Polen und Deutschland - Getrennte Erinnerungen an die Geschichte
Für Polen ist der 1. September 1939 ein zentrales Datum der Erinnerungskultur: Der Überfall der Wehrmacht auf das Land bedeutete den Beginn der brutalen deutschen Besatzung. Doch die Deutschen assoziieren mit dem Datum nur allgemein den Beginn des 2. Weltkriegs. Antideutsche Ressentiments sind bis heute in Polen präsent, die Verständigung über die historischen Traumata dauerte lange - und dauert noch an. Von Jochen Rack
Credits
Autor dieser Folge: Jochen Rack
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprach: Katja Amberger
Technik: Lorenz Kersten
Redaktion: Thomas Morawetz
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
OT 01 Basil Kerski:
2.40 Der 1. September ist ein sehr emotionales Datum, weil es ist immer Schulbeginn, () und dass dieser Krieg auch am 1. September, diesem Tag begann, das symbolisiert noch einmal, wie existentiell Kriege sind, die auch Zivilbevölkerung treffen.
OT 02 Urban
0.30 Der 1. September ist der Tag, das ist die große Erzählung von Polen zu Beginn des Krieges: Polen wird angegriffen von einem brutalen Feind.
OT 03: Und wird von denen (), auf die man Hoffnungen gesetzt hatte, nämlich den Briten und Franzosen im Stich gelassen. Das ist die polnische Narration bis heute. 0.55/ Das ist ein zentraler, großer Gedenktag, mit Feiern, mit Politikerreden, mit Kranzlegungen, mit Gedenkminuten, das ist alles auch am 1. September.
OT 04 Jacek Koltan:
0.30 Die Erfahrung des Kriegs ist sehr präsent in dem kollektiven Bewusstsein der Polen. /
OT 05: Und auch der Erfolg der polnischen Museen, die in den letzten 20 Jahren entstanden sind, v.a. das Museum des Warschauer Aufstandes, aber auch des Museum des 2. Weltkrieges in Danzig, hat geholfen, mit der schwierigen und traumatischen Vergangenheit besser umzugehen.
Musik hochziehen und unterblenden
Sprecherin:
Der 1. September 1939 ist als Tag, an dem der Zweite Weltkrieg begann, in der Erinnerung der Völker tief eingebrannt. Doch hat der deutsche Überfall auf Polen, mit dem der Weltkrieg seinen Auftakt nahm, im Gedächtnis von Polen und Deutschen unterschiedliche Spuren hinterlassen. Sieger und Besiegte erinnern sich auf verschiedene Weise an das historische Ereignis, erklärt der Berliner Osteuropahistoriker Stephan Lehnstaedt:
OT 06 Lehnstaedt:
0.25 Die vergleichende Erinnerung in Polen und Deutschland ist insofern interessant, weil in Polen wird es erinnert als der Beginn einer Invasion von zwei Seiten: Also Deutschland von Westen und die Sowjetunion, die mit Russland gleichgesetzt wird, von Osten, natürlich findet das erst am 17. September statt, der Einmarsch der Russen, es ist trotzdem der Überfall von beiden totalitären Diktaturen. Die Erinnerung in Polen ist in Bezug aufs eigene Land, also das ist der Überfall auf uns, wogegen das in Deutschland eher unspezifisch, ja das ist der Beginn des 2. Weltkrieges.
Dark operation red 0‘35
Sprecherin:
Für die Polen bedeutete der Überfall der Wehrmacht das Ende der nach dem Ersten Weltkrieg wiedergewonnenen Staatlichkeit und sechs Jahre brutales deutsches Besatzungsregime, das 5-6 Millionen polnischer Bürger, darunter 3 Millionen Juden, das Leben kostete. Für Hitler-Deutschland dagegen war die in wenigen Wochen erfolgte Eroberung Polens ein erster großer militärischer Sieg und eine Ermutigung für das Nazi-Regime, seinen imperialistischen Feldzug in ganz Europa fortzusetzen.
