"Ende November, Anfang Dezember gibt es immer einen Ansturm auf psychotherapeutische Praxen", sagt Eva-Maria Seibel. Sie arbeitet als Familientherapeutin und systemische Beraterin in Berlin. Dass sich jetzt mehr neue Menschen auch bei ihr melden würden, hätte sicher mit dem Winter zu tun, vermutet sie im ZEIT-ONLINE-Podcast Frisch an die Arbeit. Die Dunkelheit und der anstehende Rückblick auf das Jahr setzten vielen emotional zu. Die Pandemie verstärke dieses Jahresendgefühl darüber hinaus noch.
Ein weiterer Grund für die vermehrte Nachfrage nach Therapiesitzungen läge bei den Weihnachtstagen, erzählt Seibel. Auch ohne Pandemie sei die Beziehung zu den Eltern immer besonders und manchmal eben auch besonders anstrengend: "Man fährt zur Familie und zwei Tage lang ist es schön – dann kippt es in die alten Muster", erklärt Seibel. Man fühle sich wieder als Kind oder rebellischer Teenager, die Eltern beurteilten das: "Das sind ganz übliche Abgrenzungsprobleme, die an Weihnachten, aber auch zu anderen Familienanlässen auftreten."
Für Seibel als systemische Beraterin sei wichtig, dass die Menschen, mit denen sie arbeitet, keine Patienten sind – sondern Klientinnen. Der Mensch werde nicht als krank gesehen, sondern in seinen Umständen: "Wir schauen: Welche Funktion haben Symptome und Konflikte im System?", sagt Seibel. Wenn man zum Beispiel Sorgen wegen Weihnachten habe, müsse man das gesamte Familiensystem betrachten: "Was wird in der Familie etwa zum Thema Familienzusammenhalt propagiert, was zum Thema Harmonie? Und wie will man sich davon abgrenzen, sanft und klar?" Dann müsse man betrachten, was die betreffende Person erreichen will und welche Muster sie abhalten. "Oft hilft, wenn man sich fragt: Was müsste passieren, dass es an Weihnachten so richtig fetzt?", sagt Seibel. Um danach herauszufinden: "Wie kann man dieses Muster unterbrechen und was anderes ausprobieren?"
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