Ohne dass David es merkt, erzählt der Prophet Nathan ihm die Geschichte des Ehebruchs mit Batseba nach. Sie handelt von einem reichen Mann und von einem Armen, der ein Lämmlein besitzt und es wie eines seiner Kinder liebt und aufzieht. Anstatt eines seiner eigenen Schafe zu nehmen, nimmt der Reiche dem Armen sein Lämmchen und setzt es seinem Gast als Speise vor. David ist empört, der Übeltäter müsse sterben. „Du selbst bist der Mann,“ antwortet der Prophet dem König, der gerade, ohne es zu merken, seinen eigenen Tod gefordert hat.
Ich kenne die Empörung des David. Von mir und von anderen. Zum Beispiel beim Lesen des Evangeliums. Mich empört die Hartherzigkeit der Männer um die Ehebrecherin. Mich ärgert die Verstocktheit der Pharisäer und der Übereifer des Petrus. Mich widert die versoffene Launenhaftigkeit des Herodes an und die Korruptheit des Pontius Pilatus.
Und immer wieder muss ich lernen, dass ihre Geschichten ja von mir handeln. Der Mann mit dem Stein in der Hand – „Du selbst bist der Mann!“ Der fromme Pharisäer, der nicht „ein getünchtes Grab“ genannt werden will – „Du selbst bist der Mann!“ Petrus, der es besser weiß als Jesus – „Du selbst bist der Mann!“ Herodes und Pilatus, die lieber ihr Gewissen töten als die Jerusalemer High Society oder den Kaiser zu enttäuschen – „Du selbst bist der Mann!“
Erst wenn wir unsere eigenen Abgründe kennen, werden wir und die Kirche glaubhaft werden. Und erst wenn wir aufhören, einander in die Schubladen unserer eigenen verborgenen Laster zu stecken, können wir und die Kirche erneuert werden.
Fra' Georg Lengerke
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