Gustav Stresemann - Das Genie des außenpolitischen Ausgleichs
Er war weder gelernter Diplomat noch Mitglied einer Volkspartei. Trotzdem gilt Gustav Stresemann als herausragender Staatsmann der Weimarer Republik. 1923 wurde er Reichskanzler und Außenminister - in einem Jahr der Krise. Zwar dauerte Stresemanns Kanzlerzeit nur wenige Monate, doch schaffte er in dieser Zeit den Umschwung. Von Rainer Volk (BR 2023)
Credits
Autor dieser Folge: Rainer Volk
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Stefan Wilkening, Clemens Nicol
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Christina Stresemann, Enkelin von Gustav Stresemann.
Prof. Andreas Rödder, Co-Vorsitzender der Gustav-Stresemann-Gesellschaft, Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Erzähler:
Berlin, 6.Oktober 1929. Reichsaußenminister Gustav Stresemann wird mit einer Trauerprozession durch das Regierungsviertel zu Grabe getragen. Eine Militärkapelle spielt; fast alle deutschen Spitzenpolitiker begleiten den Sarg. Und der Reichsrundfunk wagt seine erste „Live“-Reportage von einem Großereignis. Reporter ist Alfred Braun; er berichtet vom Sitz des Auswärtigen Amtes in der Wilhelmstraße:
(O-Ton Reportage)
Der düstere Pomp ist mehr als nur ein „Wahren der Form“. Er zeigt: Das politische Berlin spürt, was der Tod Stresemanns für die Weimarer Republik bedeutet – den Verlust einer ihren zentralen Figuren – eines Vollblut-Politikers, der mithilfe von Diplomatie und Verhandlungen die Isolierung Deutschlands nach der Niederlage im 1.Weltkrieg überwinden wollte.
OT 2:
„Er hat ja versucht, die Lasten, die Deutschland durch den Versailler Vertrag auferlegt bekommen hatte, erträglich zu gestalten. Und da war für ihn das Mittel der Wahl, Minderung der Reparations-Zahlungen, Abkommen mit Frankreich.“
Erzähler:
- erklärt Christina Stresemann, die Enkelin von Gustav Stresemann. Seine Politik sei einerseits pragmatisch gewesen - aber nicht nur:
OT 3:
„Er war auf der anderen Seite auch Idealist und wollte unbedingt, dass Deutschland in den Völkerbund aufgenommen wird. Das war ihm ganz wichtig, dieser Weg – und dieser friedliche weg.“
Erzähler:
Stresemann gilt heute als eine Art „Urahn“ der Aussöhnung Europas, symbolisiert durch das Abkommen von Locarno, sagt der Historiker Prof. Andreas Rödder, Co-Vorsitzender der Gustav-Stresemann-Gesellschaft.
OT 4:
„Weil das der große Vertrag ist, unter Beteiligung der Briten, mit den Franzosen. Locarno markiert – und das ja keine sieben Jahre nach dem Ende des Krieges – die Wiederaufnahme Deutschlands auf gleicher Ebene in die Riege der europäischen Großmächte.“
MUSIK 1 Fiona Brice: Ascending 1’07
Erzähler:
Der Weg zum „großen Staatsmann“ ist bei Gustav Stresemann indes lang: Er ist ein Kind des Kaiserreichs, hat sieben Geschwister. Sein Vater füllt in Berlin in einer kleinen Fabrik Bier ab und ist Gastwirt. Ein Aufsteiger-Milieu, das die Monarchie und Preußens Militär bejubelt. Stresemann zeigt schon als Schüler ungewöhnliche Intelligenz. Unmittelbar nach seinem Wirtschaftsstudium beginnt er, für Industrie-Verbände zu arbeiten – weil er so gutes Geld verdient. 1914, praktisch zeitgleich mit dem Ausbruch des 1.Weltkriegs, wird er Abgeordneter für die Nationalliberale Partei im Reichstag und unterstützt dort die Absicht Gebiete zu annektieren, die im Krieg erobert werden. Er erlebt im Reichstag aber auch 1918 das Ende der Weltmacht-Ambitionen des Reiches. Welche Unsicherheit dieser Epochen-Bruch auslöst, zeigt eine Rede von Reichstagspräsident Constantin Fehrenbach aus dem Oktober 1918, der Stresemann höchstwahrscheinlich vor Ort beiwohnt:
OT 5: (Tondokumente zur Deutschen Geschichte: Friedrich Ebert 4. Februar 1871 - 28. Februar 1925 Z1457 / Archiv Verlag ?? // Oder: Stimmen des 20. Jahrhunderts: Die Reichskanzler der Weimarer Republik in Originaltonaufnahmen / 14653 / DRA production ??)
