Seit ich in die Stadt gezogen bin, vermisse ich den morgendlichen Blick aus dem Fenster. In Ehreshoven waren da eine Wiese und der Wald und mitunter der Morgennebel, aus dem nur die obere Hälfte der weidenden Rinder herausschaute. Und da war der Morgentau auf den Blättern, Halmen und Zweigen.
In der Stadt bemerkt man ihn kaum. Außer vielleicht als Schleier auf der Windschutzscheibe, der mit einem Scheibenwischer-Wisch schnell entfernt ist.
Für den Propheten Jesaja gleicht das Kommen des Gesalbten Gottes dem geheimnisvollen Kommen des Morgentaus. „Tauet, ihr Himmel von oben! Ihr Wolken regnet herab den Gerechten!“ (vgl. Jes 45,8)
Der Tau fällt im Dunkel der Nacht. Keiner sieht ihn kommen. Wenn der Tag erwacht, ist er da. Nur die Wachenden, die Frühaufsteher, die den Tag erwarten, erahnen etwas von seinem Kommen.
Der Tau ist unendlich zart und fein. Er gibt der Schöpfung Glanz und Frische. Er legt sich um sie wie ein Kleid, in dem sie schöner ist denn je.
Der Tau hat seine Stunde. Mittags ist von ihm nichts mehr zu sehen – auch wenn er noch in der Luft liegt. Wer den Morgen verschläft, sieht ihn nicht, noch die von ihm verwandelte Natur.
„Der Heilige Geist wird über Dich kommen“, sagt der Engel zu Maria bei der Verkündigung. So wie der Tau: in der Verborgenheit, unendlich zart und zu seiner Zeit.
Im Deutschen haben wir das gleiche Wort für das Kommen des Morgentaus und das Schmelzen von Eis: tauen. Gott wird ein Mensch wie wenn es morgens herabtaut. Ich bin bereit für Ihn, wenn ich auftaue und mich erweichen lasse.
Wir gehören zur Erde, zu der Jesaja sagt: „Tue dich auf und sprosse den Heiland hervor.“
Taue herab,
mein Gott,
dann taue
ich auf.
Amen.
Fra' Georg Lengerke
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