Wochenschau
Sprecherin:
Der 2. Weltkrieg hat für Deutschland die Teilung und für Polen die Wiedergeburt als sozialistischer Staat bedeutet. Heute ist die Erforschung der geschichtlichen Ereignisse weit vorangeschritten. Doch im öffentlichen Bewusstsein der Deutschen gibt es blinde Flecken über die von den Nazis in Polen begangenen Verbrechen. Die Erinnerung an den Holocaust, das Gedenken an Auschwitz überdeckt vieles andere. Und die Polen wissen nicht immer Bescheid über das, was an Aufarbeitung der Vergangenheit in der Bundesrepublik Deutschland passiert ist. Die erwünschte Aussöhnung zwischen den beiden Völkern ist noch immer eine politische und zivilgesellschaftliche Aufgabe. Dabei kommt der Etablierung einer Gedenkkultur, die den unterschiedlichen historischen Erfahrungen von Polen und Deutschen Rechnung trägt, eine bedeutende Rolle zu, meint der in Warschau lebende Autor und ehemalige Osteuropa-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung Thomas Urban:
OT 07 Urban:
1.55 Wir haben ja das institutionalisierte Gedenken im „Institut für das nationale Gedenken“ - das heißt wörtlich so -, das alle Akten von 1939-1989 verwaltet, also nicht nur Krieg und Besatzung, sondern danach die Zwangsmitgliedschaft im Ostblock bis 89. Wir haben den 1. September zentral in allen Schulprogrammen, in den Geschichtsbüchern, im Gemeinschaftskundeunterricht, es wird auch von der katholischen Kirche begangen als Gedenktag. Denn was in Deutschland wenig bewusst ist, die Besatzung, die am 1. September ihren Auftakt nahm, war ja auch verbunden mit einer Christenverfolgung in Polen, 2.40 nicht nur mit der Judenverfolgung, sondern die deutschen Besatzer haben auch die katholische Kirche in Polen verfolgt, und ihre Repräsentanten.
Musik: Heartbeat 2 0‘32
Sprecherin:
Dem deutschen Besatzungsterror fielen tausende Vertreter der polnischen Elite zum Opfer, Offiziere, Priester, politische Repräsentanten. Aber auch ganz normale Leute, die das Pech hatten, Opfer deutscher Vergeltungsmaßnahmen zu werden wie zum Beispiel die Bewohner des ostpolnischen Dörfchens Michniow, das die SS als Racheaktion für einen Partisanenangriff am 12.und 13. Juli 1943 auslöschte und über 200 Menschen tötete. Heute erinnern ein Museum und eine Gedenkstätte in Michniow an die Opfer. Kriegsopfer waren aber auch die hunderttausenden von Polen, die als Zwangsarbeiter ins Deutsche Reich oder andere von den Deutschen besetzte Länder deportiert wurden. Seit 2024 erinnert an sie und die Deportierten aus anderen Ländern in Weimar das Museum „Zwangsarbeit“. –
Musik: Nocuturnal research red 1‘09
Sprecherin:
Die Aufarbeitung der Vergangenheit führte in Polen wie Deutschland zur Etablierung zahlreicher Museen und Gedenkstätten. Doch der Prozess der Verständigung und Versöhnung zwischen Deutschen und Polen dauerte lange. In den Nachkriegsjahren dominierten in Polen verständlicherweise die antideutschen Gefühle, und in Deutschland kam es zur Verdrängung der Schuld. Für Westdeutsche verschwand Polen im Kalten Krieg hinter dem Eisernen Vorhang, das gegen seinen Willen zum Warschauer Pakt gehörende Land wurde dem feindlichen Lager zugeschlagen. Für Polen wiederum war die BRD ein Feind in der ideologischen Konfrontation zwischen Ost und West. Ein menschlicher Austausch fand kaum statt. Die Heimatvertriebenen, die aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten bzw. dem nach Westen verschobenen Polen fliehen mussten, und ihre Verbände waren ein politisches Unruhepotential bei der Aussöhnung, denn die Frage der Grenze zwischen Polen und der Bundesrepublik Deutschland war völkerrechtlich nicht geregelt. Erst die sozialliberale Regierung unter Willy Brandt erkannte im Jahr 1970 die Unverletzlichkeit der polnischen Westgrenze vertraglich an, allerdings nicht verbindlich für den Fall einer möglichen Wiedervereinigung Deutschlands. Brandt setzte anlässlich der Vertragsunterzeichnung in Warschau ein unvergessliches Zeichen der Aussöhnung, als er vor dem Ehrenmal für die Opfer des jüdischen Gettoaufstandes 1943 auf die Knie fiel. Für die deutsch-polnischen Beziehungen ein äußerst bedeutsamer Moment, sagt der Danziger Philosoph und Forschungsleiter am Danziger „Europäischen Zentrum der Solidarität“ Jacek Koltan.