Rede Fehrenbach) – „Eine neue Zeit ist im politischen Leben des deutschen Volkes angebrochen. Es ist selbstverständlich, dass manche Kreise im Hinblick auf die Großtaten der Vergangenheit diesem Neuen kritisch, zweifelnd – ja sogar ablehnend gegenüberstehen. Wir erhoffen von den Leistungen der neuen Zeiten eine versöhnende und klärende Wirkung…“
(langsam ausgeblendet unter Erzähler)
Erzähler:
Der Waffenstillstand vom November 1918, die Flucht Kaiser Wilhelms II. ins niederländische Exil und der Versailler Friedensvertrag führen dazu, dass Gustav Stresemann seine bisherigen politischen Überzeugungen ändert. Er spürt: Die Monarchie hat ausgedient – und er wird zum politischen Brückenbauer im Dienst der Republik. Andreas Rödder:
OT 6:
„In den Jahren nach dem 1. Weltkrieg, als sich weite Teile der Gesellschaft, und zwar sowohl nach links wie nach rechts radikalisieren, in dem Moment entwickelt sich Stresemann zu einem integrativen Mann der Mitte. Und er sieht, was diese Radikalisierung, insbesondere auf der rechten Seite, mit sich bringt. Und zum anderen: Stresemann ist in der Lage, und das zeichnete ihn außenpolitisch gegen fast allen anderen aus, sich in die Perspektive des anderen zu versetzen.“
Erzähler:
Anders als über den Politiker ist über den Privatmann Gustav Stresemann nur wenig bekannt. So ergibt eine Schnell-Recherche im Internet kaum mehr als die Tatsache, dass er im Jahr 1903 geheiratet und das Ehepaar zwei Söhne großgezogen hat. Wie erklärt sich das? War es Diskretion – Abschotten des Privaten vom Öffentlichen? Enkelin Christina Stresemann erklärt es anders:
OT 7:
„Vielleicht liegt das auch daran, dass er als Politiker, wie auch die heutigen Politiker, sehr eingespannt war und vielleicht hatte er auch gar nicht so ein richtiges Privatleben. Ein ausgedehntes Familienleben gab’s jedenfalls in der Zeit, für die er steht, in der Weimarer Republik, in den 20er Jahren, nicht. Er war ja ständig unterwegs und viel beschäftigt.“
Erzähler:
Die Enkelin ist sich in einem Punkt sicher: Die Ehe von Gustav und der fünf Jahre jüngeren Käte Stresemann, die aus einer zum Protestantismus konvertierten jüdischen Kaufmannsfamilie stammt, ist glücklich.
OT 8:
„Meine Großmutter war, glaub‘ ich, auch ein wenig ausgleichend. Weil sie hat auch dann Gesellschaften gegeben - und so das gesellschaftliche Leben organisiert und galt als glänzende Gastgeberin - also das harmonierte, glaube ich, sehr gut, die beiden zusammen.“
Erzähler:
Wichtig ist: Gustav Stresemanns Gesundheit ist von Jugend an schwach. Deshalb muss er im 1.Weltkrieg nicht als Soldat dienen. Doch auch das Leben eines Berufspolitikers verlangt seiner Physis viel ab. 1919, mit 31 Jahren, hat er einen ersten Herzinfarkt.
