Der Schulweg - früher und heute, hier und anderswo
Elterntaxi, Schulbus oder stundenlanger Fußmarsch - allmorgendlich machen sich zig Kinder auf den Weg zur Schule. Wie hat sich dieser Weg im Laufe der Jahrhunderte verändert? Und wie sieht er in anderen Ländern aus? Radiowissen mit einer Reise durch die Zeit, entlang der Schulwege dieser Welt. Von Susanne Hofmann
Credits
Autorin dieser Folge: Susanne Hofmann
Regie: Frank Halbach
Es sprach: Stefan Wilkening
Redaktion: Maike Brzoska
Im Interview:
Prof. Dr. Rudolf Egger, Professor für Pädagogik am Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft der Karl-Franzens-Universität Graz, Fachbereichsleiter Empirische Lernweltforschung
Saskia Haspel, Gründerin und Leiterin der österreichischen Montessori-Akademie in Wien
Malte Pfau, Campaigner für Bildung der Kindernothilfe
Linktipp:
- Malte Pfau: Zur Schule ohne Hindernisse – Was Schulwege weltweit mit dem Kinderrecht auf Bildung zu tun haben, 2023: https://www.bildungskampagne.org/zur-schule-ohne-hindernisse-was-schulwege-weltweit-mit-dem-kinderrecht-auf-bildung-zu-tun-haben HIER gehts zur WebsiteUnd noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ERZÄHLER
Wenn Frieda Specker, geboren 1932 in Augsburg, von ihrem Schulweg erzählt, blitzen ihre Augen vergnügt. Sie erinnert sich noch genau an ihre Erlebnisse, damals vor mehr als 80 Jahren:
MUSIK ENDE
1. ZUSPIELUNG Frieda Specker
„Also wir sind mit Freundinnen und mit meiner Schwester immer gemeinsam in Schule gegangen, haben Blödsinn gemacht. Und es war immer schön. Im Winter haben wir Schneeballen in die Kirch nei geschmissen oben, und wenn meine Mutter kein Brot mehr hatte, dann haben wir zehn Pfennig gekriegt. Und dann hat sie gesagt: Aber nicht mit Kuchen vertun, sondern wir sollten uns zwei Brezen kaufen. Ja, was haben wir uns gekauft? Boxer! Boxer waren Amerikaner, die unten mit Schokolade bepinselt waren oder mit Zuckerguss. Ja, und da war man natürlich als Kind ganz wild drauf. Und dann sind wir weiter die Karmelitengasse hoch und da war links das Gefängnis. Und da sind wir immer mit Ehrfurcht vorbei gegangen und haben Mitleid gehabt und Angst gehabt, was da für Räuber drin sind. Und am Rückweg da war dann ein Schuster, der immer so blöd geschaut hat, da haben wir immer an die Scheibe hingehauen, und da habe ich mal zu fest hingehauen, das war eine Katastrophe! Ja, da kann ich mich gut erinnern. Ja, freilich ja, ja, meine Eltern mussten das ersetzen, und: So ein freches Kind!
MUSIK „Sophies Thema“; ZEIT: 00:31
ERZÄHLER
Kleine Abenteuer erleben, Streiche spielen, auch einmal über die Stränge schlagen – das ist es, was auch Waltraud Fischer, geboren 1943 im Allgäu, von ihrem Schulweg in Erinnerung geblieben ist. Noch heute weiß sie, wie sie die Kinder beneidet hat, die in den Einödhöfen hoch oben auf dem Berg lebten – denn deren Schulweg war besonders lang.
MUSIK ENDE
2. ZUSPIELUNG Waldtraud Fischer
Und drum sind wir öfter mal mitgegangen mit denne, das war einfach toll. Freiheit! Du bist nicht so schnell heimgekommen. Im Winter sind sie mit dem Schlitten gekommen. Und man hat gestritten miteinander, und man hat auch die Buben geärgert. Das hat dazu gehört, und es war einfach schön.