OT 08 Koltan- Anfang kürzen:
Natürlich es war auch in Polen eine tiefe Erfahrung dieser Geste spürbar und sichtbar, aber man hat natürlich auch diese politische Spielerei zu beobachten, wie Willy Brandt dargestellt wurde, wie die Perspektive manipuliert wurden von den Bildern. Man darf nicht vergessen, wir sprechen von dem kommunistischen Polen und von einem westlichen Vertreter der kapitalistischen Welt, der immer als Gegner dargestellt wurde. Die ideologischen Unterschiede haben dazu geführt, dass diese Geste in Polen nicht genug Anerkennung gefunden hat. 9.30
Sprecherin:
Auch in der Bundesrepublik war Brandts Ostpolitik nicht unumstritten, sagt der Historiker Stephan Lehnstaedt:
OT 09 Lehnstaedt:
45.00 () Die Hälfte der deutschen Bevölkerung hat das 1970 abgelehnt: sich entschuldigen bei den Polen, dem geht’s wohl nicht ganz gut? Auf die Ostgebiete verzichten, was soll denn das? Im kommunistischen Polen damals, wo es keine freie Presse gibt, viel weniger wahrgenommen. () Es gibt inzwischen in Warschau eine Erinnerungsstele für diesen Kniefall, also etwas, das man schon erkennt als wichtig für deutsch-polnische Aussöhnung.
Musik: Nature existence d 0‘29
Sprecherin:
Schon einige Jahre vorher hatte der Prozess der Aussöhnung von Polen und Deutschen begonnen. In den frühen sechziger Jahren forderten evangelische Intellektuelle die deutsche Politik zur Anerkennung der polnischen Westgrenze auf. Und 1965 adressierten die katholischen Bischöfe Polens einen Brief an ihre westdeutschen Amtsbrüder, in denen sie Vergebung gewährten und um Vergebung baten.
OT 10 Lehnstaedt:
Für die polnische Seite total wichtig ist der Brief der polnischen Bischöfe, wir vergeben und wir bitten um Vergebung, und das war damals natürlich in Polen hochumstritten, wofür bitten wir denn um Vergebung? Die polnischen Bischöfe hatten das gemünzt auf die Vertreibung, Flucht und Vertreibung der Deutschen aus dem östlichen Europa. Das ist das Gegenstück zu der als skandalös empfundenen Geste Brandts… 46.30
OT 11 Urban:
Zum ersten Mal haben Repräsentanten der polnischen Eliten das Wort „Vertreibung“ gebraucht, das war ja ein Tabu in der kommunistischen Zeit. 19.30 [] Also es wurde zum 1. Mal die Vertreibung beim Namen genannt und es wurde gesagt: Jawohl, da ist auch den betroffenen Deutschen Unrecht geschehen. 20.00
Sprecherin:
Das kirchenpolitische Ereignis zeigt auch, welche bedeutsame Rolle die polnische katholische Kirche für den Abbau von Feindbildern im Kalten Krieg spielte. Nicht zuletzt trug der polnische Papst Woityla, Johannes Paul II zum Fall des Kommunismus bei, indem er die Solidarnosc-Bewegung unterstützte, die 1989 Polens Unabhängigkeit von der Sowjetunion erkämpfte.
OT 12 Urban:
5.30 Die Erfolgsgeschichte hat begonnen, der Wendepunkt war das Jahr 1989, der Fall der Berliner Mauer, der ja nur möglich war, was in Deutschland wenig beachtet wird, dass die Polen dazu erhebliche Vorarbeit geleistet haben. Denn sie haben im Juni 1989 die kommunistische Führung abgewählt, in den ersten freien Wahlen im Ostblock, und Polen wurde dadurch zu einem riesigen Loch im Eisernen Vorhang 1989, durch den ja auch schon zehntausende von DDR Bürgern in den Westen gelangt sind.