OT 9:
„Er hatte die so genannte „Basedow’sche Krankheit“, das ist eine Schilddrüsenerkrankung. Wenn man heute auch zum Beispiel weiß, wie wichtig Bewegung für die Gesundheit ist, muss man feststellen: Er hat keine ausgedehnten Wanderungen oder so unternommen. Er war eigentlich immer nur unterwegs. Jedenfalls ab den 20er Jahren. Also da kann man sich vorstellen, dass das seiner Gesundheit natürlich überhaupt nicht zuträglich war.“
OT 10 /MUSIK 2
(Couplet: C1074900 016 Otto Reutter – „O, Du liebes deutsches Gretchen“ 0’50)
Erzähler:
Dieses Couplet von Otto Reutter aus den 1920er Jahren amüsiert sich darüber, dass sich zwar die Nationalfarben geändert haben - Schwarz-Rot-Gold und nicht mehr Schwarz-Weiß-Rot, wie im Kaiserreich – die Geisteshaltung der Deutschen aber nicht. Gustav Stresemann ist dem Zeitgeist in dieser Hinsicht weit voraus. Was selbst seine Freunde im liberalen Lager anfangs anzweifeln. Als sich Ende 1918 der politische Liberalismus in zwei Parteien spaltet, verweigert ihm die Deutsche Demokratische Partei DDP die Mitgliedschaft. Stresemann schließt sich der Deutschen Volkspartei DVP an, die weiter rechts steht, wird ihr Vorsitzender – und Fraktionschef im Reichstag. Durch sein Talent als Redner und Verhandler wird die DVP zum wichtigen Akteur in Krisensituationen. Das beste Beispiel ist die Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen im Januar 1923.
OT 11 / ATMO: (Geräusch „Infanterie und Kavallerie gehen vorbei“)
Erzähler:
Es sind dramatische Szenen, die der Sonderkorrespondent des Berliner Tageblatts am 11.Januar 1923 aus Essen meldet:
Zitator:
„Gegen 2 Uhr erfolgte der Einmarsch der Franzosen in die Stadt. Voran einige Radfahrer, ihnen folgend Infanterie und anschließend einige tausend Mann Kavallerie im Trab. …Sämtliche öffentliche Gebäude und der Bahnhof wurden ebenso wie sämtliche Straßenkreuzungen durch Posten mit aufgepflanztem Bajonett besetzt.“
Erzähler:
Anlass für den Ruhreinmarsch sind Reparationen, die das Deutsche Reich laut Versailler Vertrag leisten muss – wegen der Wirtschaftskrise im Land aber schuldig geblieben ist. Die Besetzung der Region mit ihren Kohle-Bergwerken und ihrer Stahlindustrie soll ein „Faustpfand“ sein, um die Lieferung dieser Rohstoffe zu erzwingen. – Eine Fehlkalkulation. Denn die Regierung in Berlin ermuntert die Einheimischen zu passivem Widerstand durch einen Generalstreik. Es kommt zu Sabotage-Anschlägen – worauf die Kommandeure der Besatzungstruppe tausende Gefängnisstrafen verhängen, Beamte und Angestellte ausweisen, die ihren Befehlen nicht gehorchen und auf Demonstranten schießen lassen. –
MUSIK 3 Ulrike Haage: Universum II 0’57
Eine Sackgasse. Die Weimarer Republik zahlt den Streikenden und Ausgewiesenen ihre Löhne weiter – obwohl das teuer ist. Sie muss dafür die Notenpresse anwerfen – was eine Hyperinflation auslöst. Im Juli 1923 schreibt die „Deutsche Allgemeine Zeitung“
Zitator:
„Unruhe und Nervosität greifen Platz. Man stürzt sich auf die Läden. Man kauft, was zu kaufen ist. Man hamstert notwendige und überflüssige Dinge. Die Teuerung wächst. Alle Millionen reichen nicht für den dringendsten Magenbedarf .