MUSIK privat Take 009 „Realise“; Album: Eyes of a Beginner; Label: 2013 Thomas Marland; Interpret: Thomas Marland; Komponist: Thomas Marland; ZEIT: 00:34
ERZÄHLER
Den Schulweg umgibt ein Hauch von Freiheit, nicht nur in der Erinnerung der beiden älteren Damen. Er bietet von je her für viele Kinder und Jugendliche einen Freiraum zwischen den Anforderungen der Schule und den Anforderungen der Eltern, eine Nische, in der sie sich weitgehend ohne Erwachsene bewegen können – jedenfalls wenn sie es dürfen, sagt die Montessori-Pädagogin Saskia Haspel, Gründerin und Leiterin der österreichischen Montessori-Akademie in Wien:
MUSIK ENDE
3. ZUSPIELUNG Saskia Haspel
Der Schulweg ist in mehrfacher Hinsicht etwas ganz Besonderes für Kinder. Einerseits kann er eine sehr gute Brücke darstellen zwischen dem Zuhause und umgekehrt. Das heißt, das Kind hat Zeit, Eindrücke zu verarbeiten, sich auch einzustellen darauf, was jetzt Neues kommt. Menschen brauchen ja Zeit für viele Übergänge aus einer Situation in die andere. Und das leistet der Schulweg schon einmal sehr, sehr gut, da Zeit zu geben. Das zweite, und für uns als Pädagoginnen vielleicht immer das Wichtigste ist, dass Kinder durch die selbständige Bewältigung des Schulwegs einfach eine ganz andere Möglichkeit haben, sich draußen in der Welt zu bewähren. Also nicht nur einfach in die Schule zu gehen, sondern natürlich auch Situationen vorzufinden, mit denen sie vielleicht nicht gerechnet haben oder die vielleicht auch an einer Stelle mal ein bisschen herausfordernder sind, und dann auch dieses Gefühl haben zu können: Ich habe etwas selbständig bewältigt – sei es jetzt leicht gewesen oder auch einmal bisschen schwieriger.
ERZÄHLER
Eine Straße überqueren, sich vielleicht an einem finsteren Eck oder einem kläffenden Hund vorbeitrauen, mit anderen ins Gespräch kommen, in der Schule Erlebtes besprechen, sich mit dem Taschengeld eine Kleinigkeit kaufen – Kinder, die solche Situationen ohne Eltern meistern, bekommen die Chance, sich als selbständig und erfolgreich zu empfinden. Für ihre Entwicklung ein wichtiger Schritt, ist die Pädagogin Saskia Haspel überzeugt. Das entscheidende Ziel nennt sich Selbstwirksamkeit:
4. ZUSPIELUNG Saskia Haspel
Also ich fühle mich mächtig, etwas in dieser Welt zu schaffen oder zu verändern. Und je älter das Kind wird, desto größer ist natürlich der Spielraum. Je mehr wir es behindern, desto weniger kann es das Gefühl aufbauen: Ich kann etwas schaffen. Vielleicht nicht beim ersten Mal, vielleicht beim zehnten Mal. Also es hat sehr viel zu tun mit Selbstvertrauen, ja, aber auch mit Selbstwertgefühl. ((Wenn ich mich als handelnde Person fühlen kann, die etwas bewirken kann in dieser Welt, ja, ich glaube, was wünschen wir uns mehr für unsere Kinder als, dass sie sich zu solchen Menschen entwickeln?))
