung zum Entstehungsprozess auch überlassen haben. Ein Ehepaar, die haben mich zu sich nach Hause eingeladen, die wollten mich ein bisschen mustern, und schauen wer da Liebesbriefe sammelt, und haben mir dann die Briefe überreicht, auch mit Bedingungen, ob es publizierbar sei oder nicht.
Stimmenkollage [überlagernd]
Zitatorin 4
Mein lieber Uli! Schnell möchte ich Dir mein Lieberì ein paar Worte schreiben, Wie geht es Dir? Hoffe gut, was auch bei mir der Fall ist. Bist Du noch gut heimgekommen, am Mittwoch?
Zitator 3
Liebstes Lisel!
Bin nun ganz traurig dass ich Dich heute nicht telephonisch erreichen konnte. Aber weist Du, ich habe den Eindruck, es wird eben nicht sehr gefällig aufgenommen, wenn ich Dir anläute.
Zitatorin 4
Wie muss das schön sein, einmal von Dir Kinder zu haben, und sie zusammen zu guten und lieben Menschen zu erziehen.
… Werden wir uns dann wohl sehen? Nun aber muss ich schnell unter die Decke, es ist schon wieder ziemlich spät. Empfange meine liebsten Grüsse und viele Küsse von Deinem Klärli.
Sprecherin
Die Riesenmenge an Post überforderte Eva Lia Wyss zunächst. Der Fluss an Zusendungen brach auch nicht ab. 1997 entschloss sie sich, ein Archiv zu gründen. Dieses Liebesbriefarchiv umfasst heute um die 50.000 Zusendungen, die in Zusammenarbeit mit Universitäten in Dortmund und Koblenz archiviert, digitalisiert und weit erforscht worden sind. Es ist das größte deutschsprachige Archiv seiner Art. Mit
sorgsam verfassten Schriftstücken auf feinem Papier. Kreis- oder herzförmig geschriebenen Liebesbriefen, reich verziert. Aber auch Zettelchen, schnell die auf Rückseite einer Rechnung oder mit Bleistift gekritzelten Briefen. Der älteste ist von 1715. Wie erforscht man so einen riesigen Fund?
O-Ton 5_Eva L. Wyss, Germanistin [13 Sek.]
Textmuster herauszuarbeiten, das ist für die Sprachwissenschaft natürliches ganz etwas Grundlegendes, inwiefern unterscheidet sich jetzt der Liebesbrief von anderen Briefsorten.
Zitator 3 “Max Oberdorfer” [zügig, direkt]
Mannheim, d. 23. Juni 1902
Mein liebes Fräulein Bertha. Ich erhielt heute früh Ihr liebes Briefchen und sage Ihnen dafür meinen herzlichsten Dank. Aus dem Inhalt selbst kann ich mir eigentlich nicht ganz klar werden, jedoch weiss ich überzeugt sein zu können, dass Sie mich lieben, und gebe ich Ihnen die Versicherung, dass mein Herz nur allein für Sie meine liebe Bertha schlägt.
Sprecherin
Ein Liebesbrief folgt einer bestimmten Struktur. Zentral Elemente sind Gruß, Abschied, und Liebesbekundung. Und jeder Brief enthält dabei Codes, sprachliche Verschlüsselungen von Gefühlen, von Begehren.
Zitator 3 “Max Oberdorfer” [Fortsetzung: zügig, direkt]
Wegen eines Andenkens bin ich mit einer Miederschnur zufrieden, die ich als winziges Andenken an Sie, meine Liebe, aufbewahren würde. Auf frohes Wiedersehen. Ich grüsse und küsse Sie herzlichst Ihr Sie liebender Max Oberdorfer.
Sprecherin
Mal ist ein Liebesbrief sehr formal und kühl, ein anders Mal eher plump oder verspielt und poetisch.
