12. Januar 2007: Eine versteckte Kamera zeigt einen Straßenmusiker in der Eingangshalle einer U-Bahn-Station in Washington DC. Er spielt Geige. Eine Dreiviertelstunde lang. Bach, Schubert und anderes. Über Tausend Pendler laufen an ihm vorüber. Die meisten gehetzt. Nur 7 Leute bleiben stehen. Ein Kind etwas länger. Die Vorübergehenden werfen insgesamt $ 32,17 in den Geigenkasten. – Nur ein einziger Passant erkennt den Musiker.
Es ist Joshua Bell. Einer der größten Geiger der Welt. Er spielt auf einer Stradivari für 3,5 Mio. Dollar. Und sonst nur in den großen Konzertsälen der Welt.
Wie viele hätten wer weiß was gegeben, ihn so hören zu können? Wie viele hätten ihre Arbeit sausen lassen, wären ohne Reue zu wichtigen Terminen zu spät gekommen oder hätten das Gespräch mit ihm gesucht? Doch für die, die ihn dort hörten und sahen, war das Weltklassespiel nur Geräusch, bestenfalls Begleitmusik für die Sekunden, die es braucht, um durch eine Bahnhofshalle zu laufen.
„Viele Propheten und Könige wollten sehen, was Ihr seht, und haben es nicht gesehen, und wollten hören, was Ihr hört, und haben es nicht gehört“, sagt Jesus den Jüngern (Lk 10,24). Damit stellt er uns eine entscheidende Gewissensfrage bis heute: Wisst Ihr, wen Ihr hört, wenn Ihr mich hört? Wisst Ihr, wen Ihr seht, wenn Ihr mich seht? Und was ist es Euch wert, mich zu sehen und zu hören? Oder ist mein Anblick nur noch Kultur? Ist mein Wort nicht mehr als Moral oder Erbauung oder ein kaum noch zu vernehmendes kirchliches Grundrauschen?
Und kann es sein, dass Eure einzige Sorge die ist, den Zug nicht zu verpassen?
Fra' Georg Lengerke
[Die Aufnahme in der U-Bahn-Station findet sich auf Youtube. Der Artikel über das sogenannte „Washington Post Experiment“ gewann den Pulitzer Price und kann bei der Washington Post gelesen werden.]
view more