Musik: Still waiting red. 0‘39
Sprecherin:
Ein neues Kapitel in der deutsch-polnischen Geschichte wurde 1989 aufgeschlagen. Symbolisch steht dafür das Treffen des damaligen bundesdeutschen Kanzlers Helmut Kohl mit dem neu gewählten polnischen Ministerpräsidenten Tadeusz Mazowiecki, das am 12. November 1989, drei Tage nach dem Fall der Mauer, im niederschlesischen Kreisau bzw. Krzyzowa stattfand. Die beiden Regierungschefs umarmten sich.
OT 13 Urban:
15.55 Es war ein fundamental wichtiges Ereignis für die deutsch-polnischen Beziehungen. () und es passte nicht zu dem Deutschenbild der polnischen Gesellschaft, dass es da einen körperlich großen deutschen Politiker gibt, der auch noch katholisch ist und in der Messe zur Kommunion geht. () Und dann Masowiecki, Reformkatholik und Helmut Kohl, ein sozial engagierter Katholik, () für Polen war das unglaublich wichtig diese Geste. Es ist ein Vertreter des guten Deutschland.
Musik: Pensive pondering red. 0‘48
Sprecherin:
Die Befreiung vom Kommunismus bedeutete für die Polen auch, dass sie anders über ihre Geschichte sprechen konnten. Etwa über das in der Sowjetzeit tabuisierte Verbrechen der Erschießung polnischer Offiziere durch den sowjetische NKWD in Katyn, aber auch über die deutsche Besatzungszeit. Als wesentliche Institution wurde 2004 das Museum des Warschauer Aufstandes eröffnet. In Polen ist der Warschauer Aufstand gegen die Deutschen, der vom 1. August bis 2. Oktober 1944 dauerte, von zentraler Bedeutung. 15.000 polnische Soldaten verloren dabei ihr Leben, und nachdem die Deutschen den Aufstand niedergeschlagen hatten, legten sie Warschau systematisch in Schutt und Asche.
OT 14 Lehnstaedt:
7.45 Warschauer Aufstand, 150.000 Tote haben wir da mindestens, davon 10.000 sind tatsächlich Widerstandskämpfer und Widerstandskämpferinnen, die anderen gehören zur Zivilbevölkerung. Da gibt es 1962 ein Buch in Deutschland und seitdem () sind keine Bücher von deutschen Autoren erschienen zum Thema Warschauer Aufstand.
Sprecherin:
Das populäre Museum des Warschauer Aufstandes ist ein Projekt des freien demokratischen Polen. Schon zu kommunistischer Zeit gab es das Gedenken an den Aufstand im Warschauer Getto im April 1943, mit dem sich die Juden gegen ihre Deportation in die Vernichtungslager zu wehren suchten. Das den Opfern gewidmete Ehrenmal wurde 1948 enthüllt und ist vielen Deutschen durch Willy Brandts Kniefall davor bekannt. Heute steht auf dem Willy-Brandt-Platz in Warschau das 2013 eröffnete Museum der Geschichte der polnischen Juden. Die Planungen für ein eigenes Gettomuseum in Warschau sind weit gediehen.
Musik: Still waiting 0‘31
Sprecherin:
Das Wissen um die eigene Nationalgeschichte ist in Polen groß und wird durch Museen, Mahnmale und Gedenkrituale gefördert. Da der Zweite Weltkrieg mit der Beschießung der Westerplatte vor der Freien Stadt Danzig begann, war es naheliegend, ein Museum des Zweiten Weltkrieges dort zu schaffen, erklärt Basil Kerski, Direktor des Europäischen Zentrums der Solidarität:
OT 15 Kerski:
6.00 () Für die Polen war Danzig nach dem 1. Weltkrieg der größte Hafen, der Zugang zum Meer für die entstehende polnische Republik. Es war nicht leicht, die Stadt ins Polnische zu integrieren, denn Danzig war seit dem 16. Jahrhundert eine protestantische Stadt. () Danzig ist ein natürlicher Ort, an dem man den Weltkriegsbeginn in Polen erinnern muss, weil Danzig war ein symbolischer Konfliktpunkt.