Zitatorin 4 [zärtlich]
Heute Mittag stahl ich mich ganz leise ins Dörfchen. Von Konstanz konnte ich gleich mit dem Dampfboot heimfahren. Da find ich für Dein Bild einen vertrauten Rahmen, da haben wir uns gefunden in dieser herrlichen Natur, es liegt eine tiefe Weise darin und bürgt viel mehr für ein schönes, grosses Leben.
Sprecherin
Ob ein Brief eher formell oder poetisch ist, hat übrigens vor allem mit dem Charakter des Schreibenden zu tun, oder einer Form von Talent. Und nur begrenzt mit Bildungsstand oder Herkunft. Verspieltes, Ästhetisierung, wie Eva Lia Wyss es nennt, findet sich klassenübergreifend und querbeet in Liebesbriefen. Und noch eines hat sie gefunden: Der Liebesbrief ist ein Männergenre.
O-Ton 6_Eva L. Wyss, Germanistin [28 Sek.]
Der Liebesbrief ist eine männliche Gattung deswegen, weil er ursprünglich, und vor allem in 19 Jahrhundert, der Brief ist, der an Frauen gerichtet wird. Es zeigt sich schon auch dass diese Codierungen des Begehrens, die Darstellung der Imaginationen, männlich gegendert ist, also: Ich möchte Dich auf Deine Lippen küssen, ist ein Satz den man nicht liest in einem Brief von einer Frau.
Sprecherin
Männern schrieben Frauen an. Neben Werbungsriefen, die sich vereinzelt finden, gibt es Brautbriefe, die regelmäßigen Austausch zwischen Männern und Frauen dokumentieren. Brautbriefe waren die Briefwechsel, die zur Verlobungszeit entstanden. Früher wurden sie häufig noch abends der Mutter vorgelesen, damit sie ihre Meinung abgab.
O-Ton 7_Eva L. Wyss, Germanistin [11 Sek.]
Es gibt auch in den Briefstellen Hinweise dazu, dass die Frauen sehr züchtig zurückschreiben sollen, im 19. Jahrhundert und eigentlich auch lange im 20. Jahrhundert noch.
[Kleine Atempause]
Sprecherin
Das bestätigt auch Johannes Kleinbeck. Er ist Literaturwissenschaftler und hat sich mit den Brautbriefen zwischen Sigmund Freud und seiner Verlobten Martha Bernays beschäftigt.
O-Ton 8_Johannes Kleinbeck, Literaturwissenschaftler [20 Sek.]
Ach, ich muss recht lachen, wie eifrig Du immer auf dem Genuss der Gegenwart bestehst, als wärest Du eine robuste Heidin, two thousand years ago, (…) anstatt ein frommes zartes Kind des spiritualistischen 19. Jhdt. und meine Braut (…) Aber schön ist die Gegenwart doch in der man so schöne Hoffnungen hegen darf wie: ich dürfte Martchens Lehrer sein.
Sprecherin
Solche Sätze finden sich häufig in den Briefen des berühmten Nervenarztes. Er weist seine Verlobte regelmäßig zurecht. Für Freud passt vieles, was Martha schreibt, nicht zum damaligen Idealbild einer Braut. Mit den ambivalenten Gefühlen, die zu einer Beziehung gehören, kann er anfangs nur begrenzt umgehen. Über wenig streiten die beiden so viel wie darüber, was “Zärtlichkeit“ ist – damals ein gängiges Wort für Liebe.
O-Ton 9_ Johannes Kleinbeck, Literaturwissenschaftler
Und somit kann man schon sagen, dass diese Briefe ein Versuch sind einer Disziplinierung, in der er eine bestimmte Form von Zärtlichkeit realisiert haben möchte.