Erzähler:
Die Geldentwertung hält über den Sommer und bis in den Herbst hinein an. Sie treibt Millionen Deutsche in größte Not und lässt sie glauben, sie würden von der Politik im Stich gelassen. Im August 1923 ist Reichskanzler Wilhelm Cuno so umstritten, dass er zurücktreten muss. Rasch kommt eine „Große Koalition“ zustande - mit Ministern aus SPD, katholisch-konservativem Zentrum und den beiden liberalen Parteien DDP und DVP. Stresemann wird in Personalunion Kanzler und Außenminister – ein wahres Himmelfahrtskommando. Denn die Ruhrbesetzung muss beendet UND die Hyperinflation gestoppt werden. Dazu kommen innenpolitische Krisen in Sachsen und Thüringen. Hier wollen paramilitärische Hundertschaften der Kommunisten gewählte Regierungen stürzen, während in Bayern ultrarechte Verbände drohen, das ganze Weimarer System auszuhebeln. Gustav Stresemann meistert die Situation bemerkenswert gut, sagt Andreas Rödder:
OT 12:
„Er schafft drei Dinge: Erstens diesen nicht mehr aufrechtzuerhaltenden passiven Widerstand zu beenden – ohne dass das ganze Reich zusammenbricht! Zweitens: Eine Währungsreform vorzubereiten. Und drittens mit seiner Art der Einstellung des Ruhrkampfes, mit der Währungsreform und mit dem Antrag auf die Einsetzung einer Überprüfungskommission für die Reparationen, schafft Stresemann im Grunde die Wende für die Weimarer Republik.“
MUSIK 4 Bela Dajos: Das Lila Lied 1’10
Erzähler:
„Wende“ bedeutet: Innerhalb weniger Wochen stabilisiert sich die Lage des Reiches. Stresemann verschafft ihm nicht nur eine Art „Atempause“, sondern sorgt so auch dafür, dass wenig später die Blütezeit der Weimarer Republik beginnt, oft als „Goldene Zwanziger Jahre“ bezeichnet: Mit stabiler Währung, relativ niedriger Arbeitslosigkeit und einem kulturellen Aufbruch ungeahnter Dimension.
Da ist Gustav Stresemann jedoch längst nicht mehr Regierungschef. Ende November 1923 muss er als Reichskanzler nach nur 103 Tagen zurücktreten: Er hat im Parlament eine jener Vertrauensabstimmungen verloren, die für die Weimarer Republik typisch sind.
Persönlich genießt er weiter so viel Respekt, dass er Reichsaußenminister bleibt - bis 1929, egal ob der jeweilige Reichskanzler konservativ, sozialdemokratisch oder parteilos ist. Diese Kontinuität nutzt Stresemann für sein großes Anliegen – das Verhältnis Deutschlands zu Frankreich nach zwei blutigen Kriegen friedlich zu gestalten. Andreas Rödder:
OT 13:
„Stresemann ist in der Lage, und das zeichnete ihn außenpolitisch gegen fast allen anderen aus, sich in die Perspektive des anderen zu versetzen. Stresemann hat einen Sinn dafür, dass dieses im 1.Weltkrieg zwar geschlagene, aber eben nicht vollständig niedergeschlagene Deutsche Reich für die Franzosen die potenzielle Bedrohung bleibt, weil die Deutschen zwar geschlagen, aber potenziell übermächtig sind. Und Stresemann ist jemand, der wirklich eine Vorstellung von einem Interessenausgleich hat.“
Erzähler:
Es ist ein glücklicher Zufall, dass zu dieser Zeit Aristide Briand Frankreichs Außenminister ist. Er fasst Vertrauen zu dem gut 15 Jahre jüngeren Deutschen. Als Stresemann ihm vorschlägt, beide Staaten sollten sich wechselseitig ihre Grenzen garantieren, beruft Briand 1925 eine internationale Konferenz ein - nach Locarno in der Schweiz. Hier einigen sich die ehemaligen „Erzfeinde“ auf die Anerkennung der Grenzen von 1918, die allmähliche Demilitarisierung des Rheinlands – und auf die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund. Für die Öffentlichkeit, sagt der Stresemann-Experte Rödder, ist Locarno bis heute ein erster Meilenstein der deutsch-französischen Aussöhnung. Das übersieht ein privates Treffen der beiden Politiker ein Jahr später in einem Gasthaus in Thoiry am Genfer See – wo sie viel weiterdenken:
OT 14:
„Da schimmert eine irrsinnige Perspektive auf, dass man sich gegenseitig verständigt, auf ein leben und leben lassen von zwei Mächten, die seit Jahrhunderten rivalisieren und Krieg gegeneinander führen. Thoiry ist auf der einen Seite das Wetterleuchten dessen, was möglich gewesen wäre. Und auf der anderen Seite aber auch der Punkt, wo’s wieder umkippt. Weil sowohl Briand als auch Stresemann merken müssen: Genau dafür, für diese Haltung – die die Interessen meines eigenen Landes mit der Rücksicht auf die Interessen der anderen verbindet, findet weder Briand eine Mehrheit in Frankreich noch Stresemann in Deutschland.“
MUSIK 5 Ulrike Haage: At Cosmic Speeds 0’30
Erzähler:
Im Gegenteil: Der deutsche Außenminister wird für seine Aussöhnungs-Politik mit Paris innenpolitisch scharf angegriffen. Auch der Friedensnobelpreis, den er 1926, gemeinsam mit Aristide Briand, erhält, beeindruckt seine Gegner wenig. Denn die Auszeichnung hat damals noch nicht ein vergleichbar großes Prestige wie heute. Statt die Vorteile von Kompromissen anzuerkennen, die in Verhandlungen erzielt werden, bezeichnen ihn Kritiker als „Erfüllungspolitiker“. Enkelin Christina Stresemann erklärt Grund und Wirkung:
OT 15:
„Erfüllungspolitiker“ – das war also die Erfüllung der Versailler Verträge. Das war für die rechtsorientierten Nationalisten was ganz Schlimmes. Und da gab’s zum Beispiel so Sprüche auf Plakaten wie „Stresemann – Verwese Mann“. Und er war ja ein empfindsamer Mensch – das hat ihm natürlich auch zugesetzt.“
Erzähler:
Trotzdem ist im Rückblick zu fragen: Welche Seiten von Stresemanns Politik sind zu kritisieren? Seriösen Historikern fällt in dieser Hinsicht ein Aspekt ein: Dass er - anders als Richtung Westeuropa – kaum Initiativen entwickelt, mit den Nachbarn im Osten, vor allem mit Polen, einen Ausgleich zu finden. Die Idee, auch ein „Ost-Locarno“ auszuhandeln bleibt sehr vage – sagt Professor Andreas Rödder:
OT 16:
„Polen wird 1918 neu gegründet und hat mit keinem einzigen seiner Nachbarn eine unumstrittene Grenze. Im Auswärtigen Amt sind in den 20er Jahren dann so Ideen ventiliert worden – dass man gesagt hat: Sollen wir nicht sehen, dass man die überwiegend deutschsprachigen Teile, die jetzt zu Polen gekommen sind, wieder zu Deutschland zurückbekommt. Es ist dazu nie gekommen. Aber die Wahrscheinlichkeit ist ziemlich hoch, dass Stresemann bereit gewesen wäre, eine Lösung zu suchen, mit der sowohl Polen als auch das Deutsche Reich hätte leben können.“
MUSIK 6 Ulrike Haage: Battle Of The Angels II 0’43
Erzähler:
Dass seine Politik unvollendet bleibt, gehört zur persönlichen Tragik von Stresemann wie zu der von Weimar. Ein Grund dafür ist, das die erste deutsche Demokratie innenpolitisch nie zur Ruhe kommt - fast jedes Jahr finden wichtige Wahlen statt. Und Gustav Stresemann als bekanntester Politiker im liberalen Lager ist als Redner ein gefragter Mann. Deshalb ist er auch „im Einsatz“, als für die Reichstagswahl im Frühjahr 1928 eine Schallplatte mit Rednern aller wichtigen Parteien produziert wird. Der folgende Ausschnitt klingt fast wie ein Vermächtnis:
OT 17: Stresemann 1928 historisch
In Zeiten großer bewegender Fragen, von denen unsere Zukunft abhängt, gibt es für uns den Parteien nur einen Leitstern: die Ansprüche der Zeit zu befriedigen, frei von Illusionen in sachlicher nüchterner Arbeit und jener Realpolitik, die in Wirklichkeit das Höchste an Idealismus ist und das heiße Herz da bändigt, wo nur der kühle Verstand uns vorwärts zu bringen vermag.
