Je bekannter die Schriftstellen, umso leichter werden sie zum harmlosen Klischee. Das Klischee: ein Kreis von verhärteten Männern mit Steinen in der Hand, die die wehrlose Frau in der Mitte töten und bei der Gelegenheit Jesus als Gotteslästerer überführen wollen.
Aber die Frau in der Mitte ist kein Opfer, sie ist Täterin. Es könnte dort auch eine Mörderin oder ein Kinderschänder stehen. Sie steht in der Mitte der Anklage, der ans Licht gekommenen Tat. Dort wo sie steht, muss sie sich stellen.
Den Anklägern geht es mit dem Gesetz des Mose darum, das Böse aus ihrer Mitte zu entfernen (Dtn 22,24). Aber die Sünde der Frau verstellt ihren Blick auf die Ihre. „Wer von Euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.“ Sie sitzen im selben Boot. Der Lügner unterscheidet sich vom Kinderschänder erheblich, aber eben doch auch nur graduell.
Als sie alle gegangen sind, steht die Frau noch immer „in der Mitte“. Was für eine Mitte ist das, wenn keiner mehr um sie steht? Es ist die Mitte der Aufmerksamkeit Jesu. Die Mitte des Erbarmens. Die Mitte der Anklage (auch der des Gewissens) wird vor ihm zur Mitte der Vergebung.
Später wird er selbst „in der Mitte“ zwischen zwei Mördern sterben (Joh 19,18). Er selbst geht „in die Mitte“, um den Ort der Anklage und der Schande zu einem Ort des Erbarmens zu machen. Wären die Ankläger doch nicht weggegangen! Hätten sie sich zu der Frau in der Mitte gestellt, hätten sie mit ihr neu beginnen können.
Fra' Georg Lengerke
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