[kurze Pause/ Blick in die Geschichte]
Sprecherin
Sigmund Freud und Martha Bernays lernen sich im Jahr 1882 kennen. Freud ist auf Anhieb verliebt. Er schickt der jungen Martha täglich Rosen. Und sie ist beeindruckt und angetan von ihm. Nur zwei Monate später sind die beiden verlobt. Doch die Hochzeit muss warten. Weder kann Martha die damals übliche Mitgift liefern, noch hat Sigmund das Einkommen, um eine Familie zu ernähren. Martha Bernays lebt in der Nähe von Hamburg, Sigmund Freud in Wien. Über diese große Distanz schreiben sie sich jeden Tag, viereinhalb Jahre. Ca 1500 Briefe reisen hin und her.
Zitator 2 Freud
Mein süßes Martchen! Dein Brief, dein holder Brief, ich habe ihn erst zweimal gelesen, kann noch nicht darauf antworten. (…) Am liebsten schriebe ich nichts als: Mein teures Martchen, meine süße Martha...
Sprecherin
Das junge Glück ist anfangs unbändig. Die Postkutsche braucht vier Tage. Die Briefe schwirren hin und her. Oft entsteht ein heilloses Durcheinander, aber die beiden sind sehr darum bemüht, klarzustellen auf welchen Brief sie sich beziehen und alles zeitlich zu verorten.
Zitatorin 1 Bernays
Gestern, Geliebter, war unser junges Glück acht Tage alt. Die Gedenkfeier jener seligen Morgenstunden konnte ich im Wald halten – unter alten, ehrwürdigen, wetterfesten Riesen, bei denen ich mir doch noch winziger vorkam als neben Dir, Du großer Mann.
Sprecherin
Marthas Briefe haben oft einen scherzhaften Ton. Die Einundzwanzigjährige ist witzig und lebt gerne genussvoll. Aber sie kokettiert auch und macht sich dabei klein.
Zitatorin 1 Bernays
Nun habe ich eben Deinen Brief bekommen, und nun bin ich gar nicht mehr unzufrieden und undankbar. Innigen, heißen Dank, dass Du Dich in Gedanken so viel mit dem unbedeutenden Ding beschäftigst, dass sich “Martha“ nennt.
Sprecherin
Freud reagiert wechselhaft. Mal ist er geradezu entsetzt über solche Töne, dann wieder macht er sie selbst klein. Seine Briefe schwanken zwischen heißer Liebesbekundung und trockenem Bericht. Kitsch ist ihm zuwider. Am liebsten würde er es sachlich halten. Ihn wurmt, dass Marthas männliche Künstlerfreunde wie Fritz Wahle ihr spielerisch “unendliche Liebe“ bekunden.
Zitator 2 Freud
Solche Überschwänglichkeit des Ausdrucks und der Gebärde, wie sie Fritz beliebt, mißfällt mir nun aus zwei Gründen. Zunächst an und für sich, weil es unserer Zeit mehr angemessen ist, mit den einfachsten Mitteln und dem geringsten Aufwand von Gefühlsregungen hauszuhalten, und dann, weil ich glaube, daß es auch Dir peinlich sein muß, wenn Du Dir bei denselben Worten und denselben Gebärden nicht dasselbe denken darfst. Es ist verwirrend, und der Mensch soll es nicht tun, dasselbe Wort, das ihm als Losung und als Heilwort dient, als Phrase zu gebrauchen, dieselbe Handlung einmal als eine gleichgültige, einmal als eine zauberkräftige zu verrichten.
O-Ton 10_ Johannes Kleinbeck, Literaturwissenschaftler [25 Sek.]
Was an solchen Passagen faszinierend ist, ist erstmal, dass es hier eine wirkliche Theorie der Liebe gibt, eine Theorie der Zeichen der Liebe, wann sie angemessen sind, wann sie nicht angemessen sind. Ich würde allerdings nicht sagen, dass das Eifersucht ist, beziehungsweise ich glaube, wenn man jetzt zu schnell mit so allgemeinen Begriffen wie Eifersucht herantritt, dann sieht man nicht, dass diese Gefühle immer Medieneffekte sind.