Sprecherin:
Auf der Westerplatte steht heute ein Denkmal, das an den Überfall der Wehrmacht erinnert, ein typisches sozialistisches Monument, das den Heroismus der polnischen Verteidiger der Stadt preist. Man trifft auf dem Gelände polnische Schulklassen und historisch interessierte Danzigreisende aus Deutschland.
Musik: Human affliction 0‘40
Sprecherin:
Wielun, Michniow, auch das sind Orte, von denen im Danziger Weltkriegsmuseum erzählt wird. Ein Schwerpunkt der Ausstellung liegt auf der Darstellung des deutschen Überfalls auf Danzig, der auch zur Erstürmung des polnischen Postgebäudes führte, von der Günter Grass in seinem Roman „Die Blechtrommel“ erzählt. Heute ist das Postgebäude ein Museum. In die Erinnerung an den 2. Weltkrieg ist ins kollektive Gedächtnis der Polen aber auch ein anderes Datum eingeprägt, das in Deutschland weniger bekannt ist: Der 23. August 1939, der Tag, an dem Deutschland und Russland den Hitler-Stalin bzw. Molotow-Ribbentrop-Pakt unterzeichneten. Der Nichtangriffspakt zwischen beiden Ländern, der in seinem geheimen Zusatzprotokoll die geplante Teilung Polens regelte. In Polen wird das Datum jedes Jahr mit einer Schweigeminute begangen. Stephan Lehnstaedt:
OT 17 Lehnstaedt:
39.20 Als Erinnerungsort ist der Hitler-Stalin-Pakt ganz wesentlich, weil es das Trauma zwischen dem Zerriebenwerden zwischen zwei übermächtigen Nachbarn symbolisiert. () Deshalb wird jede deutsch-russische Freundschaft misstrauisch beäugt. Und dann kommen die Deutschen auf die Idee, ihre Ölpipeline um Polen herum zu bauen, und da sagen die Polen: das macht ihr mit Absicht, ihr möchtet uns doch abschneiden von der Ölversorgung usw., also da hat man einfach historische Ängste, und diese Ängste werden in Deutschland nicht ernst genommen. Man tut die ab und sagt, das ist doch Blödsinn. () Aber die historischen Ängste gibt es halt trotzdem 40.30 und das zeigt, dass wir zu wenig Verständnis für unsere polnischen Nachbarn haben.
Green planet red 0‘33
Sprecherin:
Doch seit 1989 und der Grenzöffnung nahm das Verständnis stetig zu. Viele Millionen Polen sind nach Deutschland emigriert und haben sich eine neue Existenz aufgebaut. Der 2+4 Vertrag bestätigte endgültig die Oder-Neiße-Grenze. Auf politischer Ebene gab es im sich verbessernden Verhältnis der beiden Nationen allerdings einen Rückschlag, als 2015 die polnische rechtspopulistische PiS an die Regierung kam und während ihrer achtjährigen Regierungszeit antideutsche Ressentiments schürte. Als Reparationen für von den Deutschen verursachte Kriegsschäden wurden 1,3 Billionen Euro gefordert. Eine Forderung, die seit 2023 und der Wahl von Donald Tusk und seiner Koalition nicht mehr erhoben wird.
OT 18 Urban:
Ich denke, dass dieses Thema materiell und politisch erledigt ist, das ist völkerrechtlich sehr eindeutig. Ich glaube auch nicht, dass das () Argument verfängt. In der deutschen Gesellschaft zwei Generationen nach dem Krieg gibt es nicht das allgemeine Schuldgefühl gegenüber Polen. 11.55
Sprecherin:
Zur Annäherung von Polen und Deutschland hat sicher auch beigetragen, dass beide Länder Mitglieder der Europäischen Union sind, politisch verbunden und wirtschaftlich miteinander verflochten. Das gegenseitige Verstehen soll in Zukunft auch eine neue Institution fördern: Das sogenannte Deutsch-Polnische Haus.
