Es wird oft gesagt, wir sollten nicht urteilen. Vielleicht kommt diese Forderung aus der Erfahrung, dass manche Leute einfach zu schnell eine schlecht informiert fertige Meinung haben und sich dann nichts mehr sagen lassen.
Aber genau genommen ist diese Forderung natürlich Unsinn. Wir sollen, ja wir müssen sogar laufend urteilen. Keiner von Euch würde diesen Text jetzt lesen, wenn er nicht vorher geurteilt hätte, dass er das Risiko, sich zu langweilen eingehen will. Genauso unsinnig wäre es, zu sagen, wir sollten nicht nachdenken oder nicht entscheiden. Auch Jesus sagt nirgends, dass wir nicht urteilen sollen. Im Gegenteil, er lehrt uns vor allem, richtig, gut, weise, angemessen und unserer göttlichen Berufung gemäß zu urteilen.
Jesus fordert, dass wir nicht richten sollen. Wer richtet, fällt ein letztes Urteil über seinen Nächsten und ist mit ihm fertig. Wenn mein Nächster nicht mehr aus der Schublade kommt, in der ich ihn (vielleicht sogar scheinbar rücksichtsvoll) untergebracht habe, dann habe ich mich zum Richter anstelle Gottes gemacht. Vielleicht hat unser Richten mit unserer Angst vor Gott als Richter und seiner Verdrängung zu tun: Wo die Angst vor einem allzu menschlich gedachten Richter-Gott dazu geführt hat, dass wir Gott nicht mehr Richter sein lassen, da müssen wir selbst richten. Aber die Liebe der Christen – gerade gegenüber den Schwierigen oder schuldig Gewordenen – besteht auch darin, das letzte Urteil über sie Gott zu überlassen.
Wir sind alle mehr und anders, als wir scheinen. Gott weiß das.
Fra' Georg Lengerke
view more