Sprecherin
Medieneffekte: Damit meint Kleinbeck : Ein Liebesbrief steht zu jeder Zeit in einer bestimmten Tradition. Sitten und Moralvorstellungen schreiben sich durch ihn im wahrsten Sinne des Wortes fort. Althergebrachtes und Neues werden hier verhandelt. Und Freuds gemischte Gefühle haben eben damit zu tun, dass sich seine eigene Prägung beißt mit der Art, wie sich seine Braut im Brief präsentiert.
Solche
Ambivalenzen finden sich auch darin, was uns der “Vater der Psychoanalyse“ über den Liebesbrief und unser Seelenleben lehrt. Vielleicht würde er sagen: einen Liebesbrief zu schreiben ist, wie mit angezogener Bremse zu fahren. Denn in der Regel verfasst man ihn aus einem Begehren heraus – nach Freuds Triebtheorie könnte man sagen, aus nichts anderem als dem Sexualtrieb. Und der kam in Freuds Verlobungszeit zu kurz.
O-Ton 11_ Johannes Kleinbeck, Literaturwissenschaftler
Das Interessante ist eben, dass Freud gewissermaßen schon in den Brautbriefen selbst wie dann später in der Psychoanalyse diesen spezifischen Anforderungen an das Triebleben in der Verlobungszeit eine pathogene, das heißt eine krankmachende Wirkung zuschreibt.
Sprecherin
Leiden und Leidenschaft. Damals wie heute kann ein Brief körperliche Distanz nicht aufheben. Im Gegenteil, er ist Sinnbild dafür. Im Zweifelsfall steigert er Sehnsucht und Verlangen nur.
Zitatorin 1 Bernays
Das leere Papier gähnt einen ordentlich an, nicht wahr? Du bist mein Gedanke bei Tag und bei Nacht und wohnst – leider in der Kaiser-Josefsstraße!
[kleine Atempause]
Sprecherin
Wird Martha Bernays nun respektlos von Freud erzogen? Das kann man so pauschal nicht sagen, betonen die Herausgeber der Brautbriefe, und auch Kleinbeck. Denn es gibt eine Entwicklung. Der Briefwechsel steht für das Auf und Ab einer gelebten Beziehung, in der zwei Menschen anfangs frisch verliebt sind, sich über Briefe kennen lernen müssen und sich wortwörtlich zusammenraufen. In ihrer Gänze zeugen die Briefe von Ideenreichtum, Witz und intensiver Zuneigung. Grundlage für eine lange Ehe. Die Titel der Bände verweisen auf diese Entwicklung: Der erste heißt „Sei mein, wie ich mir’s denke“. Der letzte: „Dich so zu haben, wie Du bist“.
Die Zeiten haben sich geändert. Freud beobachtet unter seinen eigenen männlichen Patienten eine allgemeine Misogynie – das Erniedrigen von Frauen bei gleichzeitigem Begehren. Heute wird ständig neu verhandelt, was Respekt ist. Auch im Brief.
O-Ton 12_Eva Wyss, Germanistin [20 Sek.]
Aufgewühlterweise, zu nächtlichen Stunden, ich: Schattenfängerin, Zwischenzeit heute, morgen, Zukunft, sie schillert magisch. Ängste treiben wilde Blüten. Wer werde ich sein? Wie werde ich werden?
Sprecherin [evtl überlegen über file “Zwischenteil”?]
Eva Wyss liest einen Brief aus dem Archiv vor, der sie besonders bewegt hat. Er ist aus den Achtzigerjahren. Geschrieben hat ihn eine Frau.
O-Ton 13_Eva L. Wyss, Germanistin [49 Sek.]