ERZÄHLER
Auf dem Schulweg sind das viele kleine unscheinbare Situationen, in denen sich Kinder selbstwirksam fühlen können, sagt Rudolf Egger, Professor für Pädagogik am Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft der Karl-Franzens-Universität Graz. Und dennoch prägt sich diese Erfahrung ein, auch unbewusst:
5. ZUSPIELUNG Rudolf Egger
Ein kleines Beispiel: Ein Mädchen kommt an eine Kreuzung, und dort ist ein Fußgängergang in Zebrastreifen. Sie schaut nach links, sie schaut nach rechts, so wie sie das gelernt hat, wieder nach links, und da kommt ein Riesen SUV daher, und sie schaut dem Fahrer in die Augen, und der Fahrer wird langsam, und nur durch den Augenkontakt merkt dieses Mädchen, dass es einen riesengroßen Volvo abbremsen kann, wir nennen das Joint Attention, das sind die Begegnungsflächen, wo ich merke, ich brauche nicht immer eine Druckknopfampel oder Schülerlotsinnen und -lotsen. Ich kann selber, durch so etwas Bescheidenes wie den Augenkontakt, was eigentlich was Großartiges ist, in die Gesellschaft eingreifen und dort meinen Platz finden.
ERZÄHLER
Doch der Pädagogik-Professor Rudolf Egger beobachtet, dass Kindern die Möglichkeit, solche Erfahrungen zu machen, inzwischen oft genommen wird. Das habe mit der Motorisierung und mit der getakteten Arbeitswelt ihrer Eltern zu tun.
6. ZUSPIELUNG Rudolf Egger
Vielleicht haben Sie das auch schon festgestellt – so 20 Minuten vor Schulbeginn ist quasi Großkampf-Arena vor den Schulen. Die Eltern würden ihre Kinder am liebsten mit dem SUV in die Klasse führen, weil sie Angst vor dem Verkehr haben, den sie selber verursachen. Und das ist der Teil, wo wir uns gefragt haben: Was hängt eigentlich am Schulweg, wenn immer weniger Kinder quasi einen selbstgestalteten Schulweg haben - wie hängt es dann mit dem Erleben der Umwelt, mit dem Erlernen von Demokratie, mit dem Erlernen des Miteinander - wie hängt das zusammen?
MUSIK „“I need exile; ZEIT: 00:50
ERZÄHLER
Rudolf Egger forscht zu Lernprozessen, die außerhalb von Institutionen, beispielsweise der Schule, stattfinden und untersucht, was informelle Lernprozesse fördert. Auch der Schulweg ist so eine Lernwelt – oder könnte es sein, sagt Egger: Hier können sich Kinder, zumindest in einem gewissen Rahmen, ausprobieren, sich selbst ihren Weg bahnen, anderen Menschen begegnen, Unvorhergesehenes erleben und auch einmal Umwege machen. All das kennzeichnete über Jahrzehnte den Schulweg, und machte ihn zu einer eigenen kleinen Lernwelt. Egger beobachtet jedoch, dass sich die Spielräume von Kindern zunehmend verengen. Viele Eltern stehen aufgrund ihrer Berufstätigkeit unter Druck. Insbesondere morgens gilt es, alle Familienmitglieder auf die Spur zu bringen, um rechtzeitig zur Arbeit zu kommen und alle anstehenden Aufgaben zu bewältigen.
MUSIK ENDE
7. ZUSPIELUNG Rudolf Egger
Man versucht, das sehr strikt zu handhaben, aber was dabei eben, wenn das so reglementiert ist, auf der Strecke bleibt, ist, dass es kaum mehr Begegnungsflächen zwischen den Menschen gibt, sondern es gibt in der Früh Stress bis alle im Auto sitzen, und dann sind sie quasi kleine Monaden, die zugestöpselt sind mit Kopfhörern - dieses Phänomen gibt es schon sehr lange und ist jetzt in den letzten 15 Jahren viel, viel stärker geworden.
MUSIK „Familiar things disappear”; ZEIT: 00:46
ERZÄHLER
Im Vergleich zu früheren Jahrzehnten tobt heute in vielen Städten der Verkehr und stellt insbesondere für junge Schüler, die damit noch wenig Erfahrung haben, eine Gefahr dar und schränkt ihre Bewegungsfreiheit ein. Der Tag von Kindern gleicht außerdem zunehmend dem von Erwachsenen. Er ist von früh bis spät durchorganisiert: Auf den regulierten Schulalltag folgt die durchgeplante Freizeit. Betreuungs- und Freizeiteinrichtungen sowie TÜV-geprüfte Spielplätze und wohlgeordnete Parkanlagen sind an die Stelle von unbeaufsichtigten Hinterhöfen, Straßen, öffentlichen Plätzen, Fabrikgeländen und Wäldern getreten, in denen sich Kinder noch vor wenigen Jahrzehnten weitgehend nach ihrer eigenen Vorstellung bewegen konnten. Zeiten, in denen sie niemand unbeobachtet, sind rar geworden für die Kinder von heute.