Musik: Surgery 0‘26
Sprecherin:
Um eine gemeinsame Perspektive auf die traumatische Geschichte der beiden Länder zu finden, existiert auch ein deutsch-polnisches Geschichtsbuch für Schulen, dessen letzter und 4. Band – „20. Jahrhundert bis zur Gegenwart“ – im Jahr 2020 erschien.
OT 20 Lehnstaedt:
51.40 Eine ganz tolle Sache, viele Jahrzehnte haben deutsche Historiker und Historikerinnen mit polnischen Historikern und Historikerinnen zusammengearbeitet. In jüngster Zeit ist ein gemeinsames Geschichtsbuch erschienen, das die gemeinsame Geschichte der beiden Länder darstellt, und es ist ein ganz wunderbares Buch, es wird nur leider nicht eingesetzt, weil sowohl die deutschen Lehrpläne auf deutscher Geschichte wie die polnischen auf polnische Geschichte abstellen.
Musik: Prayer wheel (red) 0‘35
Sprecherin:
Dennoch: Auf politischer Ebene tut sich etwas. Anfang Juli 2024 gab es gemeinsame Regierungskonsultationen in Warschau, dabei wurde auch ein deutsch-polnischer Aktionsplan beschlossen, der „die Untaten und Verbrechen, die die deutschen Aggressoren in der NS-Zeit an Polinnen und Polen begangen haben“ anerkennt und eine finanzielle Unterstützung für die noch lebenden Opfer des deutschen Angriffs und der Besatzung vorsieht, die über die Stiftung „Deutsch-Polnische Aussöhnung“ ausgezahlt werden soll. Es geht um 200 Millionen Euro für 40.000 Menschen, die im Krieg als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt oder in KZs eingesperrt worden waren. Entschädigung, nicht Wiedergutmachung, und eine Geste der Anerkennung deutscher Schuld, die helfen kann, antideutsche Ressentiments in Polen zu mildern. Und eine gedeihliche Nachbarschaft in der EU herzustellen.
OT 21 Urban:
4.45 Die Deutschen und Polen sind in denselben westlichen Strukturen integriert, sind wichtige Partner auf allen Ebenen, die Deutschen sind die wichtigsten Außenhandelspartner für Polen, die politische Zusammenarbeit seit dem Regierungswechsel funktioniert sehr gut.
Sprecherin
Die Annäherung beider Länder wird seit 2022 und dem russischen Krieg gegen die Ukraine auch gestärkt durch das Bewusstsein, gemeinsame liberale Werte zu teilen und diese auch gemeinsam im Rahmen der NATO verteidigen zu müssen. Polen wurde von Russland oft genug besetzt, so ist man motiviert, die Rüstungsausgaben auf 4 Prozent des BIP zu steigern. Es gibt auch eine verstärkte Zusammenarbeit mit der Bundeswehr, erzählt Basil Kerski.
OT 22 Kerski:
3.40 () Dienstag letzte Woche waren bei mir etwa 35 Soldaten polnische und deutsche, zum ersten Mal hatte ich hier Gäste in Felduniform. () Die deutsche und die polnische Armee schauen: Sind sie vorbereitet auf einen möglichen Angriff Russlands? () Die deutschen Offiziere lernen die Straßenbrücken Polens kennen. () Sie kamen als Freunde am 85. Jahrestag des Überfalls, die kamen auch als Offiziere, die ähnliche Werte und Interessen verteidigen und sie haben die Last der Geschichte gespürt, weil Zukunft so gefährlich ist.
Musik: Matters of fact (red) 0‘37
Sprecherin:
Dass aufgrund der äußeren Bedrohung Polen und Deutsche zusammenrücken, hat als Voraussetzung die Aufarbeitung der traumatischen Geschichte zwischen beiden Ländern, die sich in den über acht Jahrzehnten nach Ende des 2. Weltkrieges vollzogen hat. Die Deutschen haben ihre Schuld anerkannt, es gab Gesten der Versöhnung, politische Verträge und eine finanzielle Wiedergutmachung zwischen den Ländern. Heute ist das deutsch-polnische Verhältnis so gut wie nie zuvor.
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