Erzähler:
Als Folge der Überarbeitung erleidet Gustav Stresemann am 3.Oktober 1929 einen Schlaganfall und stirbt. Er sei der Inbegriff der Hoffnungen und Möglichkeiten der Weimarer Republik gewesen, bilanziert der Zeithistoriker Andreas Rödder:
OT 18:
„Insofern schrieb die „Vossische Zeitung“ ja, als er gestorben war: „Mehr als ein Verlust – ein Unglück.“ Und da ist schon eine Menge dran. Also in Stresemann verkörpert sich sehr, sehr viel, was die Möglichkeiten von Weimar angeht – und auch die Tragik.“
OT 19: (Trauerzug – Reportage und Musik)
Erzähler:
Der Trauerzug durch Berlin, der Stresemanns Sarg zum Friedhof begleitet, wird live übertragen. Beim Staatsakt im Reichstag spricht Reichskanzler Hermann Müller von der SPD – in seiner Rede ist der Schockzustand spürbar, in dem sich die Anhänger der Demokratie befinden:
OT 20: Historisch
„Wenn heute eine Welle tiefer Trauer durch unser Volk geht, wenn selbst die Gegner die Degen an seiner Bahre ehrend senken, so gilt diese Trauer aber nicht allein dem großen Staatsmann und Führer. Sie gilt auch dem Menschen Stresemann, den wir alle liebten.“
Erzähler:
Doch Gustav Stresemanns Verdienste geraten in Vergessenheit, als sich die Krise der Weimarer Republik zuspitzt. Die Enkelin berichtet, dass die Nationalsozialisten 1933 Stresemanns Witwe Käte die Pension streichen. Mehr noch: Für sie und ihre Kinder besteht wegen ihrer jüdischen Herkunft Lebensgefahr. Mitte der 1930er Jahre wandert die Familie nach New York aus. Und als sie zurückkehrt in die junge Bundesrepublik zögert diese mit der Wiedergutmachung, weiß Christina Stresemann – und erzählt von einem Bittgang ihres Vaters:
OT 21:
„Er ist damals zum Bundespräsidenten Theodor Heuss gegangen …und hat ihm die Situation meiner Großmutter geschildert und hatte gehofft, dass vielleicht dann doch wieder eine Pension wieder aufgenommen wird. Es ist dann ein kleiner, so genannter, „Ehrensold“ ausgesetzt worden – aber längst nicht das, was eigentlich eine Pension gewesen wäre.“
Erzähler:
Heute gilt Gustav Stresemann als eine Art „Ur-Vater“ des Ausgleichs mit Frankreich und Vordenker für ein einiges Europa. Doch ist der Name nicht nur in der Politik weiterhin bekannt, sondern auch in der Herrenmode.
MUSIK 7 Johnny Klimek & Tom Tykwer: Der Bahnhofscoup 0’56)
Der ewig unter Termindruck stehende Politiker ist nämlich auch Schöpfer einer Anzug-Kombination, die bei manchen Anlässen bis heute getragen wird. Christina Stresemann erzählt diese Geschichte mit einem Lächeln.
OT 22:
„Man trug damals ja noch im Parlament und zu Empfängen und so, trug man noch Frack. Und er wollte sich aber nicht mehrfach am Tag umziehen und wollte auch etwas Bequemeres haben. Und da hat er dann entschieden, dass er zwar diese grau-weiß gestreiften Hosen, wie man sie zum Frack trug, trägt – aber dazu ein schlichtes schwarzes Jackett. Und das war dann „der Stresemann“. Ich glaub‘ er geht grade mal als Hochzeitsanzug durch. Aber das kennen noch viele Leute, den Begriff – ja.“
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