MUSIK ENDE
Ein wichtiger Lernschritt auf dem Weg zum Erwachsenenalter ist aus Sicht der Pädagogen auch, dass Kinder mit anderen Kindern zusammen sein können, und zwar ohne die Aufsicht von Erwachsenen. Dass sie sich als Mitglied einer Gruppe fühlen und Verantwortung übernehmen, für sich selbst und für andere. Auch dafür eignet sich der Schulweg. ((Zugleich sei ihre Aufgabe, so Saskia Haspel,
9. ZUSPIELUNG Saskia Haspel
dass sie aufmerksam bleiben, dass sie fokussiert sind auf den Straßenverkehr, dass sie genug Selbstsicherheit haben, nicht mitzumachen, wenn andere Kinder auf Ideen kommen, die vielleicht gefährlich sein könnten.))
ERZÄHLER
Aber im gleichen Maße, wie der Schulweg ein wichtiger Schritt eines Kindes zu mehr Autonomie ist, ist er eine Herausforderung für die Eltern. Sie müssen eine Balance finden zwischen ihrem Sicherheitsbedürfnis und dem Selbständigkeitsdrang des Kindes. Die Eltern haben dabei die Verantwortung, dem Kind zu zeigen, wie es sicher zur Schule kommt, müssen es dann aber schrittweise in die Unabhängigkeit entlassen, findet die Montessori-Pädagogin Saskia Haspel:
10. ZUSPIELUNG Saskia Haspel
Also wichtig ist, wirklich aufs Kind zu schauen. Manche Kinder brauchen länger, manche Kinder sind unsicherer, die brauchen danach wirklich länger die Begleitung, und die müssen wir ihnen geben. Natürlich. Was wir nicht machen dürfen, ist aus falsch verstandener Fürsorge vielleicht oder aus eigener Bequemlichkeit, wenn man länger schlafen kann, wenn man das Kind mit dem Auto vor die Schule führt, ihm diesen Schulweg wegzunehmen. Das ist sehr, sehr schade und des verhindert die Entwicklung die Selbständigkeit in diesem Bereich.
ERZÄHLER
Beim Loslassen können Eltern auf das bauen, was sie ihrem Nachwuchs in den ersten sechs Lebensjahren mitgegeben haben, so Saskia Haspel. Normalerweise unternehmen Kinder in dieser Zeit auch schon kurze Wege alleine, besuchen vielleicht Freunde um die Ecke oder gehen auch schon einmal alleine zum Bäcker. Dadurch können das kindliche Selbstvertrauen und das Vertrauen der Eltern in die Kinder gleichermaßen wachsen. Wenn Kinder dagegen viel Zeit im Auto sitzen, anstatt selbst zu laufen oder mit dem Fahrrad zu fahren, hat das sichtbare Folgen für ihre motorische Entwicklung, beobachtet Saskia Haspel im Schulalltag: Beim Treppensteigen gingen viele Schulanfänger noch jede einzelne Stufe mit zwei Füßen oder auch seitwärts.