Alltägliche Winzigkeiten als Kristalle eines Liebeslebens. Du, wie Du Dir die Zähne putzt, Dein vornüber geneigtes Profil im Ausschnitt der halboffenen Türe, der nicht gekochte Tee frühmorgens, mein stummer Ärger, eine Bitte, eine Entschuldigung, eine befreiende Ironie, eine Bewegung von Haut zu Haut. Wir wachsen. Herzblättrig zu Dir… und dann der Name, die Unterschrift. Das war für mich so ein Ausdruck, oder eine Suche nach einer Möglichkeit Liebe zum Ausdruck zu bringen, relativ authentisch, also da steht nicht, ich möchte Deine Lippen küssen, ich möchte Dir in die Augen schauen, sie schickt mir ein Strumpfband.
Sprecherin
Mit dem gesellschaftlichen Wandel haben sich Vorstellungen von Moral, von Liebesleben, von Gemeinsamkeit geändert. Auch davon, ob die eigenen Gefühle überhaupt geteilt werden müssen. Das Individuum steht im Zentrum. Den meisten Schreibenden ist damit auch bewusst, dass ihr Brief unterschiedlich aufgefasst werden kann.
O-Ton 14_Eva L. Wyss, Germanistin [12 Sek.]
Was liest man denn, wenn man den Brief liest, was versteht man, was ist die Bedeutung für diese Person da, da gibt es unendlich viele Möglichkeiten einen Brief zu lesen.
Sprecherin
Dieses Bewusstsein ist unter anderem einer philosophischen Schule zu verdanken: Den Poststrukturalisten. Besuch im Atelier der Philosophin und Künstlerin Marie von Heyl. Sie hat sich eingehend mit zwei Vertretern dieser Schule beschäftigt: Jacques Lacan und Jacques Derrida. Beide revolutionieren in den Sechzigerjahren die Idee von Sprache.
O-Ton 15_Marie von Heyl, Künstlerin und Philosophin [12 Sek.]
In dieser Sprachauffassung ist Sinn nicht irgendwas was schon da ist, und durch Sprache transportiert wird, sondern Sinn entsteht erst, und wird produziert, und auch erst nachträglich.
Sprecherin
Die poststrukturalistische Philosophie hat recht eigenwillige und auch komplizierte Ideen von Sprache hervorgebracht. Dabei haben Lacan und Derrida über ein Paradox gestritten: Wie kann man behaupten, dass es keine Wahrheit gibt, und das gleichzeitig als absolute Wahrheit darstellen? Letztendlich verbindet beide, dass sie sagen, dass immer etwas zwischen den Zeilen steht, auch in einem Liebesbrief.
O-Ton 16_Marie von Heyl, Künstlerin und Philosophin [21 Sek.]
Diese Sprachauffassung die kann einen, ((und das ist diesem Poststrukturalismus auch vorgeworfen worden)), quasi natürlich ins Chaos stürzen, so kann man das sehen, dass man nirgendwo mehr Halt hat, man kann das Ganze aber auch unheimlich produktiv auffassen, dass wir, wenn wir in der Sprache sind, immer andere adressieren und dass das eigentlich ist wie Sinn überhaupt erst entsteht.
Sprecherin
Nämlich dadurch, dass wir überhaupt miteinander reden oder uns Briefe schreiben. Andere machen etwas aus unseren Worten – und sei es etwas ganz Eigenes. Und jeder Text kann anders gelesen werden.
O-Ton 17_Marie von Heyl, Künstlerin und Philosophin [12 Sek.]
So ein Leser zum Beispiel ist auch Derrida. Also er guckt sich Texte an, die schon hundertmal besprochen worden sind, und liest die eigentlich ein bisschen wie… wie Liebesbriefe.
[Langsam wieder Einblenden: zarte Musik]
Sprecherin
Für Marie von Heyl sind Liebebriefe Einladungen zu Denken. Sie sind auch zentraler Teil ihrer Arbeit als Philosophin und Künstlerin. Sie findet spannend und schön, dass ein Text immer wieder zu einem neuen, unerwarteten Gedanken führen kann.