11. ZUSPIELUNG Saskia Haspel
Und ja, da würden wir uns natürlich wünschen, dass sie mehr Gelegenheit gehabt hätten, sich zu bewegen, und jede Bewegung, die ein Mensch macht, ist gut, wenn sie strukturiert ist und somit natürlich auch ein Schulweg, der zu Fuß bewältigt wird oder ein Teil davon zu Fuß bewältigt werden kann, sehr hilfreich auch für die weitere Entwicklung. Von einer Gehsteigkante hinuntersteigen, braucht Bewegungskoordination, oder links und rechts zu schauen und dann loszugehen. Also man muss gut in seinem Körper zu Hause sein, ein gutes Körperbild haben, seinen Körper gut kennen, auch wissen, was kann ich mir denn zutrauen an Bewegung, und ein wirklich stabiles reifes Gleichgewichtssystem entwickelt zu haben, sind wesentliche Voraussetzungen dafür, unter anderem den Schulweg sicher bewältigen zu können.
ERZÄHLER
Die Eltern müssen sich zudem darauf verlassen können, dass sich ihr Nachwuchs an Regeln hält. Sie brauchen aber auch das Vertrauen in die Kinder und insbesondere in die Jugendlichen, dass sie auch dann zurechtkommen, wenn sie einmal vom vorgegebenen Pfad abweichen, meint Saskia Haspel:
12. ZUSPIELUNG Saskia Haspel 9.30
Menschen probieren neue Dinge aus, auch Kinder probieren neue Dinge aus. Und manchmal ist es doch ein bisschen gefährlich oder manchmal ist es keine besonders gute Idee. Aber auch das gehört dazu und auch daran wächst man. Wir hatten ja noch Samstagsschule, und ich ging an einer Kirche vorbei, und samstags wird häufig geheiratet. Ich hatte die Freiheit, ich hatte noch kein Handy, mir hat nicht nach 10 Minuten schon jemand nachtelefoniert: Wo bleibst du?, wenn ich mich ein bisschen verspätet hab, ich konnte dort Braut schauen, bei der Kirche stehen bleiben, wenn da gerade eine Hochzeit war. Niemand hat sich damals Sorgen gemacht, wenn ein Kind 10 Minuten später dran war. Oder wenn man einen Bus später gekommen ist. Also auch da wird Kindern sehr viel Freiheit genommen. Heutzutage diese Handy-Nabelschnur, dass sofort angerufen wird. Wo bleibst du denn? Was ist denn los?
ERZÄHLER
Saskia Haspel und Rudolf Egger erkennen einen Hang zur Überfürsorge bei heutigen Eltern – das spiegelt sich auch im Begriff Helikoptereltern. Daran, wie Kinder zur Schule kommen, lasse sich ablesen, wie sich die Gesellschaft und auch die Beziehung zwischen Eltern und Kind in den vergangenen Jahrzehnten verändert hätten. Rudolf Egger:
13. ZUSPIELUNG Egger
Kind ist natürlich Statussymbol Nummer eins, also für den Großteil der Eltern – hängt natürlich von der sozioökonomischen Situation ab – ist Kind Identifikationsmerkmal. Also Kinder werden immer wichtiger, Kinder sind ganz wesentliche Elemente der eigenen Lebensplanung, und auf der anderen Seite hat sich das auch eben durch die strukturelle Berufstätigkeit auch verändert, diese Beziehung, wo wir eben vieles organisieren müssen. Und man ist froh, wenn die Kinder hinten im Auto eben zugestöpselt sind. Weil da kann man sich selber konzentrieren, was man alles zu tun hat.
MUSIK privat Take 009 „Realise“; Album: Eyes of a Beginner; Label: 2013 Thomas Marland; Interpret: Thomas Marland; Komponist: Thomas Marland; ZEIT: 00:16
ERZÄHLER
Der Weg zur Schule unterscheidet sich nach der Beobachtung von Rudolf Egger deutlich vom Heimweg, vor allem, was die emotionale Verfassung der Schülerinnen und Schüler angeht:
MUSIK ENDE
14. ZUSPIELUNG Egger
Der Weg von der Schule nach Hause dauert in der Regel ungefähr acht bis zehn Minuten länger, weil sie langsamer gehen, nicht so zielbezogen gehen, vielleicht einmal einen Umweg auch noch machen und Möglichkeiten finden, quasi diesen Ballast der Schule auch abzulagern. Weil Schule ist - da darf man sich auch nichts vormachen - ist Druck auch schon für die ganz Kleinen. Schule ist soziales Miteinander, kognitives Lernen, Forderung, und mit dem muss auch umgehen lernen, das Fading-Out von der Schule - auch dafür ist der Schulweg ganz, ganz wichtig.
MUSIK privat Take 016 „Interlude II”; Album: Prince of Persia: The Forgotten Sands; Label: Ubisoft 2010; Interpret: Tom Salta; Komponist: Tom Salta; ZEIT: 00:51
ERZÄHLER
In den Weiten der Savanne im Süd-Westen Kenias: Wenn sich der 8-jährige Musega auf den Weg zur Schule macht – die einzige im Umkreis von 20 Kilometern -, hat er einen ständigen Begleiter: Die Angst vor wilden Tieren wie Hyänen, Löwen und Elefanten.
Exotisch anmutende Schulwege wie der von Musega werden gerne in Dokumentationen gezeigt, beobachtet Malte Pfau von der Kindernothilfe, einem der größten christlichen Hilfswerke in Deutschland. Der gelernte Lehrer setzt sich seit Jahren auf der politischen Ebene für Kinderrechte ein. Sein Schwerpunkt-Thema: Das Recht auf Bildung und die Frage, wie man mehr Kindern eine Schulbildung ermöglichen kann.
MUSIK ENDE
15. ZUSPIELUNG Malte Pfau
Dass Kinder mit einer Seilbahn über Schluchten fahren oder mit einem Esel über Gebirgspässe gehen, das ist natürlich auch alles da, aber ich denke immer, das romantisiert das so ein bisschen, das stellt das so dar, als wären das Abenteuer auf dem Weg zur Schule. Und ich glaube, für 99,99 Prozent der Kinder gilt einfach nur, dass die Entfernung die Einschränkung, Gefahren diese Länge des Weges mit sich bringt.
ERZÄHLER
Malte Pfau war für die Kindernothilfe selbst viel in fernen Ländern unterwegs, unter anderem in Indien und mehreren afrikanischen Ländern und hat dort erfahren: Ein großes Hindernis für Kinder und ihr Recht auf Bildung ist die Distanz zur nächsten Schule. Insbesondere in ärmeren, weniger entwickelten Ländern ist der weite, oftmals beschwerliche Weg zur Schule ein großes Problem.
16. ZUSPIELUNG Malte Pfau
Schulwege von einem bis zwei Stunden – also hin und zurück sind es dann eher drei bis vier – sind schon eher die Regel, aber das sind zumindest noch Schulwege, die ja bewältigt werden können. Die weiterführende Schule ist dann ja häufig eher in Oberzentren oder in Städten angesiedelt. Das heißt, wenn Kinder oder Jugendliche dann die Grundschule verlassen und auf eine weiterführende Schule gehen, bedeutet das häufig, dass das Kapitel Schule zu Ende ist, einfach weil gar nicht mehr erreichbar ist, oder aber dass Kinder schon sehr früh das Elternhaus verlassen, um dann in Städten bei Verwandten zu leben oder aber auch teilweise auch allein zu leben, um die weiterführende Schule wahrnehmen zu können.
MUSIK „The game has changed”; ZEIT: 00:18
ERZÄHLER
Auch in den Großstädten des globalen Südens machen sich unzählige Kinder jeden Tag auf den Weg zur Schule. Erschwert wird ihnen der Weg dort vor allem durch den Verkehr und die unzureichenden Öffentlichen Verkehrsmittel, sagt Malte Pfau.