Wer einen Liebesbrief schreibt, hat vielleicht immer auch ein bisschen Angst, missverstanden oder abgelehnt zu werden. Aber es gibt von vornherein ein Trostpflaster. Natürlich hofft man in der Regel, dass ein Brief mit Wohlwollen gelesen wird, dass unsere Gefühle erwidert werden. Wenn aber nicht – Denker wie Derrida würden sagen, es entsteht immerhin immer etwas Neues, selbst in der Verneinung. Sprache ist unendlich, und wir in ihr. Und wer einen Liebesbrief schreibt, trägt bei zum andauernden Kreislauf der Gedankenproduktion. Der verewigt sich.
O-Ton 18_Marie von Heyl, Künstlerin und Philosophin [12 Sek.]
Ich glaube er nennt das an anderer Stelle sogar ein Testament. Für Derrida ist es so, dass Sprache den Tod enthält, und zwar weil sich Sprache von uns ablöst. Das meint er erstmal in so einem abstrakten Sinne, aber das Beispiel, das er dafür nutzt, ist eben auch ein Brief. Wenn ich einen Brief schreibe, dann kann ich nie wissen, ob der Adressat, die Adressatin noch am Leben ist. Und andersherum genauso.
Sprecherin
Zur dunklen Kehrseite des Lebendigen gehört die Vergänglichkeit. Und letztlich ist sie ein zentraler Aspekt der Romantik, die den Liebebrief prägt. Mit Grußformel und Abschied, mit Hoffnung und tiefer Sehnsucht.
Zitatorin 1 Gedicht
Warum ich wieder zum Papier mich wende?
Das musst du, Liebster, so bestimmt nicht fragen:
(....)
Weil ich nicht kommen kann, soll, was ich sende,
Dein ungeteiltes Herz hinübertragen
Mit Wonnen, Hoffnungen, Entzücken, Plagen:
Das alles hat nicht Anfang, hat nicht Ende.
Goethe.
Sprecherin
Und heute? Welchen Stellenwert hat ein Liebesbrief? Post-its auf dem Kühlschrank, öffentliche Bekundungen in den sozialen Medien sind neue Formen von Gefühlsergüssen, Den echten Liebesbrief macht immer noch die klassische Struktur von Anrede, Abschied und Liebesbekundung aus. Die meisten schreiben ihn zu Jubiläen oder Festtagen. Für alles Alltägliche gibt es SMS oder Email.
Der Liebesbrief steht für den Versuch, wahre Liebe in Wort und Schrift festzuhalten. Für Sehnsucht, Romantik und Hoffnung. Für eine Verbindlichkeit – denn schnell löschen lässt sich ein Brief aus dem Postkasten nicht mehr. Für Eva Lia Wyss gibt es noch einen klaren Hinweis dafür, dass Liebesbriefe Bestand haben: dass schon Kinder sie schreiben. Das Liebesbriefarchiv enthält viele Beispiele. Kinder verfassen Liebesbriefe, sobald sie schreiben lernen – mit Pathos und Mut.
[Auf halber Strecke einblenden/unterlegen: zarte Musik, mit Ende zum letzten Satz hin]
O-Ton 19_Eva Wyss, Germanistin [47 Sek.]
Nicht einfach, ich habe Dich, und hast Du mich auch, und “kreuze an”, diese Beispiele, die da immer wieder genannt werden, sondern in denen tatsächlich auch Probleme des Austausches thematisiert werden, wo man sieht, es gibt ein Interesse, diese ganze Romantik in den Griff zu bekommen. Dass zum Beispiel riesengroße Herzen gemalt werden, um zu zeigen, dass man ein Bewusstsein schon entwickelt hat von dieser vielleicht eben gefahrvollen, aber auch großartigen, existenziellen Kulturform, nicht, die da auf die Kinder wartet, der Liebe, der romantischen Liebe.
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