MUSIK ENDE
17. ZUSPIELUNG Malte Pfau
Also wenn man sich jetzt solche Millionenstädte wie Addis Abeba anguckt oder Nairobi, Kapstadt, Johannesburg, das sind ja alles Städte, wo wir ja in den Townships oder Slums arbeiten, wo es zwar natürlich häufig auch Schulen gibt, aber auch da ist es ja so, dass Kinder innerhalb dieser Städte wahnsinnige Distanzen zurücklegen, die auch nicht vergleichbar sind mit Leben in der Großstadt bei uns, weil es halt einfach kein öffentliches Transportsystem gibt, was man so nutzen kann oder teilweise Schnellstraßen oder Hindernisse innerhalb einer Stadt darstellen, die bedeuten, dass man kilometerweit erst einmal gehen muss, um überhaupt einen Weg zu finden, um diese fast schon Flüsse ohne Brücken innerhalb der Städte überwinden zu können.
ERZÄHLER
Weltweit sterben täglich 500 Kinder bei Verkehrsunfällen, die meisten von ihnen vermutlich auf ihrem Schulweg. Das heißt, für junge Menschen auf der ganzen Welt ist der Straßenverkehr die Todesursache Nummer eins, noch vor Naturkatastrophen, Kriegen oder Seuchen. Dazu kommt insbesondere für Mädchen in vielen Ländern die Gefahr, auf ihrem Schulweg Opfer eines Gewaltverbrechens zu werden.
18. ZUSPIELUNG Malte Pfau
Weil Raubüberfälle aber auch sexueller Missbrauch an der Tagesordnung ist, und das weiß ich auch aus dem südafrikanischen Kontext, dass da der Missbrauch von Mädchen massiv steigt, wenn die Ferienzeit vorbei ist, weil Schule und Schulweg für Mädchen einfach grundsätzlich sehr gefährlicher Ort ist, wo Übergriffe tagtäglich leider sind.
ERZÄHLER
Nicht wenige Eltern behalten ihre Kinder auch deshalb lieber zuhause, wo sie dann von jeglicher Schulbildung abgeschnitten sind.
MUSIK privat Take 009 „Realise“; Album: Eyes of a Beginner; Label: 2013 Thomas Marland; Interpret: Thomas Marland; Komponist: Thomas Marland; ZEIT: 00:27
ERZÄHLER
Aber trotz aller Gefahren, die auf dem Schulweg insbesondere in den Ländern des globalen Südens lauern: Für Kinder weltweit ist der Schulweg nicht nur ein Weg zu einer Bildungsstätte. Er ist auch ein wichtiger Schritt auf ihrem Weg ins selbständige Leben und bietet die Chance auf eine ganz eigene wertvolle Erfahrung. Davon ist Malte Pfau überzeugt.
MUSIK ENDE
19. ZUSPIELUNG Malte Pfau
Für viele Kinder ist das ja auch nur der einzige unbeobachtete Moment, den sie am Tag haben – die Schule ist wahnsinnig streng, das Elternhaus ist wahnsinnig streng. Im Elternhaus sind die auch voll eingebunden. Das ist ja nicht so, dass sie da irgendwie ihr eigenes Zimmer haben, sondern auch häufig ist das irgendeine Lehmhütte, wo man irgendwie zu acht in einem Raum wohnt. Das heißt, dieser Schulweg ist ja für die so der einzige Moment am Tag, wo sie vielleicht auch für sich mal mit anderen Kindern Quatsch machen können oder so ein bisschen, ja, Kind sein können.
MUSIK privat Take 009 „Realise“; Album: Eyes of a Beginner; Label: 2013 Thomas Marland; Interpret: Thomas Marland; Komponist: Thomas Marland; ZEIT: 00:47
ERZÄHLER
Kind sein, Quatsch machen, ein kleines Stückchen Freiheit genießen zwischen Schule und Elternhaus – das haben wohl die meisten Schulwege dieser Welt gemeinsam, auch wenn sie sonst sehr verschieden sind. Und auch die beiden älteren Damen Frieda Specker und Waldtraud Fischer sind sich einig:
20. ZUSPIELUNG
Es war schön, es war lustig, ich möchte‘s nicht missen.
Ein Kind braucht den Kontakt mit anderen Kindern, kann über Lehrer schimpfen und, ja, kann einfach sich ausdrücken lernen. Und das finde ich sehr wichtig.
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